James Boswell 1740 - 1795
Wer das Hochglanz-Prospekt der Kur- und Rosenstadt Bad Langensalza in die Hand nimmt, vorn drauf leuchtet das Friederikenschlösschen, es gibt auch einen Flyer „Die Stadt der zehn Gärten“ und die stolze Zahl von 250.000 Besuchern im Jahr, kann sich nicht vorstellen, welch brutales Urteil vor 250 Jahren über die Stadt gefällt wurde. Der, der es in sein Tagebuch notierte, befand sich auf einer längeren Deutschlandreise und kam eben aus Gotha. Dort sah er in der herzoglichen Bibliothek eine Bibel aus dem früheren Besitz des Kurfürsten von Bayern, die ihn doch arg verwunderte. Und zwar wegen ihrer zum Teil kuriosen Abbildungen: „... als z. B. Adam und Eva merken, dass sie nackt sind, kommt Gottvater als alter Mann zu ihnen und überreicht Adam ein Paar Hosen und Eva einen Unterrock.“ Am nächsten Tag vervollständigte der Reisende beim örtlichen Münzmeister seine Silbermünzensammlung. Der vierschrötige Mann, so das Tagebuch, kredenzte Rheinwein dazu.
Unter dem Datum 21. Oktober 1764 steht dann: „Der Frühgottesdienst hatte eine wunderbare Wirkung auf mich. Fuhr anschließend drei Meilen nach Langensalza. Die dreckigste Stadt, die ich je gesehen habe. Durch die Straßen wälzt sich flüssiger Schlamm – man kann sich nur mühsam auf einem schmalen Steg an den Seiten vorwärts bewegen.“ Der das für die Nachwelt und sich selbst festhielt, war James Boswell, geboren am 29. Oktober 1740 in Edinburgh, gestorben am 19. Mai 1795 in London. Die englischen Literaturgeschichten, die ich zu Rate zog, finden kaum ein paar Worte über ihn, das Taschenlexikon „Fremdsprachige Schriftsteller“ (VEB Bibliographisches Institut Leipzig) hat ihn gar nicht, auch im sechsbändigen Literatur-Lexikon der ZEIT fehlt er, er hätte zwischen Ludwig Börne und Rachid Boudjedra stehen müssen. Wenn überhaupt, dann steht sein Name stets im fast symbiotischen Zusammenhang mit Dr. Samuel Johnson.
Den lernte James Boswell am 16. Mai 1763 in London kennen. Mit ihm unternahm er 1773 eine mehrwöchige Reise zu den Hebriden. Johnson starb am 13. Dezember 1784 und am 16. Mai 1791, auf den Tag 28 Jahre nach ihrem ersten Zusammentreffen, erschien Boswells Biographie „The Life of Samuel Johnson LL. D.“, die zweite Auflage zwei Jahre später. Der 2009 im Züricher Diogenes Verlag erschienenen Übersetzung von Fritz Güttinger, immerhin 818 Seiten stark, bescheinigte Rezensent Hannes Stein „Geheimratsecken“ und schrieb dennoch: „Fragen über Fragen – zum Glück macht eine Handvoll Übersetzungsfehler aus einem Riesen noch lange keinen Gartenzwerg. Man gerät beim Lesen ins Kichern wie ins Grübeln und freut sich, dass man von nun an auch Dr. Samuel Johnson aus London zu seinen Hausgästen zählen darf.“ Johnsons Reisebericht über die Hebriden-Tour ist übrigens lange vorher auf Deutsch erschienen, man hätte ihn kennen können.
