Saul Bellow 100
„Es ist nie ganz erfreulich zu lesen, was man Jahrzehnte zuvor geschrieben hat.“ Mit diesem Satz beginnt Saul Bellows Vorwort zu seiner Auswahl „Wie es war, wie es ist“. Er sei eingeladen worden, alle Bagatellen in Druck zu geben, die er je für seinen Broterwerb schrieb, habe sich aber dagegen entschieden. Vermutlich hatte sein Verlag die nahe liegende Überlegung angestellt, dass von einem Nobelpreisträger, Bellow bekam seinen 1976, auch das erst einmal gekauft wird, was bei anderen Autoren der gnadenlosen Missachtung des Publikums verfallen würde. Für den Verlag ist nur das Verkaufen wichtig, während der Autor noch den nicht selten höchst mutigen Wunsch daran knüpft, zusätzlich auch gelesen zu werden. Was der Auswahl zum Opfer fiel und was auf dem Weg von der amerikanischen Originalausgabe zur deutschen Fassung darüber hinaus getilgt wurde, vermag ich nicht zu sagen, immerhin ist am Ende tatsächlich eine Zusammenstellung lesbarer Essays entstanden, von denen freilich auffallend viele ziemlich späte Werke sind. Dass Bellow in hohen Tönen den wunderlichen Briten Wyndham Lewis lobte, hat, soweit ich es übersehe, keine deutsche Neugier nach diesem Manne ausgelöst, der wohlwollend über Hitler schrieb, als dieser noch nicht an der Macht war, und später seine Affinitäten revidierte.
Ob Saul Bellow seine Short Story „Ein künftiger Vater“ (A Father-to-Be) später auch mit gemischten Gefühlen las, weiß ich nicht. Sie erschien zuerst 1955 im Magazin „The New Yorker“, heute beworben als das intellektuellste Stadtmagazin der Welt und ein Jahr danach gemeinsam mit dem Kurzroman „Das Geschäft des Lebens“ (Seize the Day) in Buchform, ist also inzwischen sechzig Jahre alt. Selbst wenn ihr Autor die Geschichte später komplett abgelehnt hätte, wäre dies für Leser kein hinreichender Grund, das mit seinen Augen zu sehen. Es ist eine Geschichte, die Interesse beansprucht, obwohl sie vollkommen unspektakulär daherkommt. Einer mit dem seltenen Namen Roger Rogin bekommt von seiner Verlobten Joan den Auftrag, auf dem Heimweg fürs gemeinsame Abendessen noch ein paar Einkäufe zu tätigen. Ihn irritiert das kurz, weil er sich fragt, warum sie das nicht längst tat, sie aber hat alles Geld bereits ausgegeben, das er ihr zur Verfügung stellte. Sie arbeitet nicht, weil sie noch nicht den richtigen Job gefunden hat: „Da sie schön, gebildet und in ihrem Auftreten vornehm war, konnte sie ja nicht Verkäuferin in einem billigen Kramladen werden“, erfährt der Leser in der Übersetzung von Walter Hasenclever.
Joan hat überhaupt einen Hang, mit Rogers Geld sehr großzügig, ja auch freigebig umzugehen, was ihn, den theoretischen Chemiker und Erfinder, der ganz offenbar nicht zur notleidenden Bevölkerung gehört, zwar nicht in die Nähe des Ruins bringt, auch wenn er noch einen Bruder und die Mutter zu alimentieren hat, aber auch keine hellen Freuden verschafft. Was Bellow seinen Lesern nun bietet, ist eine männliche Hauptfigur, die ihre Umwelt sehr scharf wahrnimmt und ans Jeweilige Reflexionen knüpft, die ebenfalls sehr scharf sind, aber irgendwie zufällig bleiben. Es ist natürlich hohe Kunst, wie profane Beobachtungsinhalte selbst hochphilosophische Erörterungen nach sich ziehen, ohne dass sich diese verselbständigen. Da sind zwei offenbar befreundete Männer, von denen der eine höchst erstaunt ist, dass der andere seinen vermeintlich sehr gut geheim gehaltenen Alkoholismus natürlich bemerkt hat. „Sieh dir doch nur dieses lange, trübsinnige, alkoholverwaschene Gesicht an, die vom Trinken ruinierte Nase, die Haut um die Ohren wie Truthahnkehllappen und diese melancholischen Whiskyaugen.“, spricht Roger innerlich an den einen der beiden gewendet.
