Herbert Jobst 100
Herbert Jobst ist am Anfang seines Weges als DDR-Schriftsteller etwas passiert, was außer ihm wohl keinem anderen Autoren seiner Herkunft auch nur annähernd ähnlich widerfuhr. Es sei denn, er war Systemkritiker, Dissident oder Systemopfer. Das Hamburger Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL widmete ihm in seiner Ausgabe vom 27. August 1958 (Heft 35/1958) über zwei Druckseiten verteilt drei komplette Spalten. Eine DDR kannte man damals in Hamburg in bester Springer-Manier noch nicht, auch keine Gänsefüßchen-DDR, aber man war wachsam und immer neugierig auf Stoff. Und hier, am Roman-Erstling des am 30. Juli 1915 geborenen Herbert Jobst mit dem Titel „Der Findling“ ließ sich Außerordentliches besichtigen. DER SPIEGEL: „Dem Schriftsteller Jobst ist es gelungen, was in der Sowjetzone kaum einem Autor bisher beschieden war. Sein Roman „Der Findling“ ist durch das Votum des Publikums zu einer Art Bestseller geworden, durch das Interesse der Buchkäufer also und nicht durch parteiamtlich verfügte Anschaffungen in Werks- und Organisationsbüchereien, denen einige andere sowjetzonale Bücher hohe Auflagenziffern verdanken.“
Man war halbwegs gut informiert an der Elbe: tatsächlich waren Anschaffungen von 15 bis 30 Exemplaren ein und desselben Buches in einer einzigen Bibliothek keine Ausnahme, dem Uneingeweihten schwer verständliche hohe Ausleihzahlen bestimmter Titel sind bereits Ende der fünfziger Jahre in NEUE DEUTSCHE LITERATUR so erklärt worden, wobei die etwas seltsame Einkaufspraxis selbst nicht erklärt wurde. Werner Krecek, Mitarbeiter der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, die „Der Findling“ zuerst als Fortsetzungsroman veröffentlichte, hat im November 1958 über eine Leserversammlung in Leipzig berichtet, bei der tausend Stühle besetzt waren und die Teilnehmer mehr als zwei Stunden aufmerksam und geduldig hörten und fragten. Krecek war übrigens später von 1967 bis 1970 selbst Abteilungsleiter Kultur der LVZ, wechselte dann zum Bereich Dramatische Kunst beim Fernsehen der DDR und brachte es bis zum stellvertretenden Bereichsleiter. Dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR diente er als IM „Hans Kaufmann“, was den in Buchform veröffentlichten Recherchen von Steffen Reichert über die Geschichte der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG zu entnehmen ist.
1958 aber schilderte er diese unglaubliche Versammlung im Neuen Rathaus, bei der Herbert Jobst selbst zugegen war und Rede und Antwort stand. Es hatte einen Leser namens Vogel gegeben, der erklärte, der Roman sei übertrieben, an einigen Stellen platt und habe kein Niveau. Dieser Leser musste in den Leserbriefspalten und offenbar auch in der mündlichen Debatte über sich ergehen lassen, was man heute einen Shitstorm nennt. Eine Leserin wird von Krecek zitiert, die etwas gewunden zum Ausdruck brachte, „Der Findling“ sei in gewisser Weise jugendgefährdend wegen seiner Kraftausdrücke, man sollte jungen Leuten das Buch nicht unbeaufsichtigt in die Hände geben, ein „Reiferer“ könnte eine kollektive Lektüre begleiten. Eine fünfzehnjährige Schülerin widersprach dem offenbar, wollte aber das pädagogische Potential des Romans darin sehen, dass er vorführe, wie schlimm es früher war, wie herrlich demzufolge jetzt, 1958. Das legt ihr der Autor zwar nicht in den Mund, man darf es jedoch als Leser selbständig schlussfolgern. DER SPIEGEL zitierte Jobst selbst, der von Ganghofer gesprochen hatte und dessen Wirkung auf die Tränendrüsen seiner Leser. In dessen Manier geschriebene Landstreicher-Geschichten habe ihm aber niemand abgenommen, auch die „Volksstimme“ nicht.
