Wolfgang Hildesheimer: Herrn Walsers Raben

Seine „Vita“ aus dem Jahr 1966 hat der am 9. Dezember 1916 in Hamburg geborene Wolfgang Hildesheimer so begonnen: „Meine Vorfahren väterlicherseits waren Rabbiner, einer nach dem andern, nur mein Vater hatte keine Lust mehr und wurde Chemiker; mütterlicherseits waren sie Buchhändler, dem Vater meiner Mutter fühlte ich mich verwandt, er war Stoiker, zeichnete gut, spielte Violine, war sein Leben lang niemals beim Zahnarzt und steckte seine Pfeife brennend in die Tasche.“ Den Zeitpunkt, an dem er begann, Schriftsteller zu werden, datiert Hildesheimer unüblich präzise, es war der 18. Februar 1950, vormittags. Er schrieb eine Geschichte, obwohl er eigentlich zeichnen wollte. „Am nächsten Tag schrieb ich eine zweite, und so wurde ich allmählich Schriftsteller, denn wenn man einmal mit dem Schreiben angefangen hat, scheint es schwer, wieder damit aufzuhören, selbst wenn man will, und ich habe seitdem schon mehrmals gewollt.“ 1983 hat er dann öffentlich verkündet, sich von der Literatur zu verabschieden und die Öffentlichkeit hat eilig damit begonnen, ihn in die Vergessenheit zu schubsen. Es gab wohl 1991 noch eine siebenbändige Werkausgabe, für die einige Antiquariate eben 450 Euro haben wollen, sonst aber steht der Neugierige vor dem Phänomen, den Namen Hildesheimer in Überblicksdarstellungen nicht mehr oder wie zufällig ein einziges Mal zu finden. Volker Weidermann kennt ihn in „Lichtjahre“ nicht.

Hildesheimer war Simultandolmetscher in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, vorher in ganz jungen Jahren bereits Emigrant in Palästina. Schon 1957 nahm er seinen Wohnsitz in Poschiavo im Schweizer Kanton Graubünden. Wer mit dem Bernina-Express von Chur, Davos oder St. Moritz ins italienische Tirano fährt, muss durch das Poschiavo-Tal und sieht aus seinem Panorama-Wagen, wo sich Hildesheimer bis zu seinem Tod am 21. August 1991 heimisch fühlte. Hildesheimer war auch Mitglied der Gruppe 47, weshalb Hans Werner Richter ihn in sein „Im Etablissement der Schmetterlinge“ aufgenommen hat, das Porträt heißt „Die Schlafanzughose“ und beginnt so: „Als er noch jung war, fühlte er sich schon alt, und als er alt wurde, setzte er immer noch ein paar Jahre hinzu und fühlte sich wiederum sehr viel älter als er war. Das Alter hatte es ihm angetan.“ Als Hildesheimer seine Frau Sylvia heiratete, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte, eröffnete sich ihm eine völlig neue Möglichkeit, alt zu sein, er wurde Großvater. Richter: „Sofort kaufte er sich einen Stock, und als ich ihn darauf wiedertraf, ging er schon leicht gebeugt an seinem Stock.“ Einer, der so lebt, muss streng genommen gar nicht mehr unbedingt auch noch schreiben, um Interesse zu wecken. Er schrieb aber, mehr als dreißig Jahre lang.

Darunter auch „Herrn Walsers Raben“. Herr Walser erzählt in diesem Hörspiel, er sei mit einer Zirkusreiterin verheiratet gewesen, kurz nur, man habe sich auseinander gelebt. Und nun grüble ich, wo ich zuletzt von einer Zirkusreiterin las (und wohl auch schrieb), die gar ihren Mann verprügelte. Dann könnte ich vom Einfluss des einen auf den anderen oder des anderen auf den einen orakeln und irgendeiner, der doch noch Interesse hat für Wolfgang Hildesheimer, könnte es bemerken und ich könnte so in einer Fußnote landen, falls derjenige einer wäre, der Texte mit Fußnoten verfasst. „Herrn Walsers Raben“ ist ein herrliches Hörspiel, das ich nie gehört habe. Gelesen aber zuerst vor reichlich 35 Jahren. Jetzt wieder und es ist wieder oder immer noch ein herrliches Hörspiel. Sein Humor hat die Farbe der Raben, die man, falls man es hört, im Hintergrund mehr oder minder laut hört. Die Raben sind Onkel und Tanten, ein paar Raben hat Herr Walser auch dazu gekauft, weil ihm der Gedanke unangenehm wäre, ins Auge seiner Tante Patricia zu schauen, die draußen auf den Ästen hockt. Herr Walser hat eine dicke Haushälterin, die Frau Borgward heißt, ob Isabella mit Vornamen, wissen wir nicht. Als sie ihn weckt, ist es fast Mittag, er hat zu viel getrunken und zu lange geschlafen, eine wenig seltene Kombination. Sie fordert ihn auf, aus der eingegangenen Post wenigstens das Telegramm zu lesen. Und siehe, es ist von Tante Cosima.