Hannes Stein hat jene Bedeutung Boswells, die über das Biographisch-Anekdotische um Johnson hinausgeht, sehr prägnant formuliert: „Für Engländer ist Boswells Buch aber auch so etwas wie ein Ausflug in einen lauschigen Zitatenwald: Vielleicht die Hälfte aller geflügelten Worte, die es im Englischen gibt, stammt aus diesem Buch. Die andere Hälfte stammt von Shakespeare.“ Wohl dem, der so weitreichende Behauptungen locker aufstellen kann. Boswells Tagebuch vermerkt zum 16. Mai 1763 übrigens: „Mr. Johnson ist ein Mensch von äußerst unangenehmer Erscheinung. Er ist sehr groß, hat blutunterlaufene Augen, zuckt mit allen Gliedern und ist von Pockennarben übersät. Er ist schlampig gekleidet und spricht mit misstönender Stimme. Und doch verlangen sein überragendes Wissen und die Kraft seiner Sprache Respekt und machen ihn zu einem begehrten Gesellschafter. Er hat viel Humor und ist ein ehrenwerter Mann. Seine dogmatische Haltung macht ihn jedoch unsympathisch.“
Günter Herburger hat sich 1997 der Aufgabe unterzogen, aus dem Korpus der Tagebücher die Tour durch Deutschland herauszugreifen und für die kleine Leserschaft der Wochenzeitung FREITAG referierend darzustellen. Man merkt den fünf Spalten das vorherige Lesevergnügen an. „Boswell trifft außerordentlich oft den Kern. Er verachtet und fühlt sich wohl.“ Herburger folgt den Spuren Boswells durch Deutschland in chronologischer Folge, wer die handliche Ausgabe des Stuttgarter Reclam-Verlages benutzt, kann ihm höchst bequem und auch portioniert folgen. Das Schöne an solchen Büchern ist ja, dass man ihre Lektüre jederzeit unterbrechen kann. „Des Reisenden entwaffnendes Talent besteht auch darin, Dialoge rekapitulieren zu können, ohne sich selbst das beste Licht zu gönnen.“ Hätte Goethe das auch gekonnt, gäbe es einen seiner berühmtesten Sätze nicht, den zur Kanonade zu Valmy. Mit dem er sich ins allerbeste Licht stellt.
Der Name Goethes erscheint hier nicht zufällig, denn der reisende James Boswell kam nur ein Jahr früher als Goethe nach Leipzig und wie den führte ihn einer seiner ersten Wege zu Christian Fürchtegott Gellert. Der war eine Größe im Europa der Aufklärung, hielt in Leipzig Vorlesungen und hatte wenig Hemmungen, selbst vor jungen Gästen zu klagen. Schon fast vollkommen gesunken war 1764 der Stern Gottscheds, dem Boswell am Tag vor seinem Gellert-Besuch seine Aufwartung machte. Immerhin wusste Boswell sehr genau, vor wem er stand: „Er war es, der die deutsche Sprache gereinigt und kultiviert sowie eine vorzügliche deutsche Grammatik verfasst hat. … Er ist eine große stattliche Erscheinung und hat die eleganten Umgangsformen eines Weltmannes.“ Boswell versprach, ihm Proben eines eigenen Unternehmens zuzusenden, hatte er doch die Absicht, seinerseits ein schottisches Wörterbuch zu verfassen.
Gellert kommt nicht gut weg bei James Boswell, vielleicht weil er sofort seine Befindlichkeiten ausbreitete, von seiner Hypochondrie sprach: „Gellert scheint mir ein unbedeutender Kopf zu sein, er hat von nichts eine Ahnung. Seine Unterhaltung wirkte auf mich altjüngferlich. Mit ein bisschen Phantasie und Geschick im Verseschmieden hat er bei den deutschen Leserinnen Eindruck gemacht und sich eine gewisse Reputation verschafft.“ Am 6. Oktober, dem Tag danach, notiert er sich noch die unselige Neigung der Deutschen zu Weitschweifigkeit, dann ging es bald in Richtung Meißen und Dresden. „Ich stelle fest, dass man den Fremden in Dresden das Geld aus der Tasche zieht, wenn sie die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigen wollen – ein Skandal, weil das meiste doch Eigentum des Fürsten ist.“ Ein Jahr später schilderte Boswell in einem ausführlichen Brief an Jean-Jacques Rousseau seine Italienreise und schickte diesen Brief dann nicht ab.