Rasch nach „Der Findling“ (1957) erschien damals der zweite Band des „Dramatischen Lebensweges des Adam Probst“ mit dem Titel „Der Zögling“ (1959), es folgten „Der Vagabund“ (1963) und abschließend „Der Glückssucher“ (1973). Bis auf den vierten Band sind alle Romane in vielen Auflagen, als Taschenbücher, als Romanzeitung, zu zweit in einem Band und solo immer wieder neu gedruckt worden, beim vierten Band war die Aufmerksamkeit für und die Neugier auf den Autor Herbert Jobst offenbar schon stark geschwunden. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre zogen eben ganz andere Autoren die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und Herbert Jobst veröffentlichte außer einem Band mit neun Erzählungen (Tapetenwechsel, 1984) bis zu seinem Tod am 26. Juni 1990 nichts Nennenswertes mehr. Schon die Verfilmung des zweiten Buches „Der Zögling“ ist unterblieben, „Der Findling“ war noch als vierteiliges Fernsehspiel im Januar 1967 im Fernsehen der DDR ausgestrahlt worden (die Sendetermine: 5., 12., 19. und 26. Januar 1967), Regie führte Harry Erlich, die Dramaturgie lag in den Händen von Wenzel Renner, das Szenarium schrieb Wolfgang Teichmann. Unter den Mitwirkenden finden sich bis heute bekannte und auch weniger bekannte Darsteller: Alfred Struwe, Rolf Hoppe, Renate Blume seien genannt.
Fred Wander, zwei Jahre jünger als Herbert Jobst, besuchte 1961 Jobst zu Hause in Flöha und veröffentlichte über seine Gespräche dort in der Zeitschrift „Junge Kunst“ ein Porträt, von dem Gudrun Klatt 1977 meinte, es sei eine „Meisterleistung kurzer essayistischer Prosa vom Beginn der sechziger Jahre“. Wer das Porträt nachlesen möchte, stößt auf das Phänomen der 1962 eingestellten (man liest auch: verbotenen) Zeitschrift. Die sonst unerschöpflichen Antiquariatsportale haben keinen einzigen der wenigen Erscheinungsjahrgänge (1957 bis 1962) auch nur annähernd komplett im Angebot, ganze zwei Antiquariate haben überhaupt eine erwähnenswerte Menge an Einzelheften präsent, das fragliche Oktoberheft gibt es nirgends. Immerhin: gegenüber dem in der DDR lebenden Österreicher Fred Wander (Ehemann von Maxie Wander) bekannte Herbert Jobst seine großen Schwierigkeiten beim Schreiben des dritten Bandes „Der Vagabund“. Besonders aufschlussreich ist die folgende Aussage: „ Ich kaufte Bücher und fing an, wie besessen zu lesen, um mich zu orientieren. Da merkte ich: Mensch, die können es ja alle besser als du! Und damit war die reine Freude an der Arbeit eigentlich weg ...“. Man mag darüber streiten, ob die vollkommene Naivität Jobsts („wenn ich es recht überlege, habe ich das erste Buch völlig hemmungslos geschrieben“) eine sonderlich produktive Ausgangsposition ist, obwohl sie natürlich nicht wenigen Erstlingen auch anderer Autoren mehr oder minder deutlich vorangeht.
Herbert Jobst jedenfalls ist an seine Grenzen gestoßen und hat das, das ehrt ihn und zeichnet ihn aus, weder vor sich selbst noch im Gespräch geheim gehalten. Das frisch-fröhliche, in durchaus Genuss bereitender Weise „unliterarische“ Erzählen macht eine Weile Spaß, den zeitgenössischen Lesern zuerst im Bezirk Leipzig und dann in der gesamten DDR ja ganz offenbar auch. Dann aber, und nun beginnen die Randbedingungen zu wirken, die das Schreiben in der DDR eben unweigerlich begleiten, wird es schwierig. Die Biographie des Herbert Jobst ist eher plebejisch als proletarisch, gar proletarisch im schulmäßigen Sinne des marxistisch-leninistischen Klassenbegriffs. Ein herumgestoßenes Findelkind, wie es Herbert Jobst selbst war mit seiner alles andere als typischen Lebensgeschichte, als Vagabund ohne solide Schul- und Berufsausbildung, hat einen eingeschränkten Vorbildwert. Solange er erzählend die miserablen Alltagszüge des „faulenden und sterbenden Kapitalismus“ vorträgt und das in ironisch-satirische Weise durchaus kulinarisch, solange ist alles gut. Je näher „der dramatische Lebensweg des Adam Probst“ aber an die Gegenwart rückt, um so stärker werden jene Kriterien an ihn herangetragen, die aus der jeweiligen Literatur-Doktrin der DDR erwachsen. Da muss Widerstand präsent sein, da sind führende Kommunisten gefragt und schließlich natürlich eine am Horizont leuchtende Sowjetunion.