„Das Geld umgibt uns im Leben wie die Erde im Tod. Überlagerung ist universale Norm. Wer ist frei? Niemand ist frei.“ Dergleichen Gedanken sind eben nicht selbstverständlich, wenn einer einen Feinkostladen besucht, um Roastbeef in Scheiben zu kaufen. Den dort verkaufenden Mexikaner mit den Banditen des Pancho Villa vergleicht. Aber Roger Rogin weiß autosuggestiven Rat: „Dachte man ans Geld, dann dachte man, wie die Welt es wollte; dann war man nicht sein eigener Herr.“ Um also sein eigener Herr zu bleiben, müsste man nur das Denken ans Geld ausschließen? In dieser Konsequenz wird es Saul Bellow kaum gemeint haben, auch wenn er dreißig Jahre später vom obersten Oberlehrer der deutschen Literatur, dem Noch-Nicht-Nobelpreisträger Günter Grass öffentlich gescholten wurde, er vergesse bei seinen Innenansichten aus der Welt des Establishments das soziale Elend auf den Straßen Amerikas (knapp nachzulesen bei Denis Scheck: Hells Kitchen. Streifzüge durch die neue US-Literatur, MaroVerlag). Stupider argumentierte auch die offiziöse DDR-Literaturbetrachtung nicht. Leider hat Bellow, der am 5. April 2005 im Alter von fast neunzig Jahren starb, nicht mehr von der gehäuteten Zwiebel Grass erfahren, der im Sommer 2006 seine Fan-Gemeinde und die Weltöffentlichkeit mit der Kundgabe seiner letztlich harmlosen aber eben verschwiegenen Waffen-SS-Vergangenheit schockte.
Natürlich kann man dem am 10. Juni 1915 in Kanada geborenen Bellow, Sohn osteuropäischer Einwanderer, vorwerfen, es gäbe zu viel Professoren in seinen Büchern. Vielleicht hätte er mehr Holzfäller zu seinen Helden gemacht, wenn er in den kanadischen Wäldern geblieben wäre mit Beil und Säge. So aber wurde er ein Universitätslehrer, der über Milieus und Konstellationen schrieb, die er kannte, wie es seltsamerweise ja fast alle Schriftsteller tun, die großen wie die kleinen, nur die ganz kleinen fallen bisweilen aus der Art. Rekrutiert sich eine Literatur überwiegend aus Lehrern, dann hat sie massig Lehrer-Romane, was nur dann wirklich problematisch wird, wenn über diesen Lehrern eine blauhaarige Volksbildungsministerin thront, die darüber wacht, dass der Welt kein falsches Bild des sozialistischen Lehrers vermittelt werde. In den USA aber wurde vermutlich nie eine Statistik über das Verhältnis von Elendsdarstellungen zu Establishment-Dramen geführt und das ist gut so. Für die Literatur gut. Der theoretische Chemiker Roger Rogin übrigens hat laut Bellow einige ziemlich praktische Dinge erfunden, was im Elend der Straße eher selten vorkommt.
