Dirk Schümer: Leben in Venedig
54 Reporte, knapp über vier Druckseiten im Schnitt, alles hat in einer ersten Fassung bereits in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gestanden. Das ist ein Happen-Buch. Zwar könnte man, weil es mit der Ankunft der Verfassers anfängt, der leeren Wohnung, den sächsischen Möbelträgern, eine gewisse Chronologie unterstellen, sie ist aber ohne Bedeutung für das Ganze. Wenn immer mal die Jahreszahl 2001 auftaucht, dann ist das nur der Verweis ins Zufällig-Faktische und mir damit durchaus angenehm, denn die Aufstiegsschreie aus dem Fußballstadion, als es Venedig endlich in die Serie A schaffte, habe ich lange im Ohr behalten. Die erfolgreiche Mannschaft freilich ist mir nie vorher und auch später nicht in irgendeiner Weise aufgefallen. Nie aufgelöst wird das „wir“ aus dem ersten Report, Familie, Partner, Partnerin, wir erfahren es nicht.
Ich habe das Buch sehr lange in meinem Regal stehen lassen und nun erst, unmittelbar nach einem längeren eigenen Ortstermin, herausgeholt. Mein erstes Gesamturteil: Man sollte es nach einem Venedig-Besuch lesen, wenn man sich die Orte vorstellen kann, die beschrieben werden, wenn einem die Fakten etwas sagen, die da und dort ausgebreitet werden. Man sollte Klappentext und Umschlag-Werbung möglichst ignorieren, wirklich überraschend ist nichts in diesem Buch, das ist einfach nur das übliche Marktgeschrei eines Verlages, was soll er sonst schreiben lassen.
Nur ganz Hartgesottene glauben, dass Venedig der Markusplatz und die Rialto-Brücke sind und sonst gar nichts. Man muss auch kein findiger Pfiffikus sein, um die Stellen zu entdecken, wo das Venedig der Venezianer zu begucken ist. Dafür ist es einfach zu klein. Die Wäsche quer über den Kanal gibt es schon wenige Minuten hinter dem Platz mit den Tauben und den Stehgeigern, die vor leeren Stuhlreihen bei jedem Wetter um ihr Leben geigen. Dirk Schümer hat nicht im Nachtjacken-Viertel der Lagunenstadt gewohnt. Wenn man seinen Mini-Kanal Rio dell'Osmarin zum Suchbegriff macht, stößt man im Netz sofort auf teure Hotels in der Nachbarschaft und ein kurzer Blick auf die Karte zeigt: besser geht kaum. Wäre ja auch gelacht sonst.
Goethe war auch in diesem Buch nicht ganz zu vermeiden, er kommt vorn vor und dann noch einmal beim Thema Müllabfuhr. Ernst Moritz Arndt ist tapfer als späterer chauvinistischer Professor entlarvt. Donna Leon dagegen wird nicht ein einziges Mal erwähnt, man ahnt, dass hier kein Liebhaber des Commissario Brunetti seine Redaktion in Frankfurt am Main belieferte, ehe das Buch bei Ullstein daraus wurde. Freilich ist das auch ein Job ohne Paradies-Verheißung, ein Venedig-Buch zu machen. Es gibt einfach unfassbar viel schon über diese Stadt, von ganz großen, großen und mittleren Autoren und dann ist längst das Internet voll davon, ein jeglicher stellt seine Fotos ins Netz und lobt sein Hotel oder haut es in die Pfanne.