Die SED als führende Partei hat sich zu keinem Zeitpunkt die Deutungshoheit und die Bewertungsmaßstäbe aus der Hand nehmen lassen und die besonders braven Vollstrecker und Anwender ihres diesbezüglichen Wollens haben folgerichtig spätestens ab „Der Vagabund“ zu Herbert Jobst ein süßsaures Gesicht gezogen, ehe sie ihre Urteile zum Druck gaben. Man kann das bei Werner Ilberg nachlesen, obwohl der nicht zu den allerbravsten gehörte, der schon 1961 in „Junge Kunst“ einen Probedruck aus „Der Vagabund“ kritisierte, indem er das spürbare Bemühen des Autors Jobst um „mehr Kunst“ im Text von Künstlichkeit bedroht sah. Geradezu krude liest sich heute, was Werner Neubert, von dem der Führungsoffizier Rolf Pönig am 22. November 1989 ganze neun Bände der Berichtsakte vernichtete (Neubert war „IM Wolfgang Köhler“), in seiner zum Buch gewordenen Dissertationsschrift „Die Wandlung des Juvenal“ über Herbert Jobst und die ersten drei seiner Probst-Romane zum besten gab. Neubert war auf der Suche nach Beispielfällen für sein Konstrukt NEUE SATIRE, die er auch im laufenden Text so schrieb und fand Jobst gewissermaßen an der Schwelle vor. Langatmiger und humorloser ist wahrscheinlich selten bis nie über Satire geschrieben worden und ob es einem wie Herbert Jobst hilfreich war, ist vollkommen zu bezweifeln. Immerhin findet sich im Porträt, das Fred Wander veröffentlichte, eine Passage, die Neubert hätte Freude machen dürfen, wenn er sie zur Kenntnis genommen haben sollte.
Herbert Jobst sagte seinem Besucher: „Begreifst du, wir sprechen immer von einer neuen sozialistischen nationalen Kultur und latschen zumeist doch die ausgetretenen Wege. Experimentieren müsste man, viel mehr experimentieren. Die Zeit verlangt eine ganz andere Satire!“ Sollte Werner Neubert das gelesen haben, dann wird er auf alle Fälle seinen Bedenken gefolgt sein, aus einer vor kurzem erst „verbotenen“ Zeitschrift zu zitieren. Herbert Jobst freilich offenbart selbst in dieser gut gemeinten Aussage seine Naivität, die er zu seinem Vorteil wie auch zu seinem Nachteil seinem autobiographischen Helden Adam Probst ja vererbt hat. Denn das Experiment im Literarischen, das beispielsweise das erste Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution die junge Sowjetliteratur in einem geradezu weltbedeutendem Maße auszeichnete, das war in der SED-geführten DDR ja nun keineswegs gewünscht, es galt eher als Merkmal spätbürgerlicher Verfallsliteratur, die sich mangels progressiver Inhalte eben auf Formexperimente versteifte. Immerhin deutete Gudrun Klatt die Substanz des Jobst-Porträts von Fred Wander als kritisch gegen die Doktrin der fünfziger Jahre gerichtet, es sei geeignet gewesen „voreilige Vorstellungen über einen raschen Aufstiegsprozess der sozialistischen Literatur, die innerhalb weniger Jahre Meisterleistungen von weltliterarischer Qualität hervorbringen sollte, in Frage zu stellen.“
Zu einer Lizenz „im Westen“ hat Herbert Jobst die Aufmerksamkeit des SPIEGEL natürlich nicht verholfen. Denn die Aufmerksamkeit für die vermeintliche Sensation eines Bestsellers war keineswegs mit einer sonderlich wohlwollenden Lektüre des Buches selbst verbunden, zum Erfolg „verhalf ihm vielmehr seine Neigung zu zotenähnlichen Anzüglichkeiten. Auf kaum einer Seite seines Romans versäumt es Autor Jobst, in gängigen Kasernenhof-Ausdrücken Hinweise auf den Stoffwechsel und die Notdurft zu geben, die er mit den Fragen der Politik verknüpft.“ Folgerichtig gab es für „Der Zögling“ im SPIEGEL dann nur noch zweiundzwanzigeinhalb Zeilen. Just am zehnten Geburtstag der DDR, der nicht zuletzt mit einigen heute wie Realsatire wirkenden repräsentativen Anthologien gefeiert wurde (Beispiel: Des Sieges Gewissheit. Ein Volksbuch vom Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik; mit einem erbaulichen Geleitwort von Erwin Strittmatter übrigens), las man aus Hamburg: „Die aufrechten Klassenkämpfer wirken wie von anderen Propagandawerken abgepaust, aber die Asozialen einschließlich einiger SA-Rabauken sind sichtlich nach der Natur gezeichnet. Der Unterwelt- und Analphabeten-Jargon schafft nicht nur einige düstere Komik, sondern sogar Andeutungen spröder Poesie.“ Man könne das Buch nur in der Ostzone kaufen für 7,80 Ostmark.