Was der Titel „Ein künftiger Vater“ bedeuten will, erfährt man erst später im Text. Da nämlich bemerkt der 31 Jahre alte Held, dass neben ihm ein Mann sitzt, der seinem künftigen Schwiegervater verblüffend ähnelt, damit auch seiner Verlobten Joan. Und sofort hat er die Assoziation, so sehe dann in vierzig Jahren sein Sohn, ihr gemeinsamer Sohn aus. „Auf was, zum Teufel, lasse ich mich ein? dachte Rogin. Dass ich der Vater eines Rückgriffs auf ihren Vater werde?“ Er steigert sich bis zu dieser Feststellung: „Welch ein Fluch, einen langweiligen Sohn zu haben!“ Es besteht die akute Gefahr, das er allein wegen dieses vollkommen zufälligen Sitznachbarn in der Untergrundbahn seine Verlobung zur Disposition stellt. An der Haustür aber empfängt ihn Joan im Morgenmantel ihrer Cousine Phyllis, sie rubbelt ihm den Schnee aus den Haaren und dann wäscht sie ihm den Kopf. Der Leser scheidet aus der Geschichte im sicheren Gefühl, dass diese wohltuende Handreichung auch im übertragenen Sinne zu verstehen sei. Roger Rogin ist besänftigt. „Merk dir, dass ich ein Mann bin, ist keine Entschuldigung dafür, dass man mir Lasten auferlegt. Die Seele in mir ist nicht größer und stärker als die deine.“ Sie ist ziemlich sicher sogar schwächer und kleiner, Joan wird auch künftig nicht Verkäuferin werden.
Der späte Saul Bellow ist vor allem vom deutschen Feuilleton heftig geprügelt worden. Denis Scheck: „Bellows Alterswerk irritiert. Die wertekonservativen Protagonisten seiner Romane liegen quer zu ihrer Zeit.“ Querlieger mag das deutsche Feuilleton zwar, nur konservativ sollten sie dann lieber doch nicht sein. In dieser gemeinsamen Überzeugung treffen sich dann selbst jene, die sonst keine Gelegenheit auslassen, ihre Individualität zu pflegen. Sie als linken Mainstream zu bezeichnen, gilt als untere Schublade, weil diese Begrifflichkeit eben auch in der unteren Schublade gepflegt wird. Dieser Bellow sah in Gorbatschow einen Blender, als alle, buchstäblich, in Glasnost-Begeisterung schmolzen vor allem im Westen, während in der großen Sowjetunion außer bei einigen Enthüllern, soweit sie dem Alkohol ablehnend gegenüber standen, vor allem das Alkoholverbot wahrgenommen wurde, ihren Stalin sahen viele und sehen ihn bis heute als gar nicht so verurteilenswert an. Bellow wollte auch all jenen Kurzzeit-Kommunisten nicht verzeihen, die in der Stalin-Zeit ihr eigenes Erlebnis des Revolutionslandes von fast allem reinigten, was ihren Illusionen widersprach. Er nahm selbst die prominentesten Namen nicht aus.
Auch Marcel Reich-Ranicki hatte mit einem Roman wie „Mr. Sammlers Planet“ große Schwierigkeiten: „Die Romane Bellows, den manche Kritiker für den bedeutendsten amerikanischen Nachkriegserzähler halten, verdanken ihren Ruhm der Synthese aus Intellektualität und Popularität, aus nicht allzu komplizierter Sensitivität und nicht allzu ärgerlicher Trivialität.“ Das ist eine sehr amerikanische Mischung, wie sie der SPIEGEL über viele Jahre hin in gewissen Abständen immer wieder einmal den eher drögen deutschsprachigen Roman-Fabrikanten anempfahl. „Seine Helden sehnen sich nach Gott und greifen nach weiblichen Oberschenkeln.“ Nur Reich-Ranicki konnte solche Sätze schreiben. Und nur er konnte auch das sagen: „Es ist eine bittere Banalität, dass Verfolgungen, und mögen es auch die grausamsten sein, das Opfer nicht unbedingt intelligenter und weiser machen: Einer kann im Massengrab gelegen haben und dennoch bis ans Ende seiner Tage törichtes Zeug schwätzen.“ Mr. Sammler in Bellows Roman lag im Massengrab. Die Konsequenzen aus Reich-Ranickis böser Wahrheit sind voller Strahlkraft. Systemopfer bringt die Geschichte bekanntlich in Schüben hervor.