1855: Stuttgart denkt an Friedrich Schiller
Der 10. Mai 1855 war ein Donnerstag, das Wetter mäßig, noch am Vormittag blieb der Himmel verhängt, dann aber klärte es sich auf und die Festgemeinde, die des fünfzigsten Todestages von Friedrich Schiller gedenken wollte, konnte sich beflügelt auf den Weg machen. Der Stuttgarter Liederkranz, förmlich gegründet am 9. Mai 1824, aber auf älteren Wurzeln fußend, richtete seit 1825 alljährlich um den Todestag herum eine Feier mit Rede und Gesang aus, 1855 war das bereits selbst schon wieder eine auf dreißig Jahre zurück blickende Festtradition. Seit 1839 konnte sich alles um das erste deutsche Schiller-Denkmal gruppieren, erschaffen von Bertel Thorvaldsen (19. November 1770 bis 24. März 1844), dem dänischen Bildhauer, der für sein Werk wiederum auf eine Zeichnung von Johann Christian Reinhart (24. Januar 1761 bis 9. Juni 1847) zurückgriff. Die Zeichnung ist heute verschollen, das Denkmal steht noch, obwohl ihm 1913 ein zweites beigesellt wurde, das seinen Standort vor dem Großen Haus des Stuttgarter Staatstheaters fand.
Ein Bericht unter der Überschrift „Schillers fünfzigjährige Todesfeier in Stuttgart“, veröffentlicht im „Morgenblatt für gebildete Leser“ am 13. Mai 1855, vermittelt eine recht genaue Vorstellung des Geschehens in den Abendstunden, in denen 50 Jahre vorher, am 9. Mai 1805, Zitat, „Schiller seine große Seele aushauchte“. Nicht nur diese Formulierung in ihrer altväterlichen Poetisierung, auch die vorgetragene Rede von Johann Georg Fischer (15. Oktober 1816 bis 4. Mai 1897) mit einem heute schwer erträglichen Pathos machen immerhin Zeitgeist lebendig. Fischer war Lyriker und Dramatiker, im Jahr vorher war seine Sammlung „Gedichte“ erschienen mit Anlehnungen und Anklängen an Eduard Mörike, von seinen Dramen haben „Friedrich der Zweite von Hohenstaufen“ (1863) und „Florian Geyer, der Volksheld im deutschen Bauernkrieg“ (1866) eine gewisse Aufmerksamkeit erregt. Seine sicher größte Nachwirkung besteht darin, dass er (mit anderen) der Errichtung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach den Weg bereiten half.
Am nämlichen Donnerstag wurde der Liederkranz von einem Frauenchor unterstützt, ihm dann ein Gedicht in die Hand gegeben, fünf siebenzeilige Strophen umfassend, in dem solche Verse sich finden wie: „Ihm will die Lust des Wonnedrangs // Mit Kränzen und mit Melodien // Die hohe Meisterstirn umziehen. … Wie schreiten seiner Kraft Gebilde // So hoch an Sinn und an Gestalt!“ Und, direkt an die singenden Frauen gerichtet: „Denn von des Meisters Ruhmesglanze // Blüht Euch ein Reis im eignen Kranze !“ Das macht, mit Verlaub, nicht unbedingt neugierig auf das sonstige lyrische Schaffen von Fischer. Die Frauen werden sich dennoch geehrt gefühlt haben. Ehe Fischer seine Ansprache vortrug, brachten die Sänger und Sängerinnen unter der Leitung von Immanuel Gottlob Friedrich Faißt (13. Oktober 1823 bis 5. Juni 1894) eine Kantate zu Gehör, die der Komponist Louis (Ludwig) Hetsch (26. April 1804 bis 28. Juni 1872) geschrieben hatte. Ihm hat Eduard Mörike seine berühmte Novelle „Mozart auf dem Wege nach Prag“ gewidmet, die ihren eigenen Reiz bis heute behalten hat.
Aus dem Marbacher Cotta-Archiv ist bekannt, dass Johann Georg Fischer selbst den Bericht verfasst hat, dem wir unser heutiges Wissen verdanken. Und eben den Wortlaut der Rede, die durchaus missverständlich beginnt: „Der neunte Mai ist in der deutschen Geschichte seit lange ein Festtag geworden.“ Und weiter: „Sein Hinscheiden hat das deutsche Vaterland im Innersten erschüttert. Die Welt fühlte, wie viel sie mit ihrem erhabensten Dichter verlor, darum war auch ihre Trauer um den Unersetzlichen so tief und wahr.“ Ein bisschen sehr rasch weitete Fischer sein Deutschland auf die Welt, und ob es ihr erhabenster Dichter war, muss nur gefragt werden, um zu erkennen sinnarm eine solche Frage ist. „Um so verklärter und einziger steht seine Gestalt vor dem Andenken seiner Nation, um so unantastbarer ist uns die Hoheit seines Ruhms geworden.“ Das Streben des Redners deutet zweifellos nach wenigen Sätzen in höhere, in jenseitige Sphären, in denen Schiller selbst im Leben fraglos nie angesiedelt hätte sein wollen. Doch es kommt noch heftiger: „Schillers Bild steht wie eine Säule, an welche die Stürme der Zeit zu rühren sich scheuen...“. War Schiller für seine Freunde in Stuttgart ein Säulenheiliger??
