Gerhart Hauptmann: Das Friedensfest

Geht man von heute aus, dann ist die Idee, aus dem Fest der Liebe und des Friedens auf der Bühne ein Fest des Hasses und des Krieges zu machen, vielleicht provokant, jedenfalls nicht übertrieben originell. Einfache Negationen haben, was ihre Wirkungsmacht betrifft, ein recht kurzes Verfallsdatum. „Das Friedensfest“ von Gerhart Hauptmann aber, Untertitel „Eine Familienkatastrophe“, ist eben nicht von heute, sondern erlebte seine Buchausgabe 1890, seine Uraufführung unter den Fittichen des Vereins „Freie Bühne“ in Berlin am 1. Juni 1890. Nach dem karrierefördernden Skandal mit „Vor Sonnenaufgang“ hatte der Schlesier Hauptmann sehr rasch nachgelegt, das Wohlwollen Theodor Fontanes und die sehr praktische Unterstützung, die Otto Brahm gab, schufen Ausgangsbedingungen für einen neuen Dramatiker, wie sie kaum besser sein konnten. Nebenbei verfestigte sich in kunstwollenden Köpfen fortan natürlich auch die verhängnisvolle Scheinerkenntnis, dass man Skandale, wenn sie denn so herrliche Markteinstiege zu sichern scheinen, auch absichtsvoll und oder künstlich herbeiführen könne. Am Ende steht, was seit knapp 50 Jahren als moderne Regie gilt.

Schon der frühe Hauptmann, „Das Friedensfest“ als zweites Drama warf die Frage bereits auf, hat mit seinem, natürlich dem naturalistischen Theorem folgenden Regieanweisungs-Extremismus die Frage heraufbeschworen, ob denn dem Schauspieler unter solchem Diktat noch Raum bliebe, seine Rolle individuell auszufüllen (die vermeintliche Knebelung der Regie war auffallend ausgeklammert). Ausgerechnet Josef Kainz, schon Superstar, der nach kurzen Stationen in Marburg an der Drau (Maribor) und Leipzig, eine Zeit auch in Meiningen sein Publikum verzückte, kam so spät von einem Gastspiel an der Burg in Wien, dass er, so die überlieferte Anekdote, vom Stück erst in der Garderobe Kenntnis nahm, sich den Text überwiegend aus dem Souffleurkasten sagen ließ und dann in der Rolle des Wilhelm Scholz dennoch Ovationen einheimste, ausgerechnet er führte die Frager ad absurdum. Hauptmann selbst hat die Geschichte überliefert, die ihm wohl, so darf vermutet werden, durchaus schmeichelhaft erschien. Kainz war knapp fünf Jahre älter als Hauptmann, dessen 150. Geburtstag heute zu begehen ist.

Als Otto Brahm in seiner Zeitschrift „Freie Bühne für modernes Leben“ am 5. März 1890 mit höchstem Wohlwollen den Vorabdruck kommentierte und analysierte, war ihm eines noch nicht bewusst oder er wollte die Öffentlichkeit nicht eigens darauf aufmerksam machen: Hauptmann hatte seinen jüngeren und bald kaum weniger berühmten Kollegen Frank Wedekind gewissermaßen geplündert, indem er dessen Erzählungen aus seinem eigenen Familienerleben zum Vorbild für seine Familie Scholz erkor und damit so etwas wie ein Schlüsseldrama lieferte, das den Stofflieferanten alles andere als amüsierte. Wedekind hat für die Bühne zurückgeschlagen, in einer Komödie „Die junge Welt“, deren erste Fassung „Kinder und Narren“ noch schärfer attackierte, den  Stoffräuber als Autor Franz Ludwig Meier unmissverständlich durch den Kakao gezogen. Die Literaturgeschichte vermeldet dennoch keine offene Dauerfeindschaft, sondern sogar weiteren gegenseitigen Umgang. Man kann Wedekinds Lesarten des Verhältnisses in „Die Tagebücher. Ein erotisches Leben“ am roten Faden des Personenregisters leicht nachblättern.

Das Stück nun, ein Stück in drei Akten, nimmt sich ohne viel Federlesens Henrik Ibsens „Gespenster“ zu Vorbild und Anregung und man könnte heute meinen, es trage damit zu einem falschen Gesamtbild des Themas bürgerliche Familie und Ehe bei in der Art, wie es seit einigen Jahren der fast kultisch gepflegte Schweden-Krimi mit dem Thema Kriminalität in Schweden tut. Im wirklichen Südschweden kann man sein rotweißes Ferienhaus unverschlossen lassen, es schaut allenfalls aus dem nahen Wald ein Reh herein, Diebe, Räuber oder gar perverse Serienmörder treten nicht in Erscheinung. Ob dieser Logik folgend von Strindberg und eben Ibsen soziologische Befunde Gestaltung fanden oder modische Themenwanderungen frühe Urstände feierten, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass das Drama der patriarchalischen Familie dann doch heute eher angestaubt wirkt, zumal melodramatische Züge in der Ausführung den Naturalismus mehr als nur phasenweise gar nicht als solchen erscheinen lassen.

