Elizabeth Gaskell - Schafe, Helden, Halbbrüder

„Sobald das Schaf in zwei Teile zerfällt, in sein Fell und in sich selbst, wird es Eigentum von zweierlei Leuten.“ Wegen solcher Sätze lese ich. Ich gebe zu, dass es edlere Lesegründe gibt. Nicht einmal meine autobiographische Rechtfertigung will ich gelten lassen, ehe sie selbst Literatur wird, derzufolge ich ein stilles Gruseln empfand im Angesicht eines der Fama nach aggressiven Hammels vor der Karl-Marien-Höhe in Gehren in den späten fünfziger Jahren. Geschrieben hat diesen und etliche andere Sätze Elizabeth Cleghorn Gaskell, die am 12. November 1865 starb. Der Name irritiert mich nachhaltig, denn laut Wikipedia heißen nur kanadische Eishockey-Spieler Cleghorn und zwar mit Nachnamen. Dafür hieß Mark Twain eigentlich Samuel Langhorne Clemens, was die Sache mit diesen Hörnern nicht eigentlich erleichtert. Zitiert habe ich aus der Erzählung „Schafscherer in Cumberland“, die eher eine Reportage ist, was für mich kein Problem darstellt, da ich Literatur nicht nur als eine Ansammlung von Romanen sehe, die scheinen mir eher den Blick auf Literatur in strafbarer Weise zu verengen. Die sich mit Elizabeth Cleghorn Gaskell, am 29. September 1810 in London geboren, befassen, es sind keine Heerscharen, neigen dazu, ihre Romane und nichts als ihre Romane zu besprechen. Grund genug, diese Romane hier einfach einmal zu vergessen. Zumal einer gar keiner war: „Cranford“.

„Wir kamen durch Keswick und sahen die vielen zeichnenden und kahnfahrenden Touristen, auf die wir, Einheimische für einen Monat, mit einer gewissen Verachtung herabsahen.“ Keswick gab es wirklich und gibt es immer noch, 4200 Einwohner, auch Schafe sind noch da und ein Museum, das Autos zeigt, die in Film und Fernsehen Berühmtheit erlangten. Ob da irgendwo ein Täfelchen für Mrs. Gaskell angeschraubt ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Mich freut, wie früh es schon diese intellektuelle Verachtung für Touristen und Touristinnen gab, um gendergerecht zu sprechen. Ein Aufenthalt von vier Wochen berechtigte zu verächtlicher Perspektive. Ob Dirk Schümers „Touristen sind immer die anderen“ (Hanser 2014) bis ins frühviktorianische England zurück schaut, weiß ich nicht zu sagen, das Buch steht noch ungelesen im Regal neben seinem Venedig-Buch. Die Ich-Erzählerin auf dem Weg zu den Schafen darf wohl mit der Autorin ziemlich in eins gesetzt werden, sie führt mehrere Kinder mit sich, die so gut erzogen sind, dass sie auch essen, was ihnen nicht schmeckt. Mrs. Gaskell war seit 1832 mit Mr. Gaskell verheiratet, was zu fünf Kindern führte, der Herr war Pastor. Vier der fünf Kinder starben nicht, die vier Mädchen, der einzige Junge dafür sehr früh, was aus der tief getroffenen Mutter, so heißt es allerorts, eine Autorin machte.

Eine andere Autorin, Virginia Woolf, hat Mrs. Gaskell Persönlichkeitsmangel vorgeworfen, was ein harter Vorwurf ist, obwohl manche es mit dieser Eigenschaft bis zum Chefredakteur bringen. Der Vorwurf von Virginia Woolf ist ein vertrackter, denn er beruht auf einem Sehfehler. Während Elizabeth Gaskell in ihrem Schreiben noch einer Zeit angehörte, in der ausgestellte Individualität um fast jeden Preis nicht das primäre Gattungsmerkmal von Literaturmarkt-Teilnehmern war, hat sich das 1910, als Woolf sich zu Gaskell äußerte, radikal geändert. Das rein marktwirtschaftlich zu sehende Alleinstellungsmerkmal des Literaturprodukts muss idealerweise etwas sein, was es noch nie gab, Originalität und Avantgardismus schieben sich begrifflich ineinander mit der Folge, das Reste von Wirkungsästhetik, soweit nicht für nichtig erklärt, sich nicht auf den Konsumenten beziehen. Der ja in der Kommunikation mit dem Künstler, vermittelt über das Werk, semiotisch immer auf einen gemeinsamen Zeichenvorrat angewiesen ist, den ihm Avantgarde in ihrer reinsten Form schlicht verweigert. Elizabeth Gaskell erregte Virginia Woolfs Missfallen damit: „Man kann eher glauben, dass sie ihren Stolz darein setzte, die Dinge gerade so zu tun wie andere Frauen auch, nur besser ...“ Das Weltbild, in dem dies eine negative Aussage darstellt, ist mir leider ziemlich fremd.