Um seinen Hörern fühlbar zu machen, wie groß der Verlust vor fünfzig Jahren war, behauptet der Redner: „Weimar hat in seiner Todes- und Begräbniswoche die Schaubühne geschlossen, zum Zeichen, dass die Musen selbst um ihren Liebling trauern...“. Tatsächlich wurde lediglich eine einzige Vorstellung am 11. Mai 1805 abgesetzt, Norbert Oellers hat 1970 mitgeteilt, welche es war: „Die Saalnixe“, ein Singspiel von Ferdinand Kauer (18. Januar 1751 bis 13. April 1831). Dies stimmt nicht ganz, weil es ein solches Singspiel von Kauer gar nicht gibt. Was es von Kauer gab, war ein zweiteiliges „romantisch-komisches Volksmärchen“ in drei Akten mit dem Titel „Das Donauweibchen“, uraufgeführt am Leopoldstädter Theater in Wien an zwei Abenden am 11. Januar und am 13. Februar 1798. „Das Donauweibchen“ wiederum fußte auf einem Werk von Goethes Schwager Christian August Vulpius „Die Saal-Nixe: eine Sage aus der Vorzeit“, erschienen bei Rein in Leipzig 1795. Vollkommen daneben lag Norbert Oellers also doch nicht. Und dennoch: vielleicht wäre es sogar eher in Schillers Sinn gewesen, hätte man gespielt.
Wir wissen, wie schnell Goethe von seiner ersten Planung Abstand nahm, als letzte Ehrung Schillers „Demetrius“ zu vollenden, und wie er sich schließlich mit dem berühmt gewordenen „Anhang“ an das „Lied von der Glocke“ begnügte, dessen Verse den Beginn genau jener Verklärung des „Unersetzlichen“ bedeuten, die 1855, vor allem aber 1859 alle Maße sprengte und zugleich den Grund lieferte für spätere ebenso heftige Absetz-und Gegenbewegungen in der Schiller-Rezeption. Am 10. Mai 1855 in Stuttgart war in dieser Hinsicht die Welt noch in Ordnung, Redner Fischer fühlte sich gar berechtigt zu sagen: „... seine Schriften und seine Verehrung sind bis in die Hütten gedrungen.“ Das war vier Jahre später vielleicht im allgemeinen Überschwang hinzunehmen, an diesem Donnerstag war es hemmungslos übertrieben. Gut informiert war dafür Fischer über andere zeitgleiche Ehrungen, denn in Dresden wurde tatsächlich am 11. Mai 1855 die „Dresdener Schiller-Stiftung“ gegründet, die im Oktober 1859 in die „Deutsche Schillerstiftung“ überging. Der seit 1840 bestehende Leipziger Schillerverein feierte ebenfalls.
Dann muss der Redner gemerkt haben, dass er vielleicht doch ein wenig über das Ziel hinaus geschossen war mit seiner Botschaft von Schiller in den Hütten: „Und gleichwohl ist es wahr, dass wir ihm noch viel schuldig geblieben sind, dass die große Mehrzahl ihn nicht nach dem ganzen Umfang seiner Bedeutung kennt und liebt, dass er unendlich größer ist, als Hunderttausende es wissen.“ Man könnte etwas lässig anfügen: Heute wissen es Millionen nicht, Milliarden sowieso, die haben den Namen Schiller noch nicht einmal je gehört in ihrem Leben und sie leben dennoch ohne diesbezügliche Mangelerscheinungen. Die ganze Hymnik zielt in die falsche Richtung, sie zielt vermutlich gar nicht. Erst wenn man liest, was der Lyriker und Dramatiker Fischer unter dem versteht, was er klassische Zeit nennt, wird man stutzig: „... wo der Genius in dem einen Brennpunkte der Begeisterung sich sammelte, durch die treueste Ineinsbildung der idealen und realen Welt das menschlich Höchste zu vollziehen!“ Dies nicht zu verstehen, ist keine Schande, es ist nämlich nur eine Hohlformel, die nichts, aber auch gar nichts besagt, die weder mit Schiller noch mit Goethe noch mit irgendeinem tatsächlich gelebt habenden Menschen jener Zeit auch nur irgendetwas zu tun hat.