Ich gehe tapfer davon aus, dass Wolfgang Hildesheimer schon bei der Vergabe der Namen für sein Hörspiel ein Späßchen hatte, zu auffällig provozieren sie Assoziationen, die aber, und das wäre der Witz, von vorn bis hinten in die Irre führen. An wen denkt man bei Cosima, an wen bei Adrian (das ist Herrn Walsers Vorname)? Tante Cosima ist zur Überzeugung gelangt, dass Neffe Walser ein Massenmörder sei. Denn ganze Reihen von Verwandten sind nach Letztkontakt mit Adrian Walser von der Bildfläche und aus dem Leben verschwunden. Tante Cosima wäre das vermutlich schnurzpiepegal, wenn nicht einer der Verschwundenen jener Bruder gewesen wäre, von dem sie eine Rente ausbezahlt bekam. So ist sie mit einem Leibwächter namens Mönkeberg, eine Gemeinde dieses Namens liegt an der Kieler Förde, angereist, um den Neffen zur Heirat mit ihrer einzigen Tochter zu zwingen. Wohl sieht diese Tochter angeblich aus wie eine dänische Dogge, aber letztlich geht es nur und ausschließlich um Eigentumsverhältnisse und Erbrecht. Dass Herr Mönkeberg gar nicht Herr Mönkeberg ist, erfährt man später. Dass die Onkel und Tanten nicht ermordet wurden, etwas eher. Herr Walser kann zaubern. Genauer gesagt: er kann Menschen in Raben verwandeln unter bestimmten Bedingungen, andere derartige Fähigkeiten hat sein Schöpfer Hildesheimer nicht überliefert. Nur die bestimmten Bedingungen schaffen, die er braucht, das kann er auch sehr gut.

Die Verwandten, die ihn aufsuchen, weil er sehr reich ist und sein Reichtum auch noch ständig wächst, was sie begierig macht, müssen sich erregen. Wenn sie eine definierte Erregungsfrequenz erreicht haben, muss Adrian Walser nur das geheimnisvolle Wort aussprechen und schon ist Onkel ein Rabe, Tante ein Räbin. Herr Walser hat wegen seines Reichtums ein schlechtes Gewissen, was freilich weniger am Reichtum selbst liegt, als daran, dass der Onkel, der ihm alles hinterließ, vorher auch zum Raben wurde und nicht zurück verwandelt werden kann. Das wiederum liegt daran, dass jener Lehrmeister, von dem Herr Walser alles lernte, ebenfalls unter den Raben weilt und so das Geheimnis des Rückweges bei sich behielt. Zwischen dem Zauberer und seiner dicken Haushälterin entspannt sich folgender Wortwechsel: „Reichtum macht nicht glücklich, Frau Borgward.“ Und sie: „Aber doch um einiges glücklicher als Armut.“ Dem ist wenig hinzuzufügen. Außerdem sagt sie noch: „Unter einem umfangreichen Äußeren hat viel Verborgenes Platz!“ Am Ende des Hörspiels weiß man genau, was sie meinte: Liebe nämlich. Frau Borgward bringt eben nicht nur die Post und das Frühstück, sie wacht auch und greift ein, wenn es nötig ist und zwar mit überraschender Kraft.Vorher aber erwischt es Tante Cosima, die den nötigen Erregungspegel schnell erreicht. Ihr Leibwächter Mönkeberg hat keine Chance, noch einzugreifen.

Er will auch gar nicht, denn er ist nicht Herr Mönkeberg, sondern Onkel Nikolaus. Onkel Nikolaus war in Diensten aller Onkel und Tanten, die sich in der Nähe von Herrn Walser in seine Raben verwandelten. Er kennt aber nicht nur dieses Geheimnis, sondern auch den Trick. Nicht nur den, den der Neffe Adrian beherrscht, auch den Rest, den der nicht mehr erlernen konnte. Den Machtkampf der Erregungserzeuger gewinnt beinahe der Neffe, den seine perfide Idee, dem Onkel Angst um seine Gesundheit einzuflößen, funktioniert bestens. Doch plötzlich stört Frau Borgward. Die Pegel sinken, wütend (und erregt) verlässt Adrian Walser den Raum und als er mit einem Mittel für den Onkel ihn wieder betritt, ist der Onkel weg. Frau Borgward fordert Herrn Walser auf, nach der Zahl seiner Raben zu schauen. Klar, wo nun auch Onkel Nikolaus weilt, denn Frau Borgward kann das auch mit den Raben. Sie blieb in ihrem Leben in jeder Situation ruhig, Herr Walser gerade eben nicht. Er weiß also, was ihm blüht. Das heißt, er weiß es nicht. Denn Frau Borgward will, dass er sie auch in einen Raben verwandelt, falls sie ihn in einen verwandeln soll auf seinen denkbaren Wunsch hin. So definiert Wolfgang Hildesheimer in seinem absurden Spiel Liebe. Günter Eich schrieb dazu in einem Nachwort: „Das Glück der Zurückbleibenden ist die Resignation, ein von Selbstironie und einer liebevollen Köchin verklärter Lebensabend. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass die meisten weniger zu erwarten haben.“ Dem ist abermals nichts hinzuzufügen.


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