Was heute fast zuerst auffällt, ist die offenbar vollkommen andere Sicht auf Alter zu Zeiten des noch jungen Kaisers Wilhelm II. Minna Scholz, die Ehefrau des Arztes Dr. Fritz Scholz, der im Stück 68 Jahre alt ist, ist laut Personenverzeichnis 46 Jahre alt, ihre drei Kinder Auguste, Robert und Wilhelm sind 29, 28 und 26 Jahre alt. Sie hat also diese Kinder in sehr jungen Jahren bekommen. Der Autor verrät später, dass sie 16 Jahre alt war, als der Hagestolz Fritz sie heiratete. Das wäre kaum sonderlich bemerkenswert, würde die Frau von Hauptmann nicht als über die Jahre hinaus gealtert und den beginnenden Gebrechen des Greisenalters ausgeliefert beschrieben. Auguste, 29 Jahre alt, bekommt im Text die Charakteristik altjüngferlich, obwohl von jetzt her gesehen selbst das „späte Mädchen“ sicher eine Beleidigung darstellte. Wir lernen, ohne darauf aus gewesen zu sein, den radikalen Wandel der Zeiten. Wer heute die Zusammenkunft 40 Jahre Abitur erlebt, trifft auf eine auffallend große Zahl höchst ansehnlicher weiblicher Wesen, dagegen ist die Herrenriege schon durch eine Reihe angeknackster Gestalten gekennzeichnet.

In dieser Familie Scholz gab es, was der Dialog nur häppchenweise enthüllt, vor Jahren eine Szene, in deren Vollzug der Sohn Wilhelm den Vater Fritz ohrfeigte, was zum Auszug beider aus dem Domizil der Familie führte. Mutter Minna blieb mit Tochter Auguste zurück, der Sohn Robert, der sich, wenn auch nicht ganz konsequent, in der Rolle des Zynikers gefällt, erscheint immerhin einmal im Jahr, eben zum „Friedensfest“, zu Hause. Das besondere des Festes, das dem Dreiakter den Titel liefert, liegt darin, dass erstmals auch der jüngere Sohn sich angekündigt hat, sanft genötigt dazu von seiner Braut Ida und deren Mutter, Frau Marie Buchner, beide schon zu Gast im Hause. Womit niemand rechnen konnte: auch der Vater taucht auf, überraschend und nicht ahnend, dass er auf seinen Sohn Wilhelm treffen wird, dessen Ohrfeigen einst den Familienverband scheinbar irreversibel sprengten.

Gerhart Hauptmann hat anders als im Debüt „Vor Sonnenaufgang“ hier den Dialekt weitgehend eingeschränkt. Noch immer aber versucht er, der realen Dialogsprache wirklicher Menschen auf der Bühne dadurch so nahe wie möglich zu kommen, dass er sie fast ununterbrochen Sätze sagen lässt, die nicht beendet werden. Das ist heute schon als Markenzeichen im Comedy-Geschäft kaum plagiierbar, war damals sicher für Theatergänger sehr anstrengend, zumal noch die literarische Hochsprache, wenn auch längst in epigonalem Zuschnitt, auf der Bühne absolut vorherrschte. Man darf wohl dem Hauptmann-Biographen Wolfgang Leppmann zustimmen, der mit dem Datum des Theaterskandals am 20. Oktober 1889 verbindet: „Zugespitzt ließe sich sagen, daß die Deutschen an diesem Tag aufhörten, sich die Ausdrucksweise ihrer Dichter zum sprachlichen Vorbild zu nehmen.“ Als Freund hübscher Zuspitzungen reiche ich diese These gern und uneigennützig weiter.

Vater und Sohn versöhnen sich für eine kurze Zeit mitten im Stück, der Sohn fällt etwas heftig pathetisch vor dem Vater in die Knie, er weint letztlich auch allzu viele Tränen für einen 26 Jahre  jungen Mann. Besonders unverständlich wirkt jedoch, wie er seine Braut eifrig, immer eifriger, fast hektisch zum Ende, warnt vor sich. Das nun ist der wirklich bemooste Teil des Dramas. Die für Naturalismus konstitutive Vererbungslehre auf dem Erkenntnisniveau von 1890 als Konfliktbasis hat ausgedient. Sie ist auch nicht planvoll wiederzubeleben. Man soll aber im Hinterkopf behalten, dass der in der Sache weitgehend unverdächtige Naturalismus mit genau diesem Teil seiner geistigen Basis ziemlich sicher den Boden lockerte für erbbiologische Gedankenspiele und Praxisentwürfe, die am bitteren und mörderischen Ende in die Definition „lebensunwerten“ Lebens münden konnten.

Der Vater stirbt am Ende, die Verbindung Wilhelm und Ida kommt wohl jenseits des Stückverlaufes wirklich zustande, die Mutter wird durch den Tod des Gatten, dem sie vorwurfsfrei um den Hals fiel, als er nach Jahren des Wegbleibens plötzlich im Haus auftaucht, dessen obere Etage er früher getrennt bewohnte, vielleicht sogar einen befreiten Lebensrest vor sich haben. Das Weihnachtsfest mit Baum, zuvor ein Unding im Hause, mit Geschenken, mit echter und geheuchelter Freude, mit Gesang und Sentimentalität, es löst rasch die Versöhnungsatmosphäre zu neuer Konfrontation auf. Und dennoch vermeidet Gerhart Hauptmann die brachialen Konfrontationen, die mörderischen Verbalwundbohrungen, wie sie wenige Jahrzehnte später bei Albee, O'Neill oder Tennessee Williams zur Bühnennorm wurden. Auch das spricht dafür, dass der Zweitling des Nobelpreisträgers von 1912 wohl nicht mehr auf eine große Wiederbelebung rechnen darf. „Einsame Menschen“ die Nummer 3 im Werkverzeichnis, haben es da leichter, wie ein Blick in aktuelle Spielpläne zeigt.


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