Auch die anschließende Behauptung vom goldenen Zeitalter ist irreführend, es besagt wenig bis nichts, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zum goldenen Zeitalter für die deutsche Literatur zu stilisieren. Die zum Beleg herangezogene Behauptung hat mit der Realität jener Zeit nichts zu tun: „Da war es, als die großen Denker und Dichter die höchste Einheit der geistigen und sinnlichen Existenz in der reinsten Humanität erkannten, wo der Wissenschaft, der Kunst, dem Staat kein anderer Zweck von ihnen zugestanden wurde, als für die allseitigste harmonische Entfaltung des Menschen als Gattungswesen vorhanden zu sein.“ Zynisch könnte man entgegen halten, dass weder Kunst noch Wissenschaft noch Staat sich daran hielten, ganz abgesehen davon, dass es von allseitig ebenso wie von einzig eben keine Steigerung gibt. Die „Zinnen des Geistes“, von denen die Großen (inklusive Schiller) in jener Zeit angeblich dem verwunderten Volk zeigten, „was deutsche Genius zu erringen vermöge“, wäre, hätte es sie je gegeben, vergeblich erstiegen worden. „Sie sind alle wieder dahingegangen, die herrlichen Sonnenjünglinge des Genius; aber wie hell leuchtet die Stelle noch, auf der sie standen!“
Johann Georg Fischer verteidigt Schiller gegen ihm offenbar doch zu Ohren gekommene Vorwürfe. Der „Dichter des Ideals“ habe „seine Heldenideale zu hoch und unerreichbar gefasst“, seinen Frauencharakteren mangele es an „der schönen Sinnlichkeit“, ohne dafür brauchbare Argumente vorzubringen. Stattdessen fordert er, dass sich Schillers Gestalten „gegenüber der gemeine Sinn der Charakterlosigkeit sich schämen lernen mag.“ Das profaniert Aussagen aus Schillers nie als Grundlage eigenen Dichtens ernst verstandener Schaubühnen-Rede und klingt eher nach Kanzelrede, denn als Wirkungsästhetik für seine Bühnenfiguren. Auch hier wieder zeigt der Festredner erst beim Ausflug ins Konkrete, der wie ein Fremdkörper im Text wirkt, die ganze Fragwürdigkeit des Behaupteten. Hat er bis dahin noch kein einziges Werk Schillers namentlich benannt, muss nun ausgerechnet Andrea Doria aus der „Verschwörung des Fiesko zu Genua“ herhalten als „die Kraftgestalt“. Wer das Jugendwerk kennt, weiß, wie begrenzt diese Rolle ist und wie viel Willkür man in eine Deutung legen müsste, um den alten Herrscher so zu sehen. Dann aber nennt Fischer die Trauerspiele und das „Lied von der Glocke“ in einem Atemzug mit der Behauptung, sie hätten „gleich einer höheren Geheimnisverkündigung die Nation ergriffen“.
In der Schillerverehrung sieht Fischer den Garanten dafür, „dass die Gesinnungslosigkeit und die Gefühlsverweichlichung, dass die Heuchelei und die Frivolität auf deutschen Boden niemals dauernde Siege feiern werde.“ Denn: „... wo Schillers Stimme gilt, da ist noch Hoffnung im Lande.“ Ob der Festredner bedachte, wie der Umkehrschluss daraus lautet? Hofschauspieler August Wilhelm Maurer (24. Oktober 1792 bis 12. Februar 1864) deklamierte anschließend „Das Ideal und das Leben“ und trug auch ein Gedicht des Gymnasialprofessors Traugott Ferdinand Scholl (17. April 1817 bis 28. April 1895) vor, von dem weder der Titel noch eine Zeile des Textes mitgeteilt werden. Es folgte ein Festessen. Der Bericht im „Morgenblatt für gebildete Leser“ endet mit dem Hinweis auf jene Prominenten, die der Einladung auf den späteren Schillerplatz in Stuttgart nicht gefolgt waren. Das waren Karl von Schiller, als Karl Friedrich Ludwig Schiller geborener Sohn (14. September 1793 bis 21. Juni 1857) Schillers und die beiden weithin berühmten schwäbischen Dichter Eduard Mörike und Justinus Kerner. Letzterer entschuldigte sich mit einem Gedicht, das die schönsten, weil persönlichsten Zeilen zum Fest beitrug: „Nur noch im Käfig sing' ich Lieder; // Ein blinder Vogel fliegt nicht mehr.“