Ein Journalist aber muss Menschen beschreiben, die er trifft oder zielstrebig aufsucht. Hier sind es Gondelbauer und alte Ruderer, Dienstgrade der Arsenale-Besatzung, ein scheidender Rabbiner. Die Taschenhändler aus dem Senegal fehlen nicht, nur haben sie zu Schümers Zeiten offenbar noch nicht Louis Vuitton im Angebot gehabt, er zählt jedenfalls nur andere Marken-Imitate auf. „Zu Venedig – das ist eine der vielen Besonderheiten der Stadt – muss man eine dezidierte Meinung haben“, schreibt Schümer und er hat sie auf alle Fälle. Er vermittelt auch eine spezielle Mückentheorie. Die half mir posthum, das sirrende Tier aus meinem Hotelzimmer, das ich nicht als Mücke ansah, doch als solche zu erkennen. Beim nächsten Aufenthalt werde ich mich rächen an ihren Kindern und Kindeskindern.
Dass es nicht nur Drei-Sterne-Generale gibt, sondern auch Drei-Sterne-Offiziere, lernt man bei Schümer. Und er verrät auch, dass er als Fünfzehnjähriger aus Kärnten erstmals in Venedig einfiel per Busausflug. Was er nicht verrät: woher er seine Panzerkreuzer-Kenntnisse hat, die ihm als Vergleichsgröße dienen im Marine-Text. „Geschichten über Immobilien kommen in einer Stadt von Händlern besser an als wehe Verse über die Vergänglichkeit“ ist dagegen wohl purer Erfahrungsschatz. Unbedingt sollte jeder Venedigfreund lesen, was der Autor über den Winter schreibt mit seinen Hochwassern, wenn die Boote nicht unter den Brücken durchpassen und über den Sommer, den nur ganz Ahnungslose nutzen, um eine Stadt in Italien zu besuchen, während alle Italiener, vor allem im August, aus eben diesen Städten fliehen.
Aussagen über Golfplätze sind vor allem für die Leser des Wirtschaftsteiles der F.A.Z. gedacht gewesen, denn Tagesausflügler haut gewöhnlich schon der Espresso-Preis in Sichtweite des Löwen von San Marco auf die Bretter. Doch richten sich bekanntlich die Reiseteile der großen Zeitungen nicht an Normalverdiener. Die Reisejournalisten dieser Zeitungen haben alles schon gesehen auf dieser Welt und empfehlen deshalb nur die Reisen, die sie selbst gern machen, wenn sie sie nicht bezahlen müssen und vor Ort möglichst niemanden treffen außer sich selbst. Dass der Lido im Sommer durch ein spezielles Matriarchat gekennzeichnet ist, habe ich gern gelesen, es hat mich nicht überrascht. Denn Italien ist ein Land des speziellen Matriarchats, in dem die Machos sich schämen, von Mamma beim Essen fremder Pasta erwischt zu werden.
„Eine Wahrheit ist sogar im trügerischen Venedig unwiderlegbar: Schöner als hier forscht kein deutscher Student.“ Hoffentlich hat Schümer damit seinerzeit nicht einen Bewerbersturm ausgelöst. Was er auslöste bei den Freuden des US-Films, war sicher eine Irritation bei seinen Sätzen über Nicole Kidman und Charlize Theron und helles Lachen, als er Liz Taylor zur großen alten Dame des ägyptischen Historienfilms ernannte. Nur, weil sie mal mit Richard Burton Cleopatra mimte und mit ihrer Frisur noch das linke Schriftstellerinnen-Lager Westdeutschlands zum Plagiat animierte? Bei Murano aber klatsche ich Beifall: „Hier gibt es alles, was man nicht so dringend benötigt, aber in einem schwachen Moment vielleicht anschafft, um es hinterher ewig zu bereuen.“ So isses. Warum aber erwähnt der Korrespondent bei den gefälschten Taschen sehr wohl China, nicht aber beim Glas? Jetzt jedenfalls gibt es kaum Geschäfte in Murano, die nicht ausdrücklich schon im Schaufenster darauf hinweisen, dass ihre Produkte nicht aus China stammen.
Sollte das Werk nicht mehr auf dem Frischbuchmarkt zu haben sein, kann man es mit Sicherheit trotzdem leicht finden, ich jedenfalls kenne deutlich überflüssigere Bücher als dieses.