Wenn sich Herbert Jobst der kleineren Form zuwandte nach Abschluss der drei ersten Bände seiner Tetralogie, dann wurde gar nicht so überraschend deutlich, dass Werner Ilberg mit seiner Kritik an der neuen Schreibweise so unrecht nicht hatte. Die Erzählung „Das Puppenauge“ beispielsweise leidet geradezu darunter, dass sie gehoben literarisch sein will. Der Fast-Deserteur, der sich mit einer Selbstverstümmelung kurz vor Ende des Krieges in den Frieden zu retten hofft, obwohl er eigentlich weiß, dass die Militärärzte einen sicheren Blick für solche Akte haben, der schwingt sich zu einer ganz anderen Tat auf, die heldenhaft zu nennen kaum übertrieben wäre. Er richtet eine Panzerfaust auf den eigenen, den deutschen Panzer, um zu verhindern, dass dieser mit seinen Schüssen die Russen provoziert, die zu evakuierende Rot-Kreuz-Stelle zu vernichten. Jobst hält das Ende schwebend und ringt auch hier mit dem Problem eines Perspektivwechsels mitten im Text. Das liegt ihm offenbar gar nicht und lockt ihn dennoch zum erneuten Versuch. In einer Reportage aus dem „Kombinat industrielle Mast“ (KIM) lässt Jobst 1966 den hemdsärmeligen Direktor sagen: „Es gibt Journalisten, die berauschen sich an modernen Fabriken, an komplizierten Turbinen, sie faseln über Kybernetik, was auf dem Land geschieht, riecht nach Mist. Glaubst du, der Bauer lebt hinter dem Mond?“
Jobst zieht das Phrasenhafte der Offizialsprache der DDR durch den Kakao: „Das Weltniveau weint bittere Tränen, spartanischer geht es nimmer.“ Und über den obersten aller führenden Genossen: „Walter Ulbricht ist nun mal das stärkste Rohr in unserem Waffenarsenal, da beißt die Maus keinen Faden ab.“ Sollte es ein großer Zufall sein, dass das Fernsehen, das dem ersten Vierteiler nicht, wie offenbar einmal geplant war, einen zweiten folgen ließ, eine heftige Breitseite abbekommt: „So viel Arroganz auf einem Haufen findest du schwerlich noch einmal.“ Auch das sagt der Betriebsdirektor der industriellen Mast, keineswegs etwa der eingeschüchterte Zeitungsjournalist, der immerhin die Zusage bekommt, alle befragen zu dürfen, die er befragen mag. Was ja, wie man weiß, noch nicht gleichbedeutend hieß, alles werde auch gedruckt und veröffentlicht. Das Literaturzentrum Neubrandenburg verwaltet seit dem 2. November 2005 den Nachlass von Herbert Jobst und Lisa Jobst, seiner Frau. 1981 veröffentlichte es eine broschierte Anthologie unter dem Titel „Herbert Jobst“, Herausgeberin war Anita Heiden-Berndt, seit 1974 Mitglied im Schriftstellerverband der DDR. 1989 verteidigte Stephan Gruner an der Humboldt-Universität eine Dissertation mit dem Titel „Im Streit um die Geschichte, Kriegsdarstellung und Entwicklungssujet in der frühen DDR-Prosa : dargestellt an der Kumiak-Trilogie (Hans Marchwitza), der Trilogie "Verwandte und Bekannte" (Willi Bredel), der Adam-Probst-Tetralogie (Herbert Jobst) und der Felix-Hanusch-Trilogie (Jurij Brežan). Seither herrscht, wie es aussieht, Schweigen um Herbert Jobst.