Virginia Woolf ihrerseits versetzt nach fünf Seiten herabsetzender Einzelbemerkungen über Elizabeth Gaskell ihre Leserinnen in Erstaunen mit dem Fazit: „Welche Freude ist es, sie zu lesen!“ War es gar eine leicht perverse Freude? Im volkskundlichen Exkurs „Schafscherer in Cumberland“ jedenfalls geht es detailreich und mit genauem Blick zu Sache, dergleichen galt in Friedenszeiten als Realismus. Man könnte auf Marx verweisen in Erinnerung an jene schwer vergesslichen Zeitläufe, da alle Wissenschaft zitatbasiert auftrat, also auf dem festen Fundament der Klassiker, die da ziemlich vierzig Jahre lang Marx, Engels, Lenin, Stalin hießen, bis letzterer einen Statusverlust erfuhr, der ihn in einen Sterblichen verwandelte. Karl Marx, der streng genommen außer der Politischen Ökonomie des Kapitalismus nichts zur Theorie ausgebaut hat, war dennoch die Basis für alle Theorie und wehe der Disziplin, deren Vertreter es bisweilen vergaßen. Und herrlich für alle Disziplinen, für die sich auch bei heftigster Suche kein Zitat finden ließ, die konnten einfach arbeiten und mussten nicht erst Zitate deuten. Langer Rede kurzer Sinn: Karl Marx kannte Elizabeth Cleghorn Gaskell, 1854 nannte er – einmal und nie wieder – ihren Namen ohne Vornamen.

Das geschah in der Schrift „Die englische Bourgeoisie“ von Karl Marx (1854), findbar in der vierzigbändigen Ausgabe MEW (herrlich, mal wieder so zitieren zu dürfen) Band 10, Seiten 647f. „Die derzeitige glänzende Bruderschaft der Romanschriftsteller Englands – deren anschauliche und beredte Seiten der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten vermitteln, als alle Berufspolitiker, Publizisten und Moralisten zusammengenommen von sich gegeben haben – hat jede Schicht der Bourgeoisie beschrieben, vom „allervornehmsten“ Rentier und Inhaber von Staatspapieren, der alle Arten des Geschäfts als gewöhnlich betrachtet bis zum kleinen Ladenbesitzer und Advokatengehilfen. Und wie haben Dickens und Thackeray, Fräulein Brontë und Frau Gaskell sie gezeichnet? Voller Anmaßung, Heuchelei, kleinlicher Tyrannei und Ignoranz ...“. Die Bruderschaft bestand zu fünfzig Prozent aus Frauen - da lachen sich nicht nur Genderprofessorinnen die Slipeinlage nass. Aber immerhin, auch im Marx-Haus zu Trier erfährt man, dass Gaskell in den Bücherschränken von Marx und Engels stand. Was, und nun muss es heraus, ja gar nichts besagt über die literarischen Qualitäten ihrer Bücher. Marx und Engels lasen soziologisch, wie heute übrigens die Gender-Damen auch, eine verwirrende Parallelität. Für manche und manchen.

Man erfährt von Zuckerbutter, das „ist schlechterdings die widerwärtigste als Leckerei verkleidete Mischung, die ich je gekostet habe.“ Es gibt mehr solcher widerlicher Mischungen, weiß jeder, der je englische Normalkost sah und aß vor Ort. Mrs. Gaskell vermittelt die genau deshalb erfreuliche Botschaft, das auch Einheimische bisweilen an den nationalen Kochkünsten verzweifeln. Eine andere kurze Erzählung führt auf einen Friedhof. Es gibt eine Rahmenhandlung und eine Binnenerzählung und avantgardistisch sind beide nicht. Die beiden Herren, die sich darüber austauschen, wer für sie ein Held, was für sie Heldentum sei, tun das einfach. Sie hätten auch über Hühnerzucht reden können oder über den Verfall des Wollpreises im Gefolge australischer Importe, um an die vorige Geschichte anzuknüpfen. Machen sie aber nicht. „Zu den Freuden der Ferien gehört es, dass uns die Gedanken nicht ungestüm durch äußere Gewalt, Eile und geschäftige Ungeduld entrissen werden, sondern in der sonnigen Muße solcher Tage ausgereift von den Lippen fallen.“ Das würde heute kaum jemand so sagen und doch ist es nicht von gestern. Dem Reden der Feriengenießer auf einer Friedhofsbank lauscht der Totengräber unfreiwillig und der Erzähler ist, als der Lauscher sich ins Gespräch mischt, nicht begeistert: „Ich muss gestehen, dass mich die Störung etwas verdross.“ Vorher aber gilt es zu sehen, was die Herren denn so denken. Denn, so glaube ich unverdrossen, Gedanken dürfen in Literatur durchaus vorkommen.

„Meines Erachtens ist ein Held jemand, der gemäß der höchsten Idealvorstellung von Pflicht handelt, die er ausbilden konnte, gleichgültig, welches Opfer er dabei bringen muss. Ich glaube, nach dieser Begriffsbestimmung dürfen wir alle Entwicklungsstufen der Menschheit einschließen, auch die Helden der Alten, deren einzige – für uns primitive – Pflichtvorstellung in körperlicher Tapferkeit bestand.“ Sagt Jeremy. Man darf darüber nachdenken. Er schließt, sogar, wenn auch widerwillig, Kriegshelden in seine Begriffsbestimmung ein: „Ja, mit einem gewissen Bedauern, dass die Umstände ihnen keine höheren Pflichtideale anboten.“ Und der Erzähler sagt zu allem: „Ein trauriges, unchristliches Heldentum, das darin besteht, anderen zu schaden!“ Der Gott des intertextuellen Zufalls will, dass ich zuletzt über „Helden“ von George Bernard Shaw schrieb und dann über „Romulus der Große“ von Friedrich Dürrenmatt. Das sieht nicht nur einen Moment aus, als gäbe es immer noch Bruderschaften (inklusive Schwestern), die mehr als alle Politiker und so weiter, siehe oben. Nun kommt der Totengräber zu seinem Recht, der eine Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte vom starken Gilbert Dawson, der sich nicht schlagen will und deshalb von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen wird. Keine Spur von Gemeinschaftsidyll übrigens.

Man liest solche Sätze heute mit anderer Sensibilität: „ ... die Leute standen in den Türen und sahen ihm nach, als er den Berg hinauf nach Hause ging, als wäre er ein Affe oder ein Ausländer“. Denn dieser vermeintliche Feigling lebte nicht das unchristliche, sondern das christliche Heldentum, wie der Erzähler später anhand der zerlesenen Bibel mit ihren angestrichenen Stellen unschwer feststellen kann. Er rettet unter Opferung seines eigenen Lebens die Frau, deren Liebe er verlor und den Nebenbuhler, an den er sie verlor. Der wird später Totengräber, um Frau und Kind näher zu sein. Alle professionellen Gaskell-Leser, die sich anhand der Romane ein Bild machen und über die Symbolik von Nord und Süd nachdenken (North and South ist einer der Titel), kämen mit ihren Thesen ins Straucheln anhand nur dieser einen kleinen Geschichte. Und ganz ähnlich geht es in „Die Halbbrüder“ zu. Wieder ist da einer, der ausgeklammert und diskriminiert wird, ein Stiefsohn und Stiefbruder, diesmal erzählt der betroffene Bruder. Und ist nach dem Totengräber der zweite erzählende Mann der Erzählerin Gaskell, die angeblich genau das zuallererst vermeiden wollte. Ina Schabert behauptet in ihrer englischen Literaturgeschichte auf Basis von Geschlechterforschung (Kröner, Stuttgart): „Das Einbringen männlicher Erzähltöne lehnt sie als „schielendes Schreiben“ ab.“ Muss man für solche Behauptung selbst schielen? Aufs Material?

Die Geschichte endet so: „Wir fanden nach seinem Tod unter seinen Papieren Anweisungen, nach denen er wünschte, man möge ihn zu Füßen des Grabes legen, in dem nach seinem Wunsch der arme Gregor ruht und UNSERE MUTTER.“ Das ist so im Druck, die Großbuchstaben sogar in eine neue Zeile gesetzt, der Punkt am Ende fehlt. Gregor, der Bruder aus erster Ehe, der Bruder, dem alles schief geht mit seinen zwei linken Händen, findet den Jüngeren im Moor und rettet ihn, indem er alles, was er hat, nutzt, ihn vor dem Erfrieren zu bewahren. Das klappt, während er selbst erfriert. Und sein Hund Lassie holt Hilfe herbei. Von ihm schreibt Gaskell: „Lassie kam und ging, ohne jemals wieder ein Wort des Tadels zu hören, ja, mein Vater versuchte bisweilen, sie zu streicheln, aber sie wich zurück ...“. Was für ein Geschehen: ein Hund will nicht gestreichelt werden von dem Mann, der seinem Stiefsohn alle Liebe entzog. Man kann dergleichen sentimental nennen, man kann sagen, dass die viktorianische Epoche solche Sentimentalitäten liebte, es ist so gesagt worden. Gegen Elizabeth Gaskell sagt es jedenfalls nichts. Die übrigens auch eine dicke Biographie über ihre Freundin Charlotte Brontë geschrieben hat, deren Geburtstag sich 2016 zum 200. Male jährt.


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