Brecht: Lux in tenebris

Man wird der Böswilligkeit kaum gescholten werden können, wenn man behauptet, dass dieser Einakter des sehr jungen Augsburgers Brecht aus dem Jahr 1919 nicht eben zu den Bühnen-Hits gehört, die landauf, landab aus Überzeugung oder Pflichtgefühl, beispielsweise, weil heute der 60. Todestag des Meisters mit der Zigarre und dem Schaukelstuhl ist, gespielt werden. Überhaupt hat von den fünf Einaktern des Jahres 1919 nur einer, „Die Hochzeit“, unter dem Spiel-Titel „Die Kleinbürgerhochzeit“ überlebt. Am neuerdings gern seiner Musealität wegen gescholtenen Berliner Ensemble läuft das und läuft das und es ist eine Freude, es zu sehen. Aber es gibt ja auch Menschen, die gern in ein Museum gehen, weil es dort aufhebenswerte Dinge zu schauen gibt und die sich deshalb nicht gern in eine Ecke stellen lassen von all den Typen, die heute auf ihrem einen Wellenkamm treiben und morgen auf der Straße nicht einmal von ihren Verwandten zweiten Grades mehr erkannt werden. „Lux in tenebris“ ist, ohne Verlaub, nicht gut genug, um ein richtiges Nachleben leben zu können. Die offene Tür ist schon ausgehängt, die hier eingerannt wird.

Die weltliche Kurzfassung seines aus der Bibel, wo Wasser gepredigt und Wein getrunken wird, entnommenen Moralkerns lautet: Die größten Feinde der Elche waren früher selber welche. In Brechts eigener, späterer Diktion: die schlimmsten Feinde der wilden Elefanten sind die gezähmten Elefanten. Sei‘s drum: man könnte auch noch das altrömische Steuerrecht zitieren, demzufolge Geld nicht stinkt, für Inhaber des kleinen Latinum: Pecunia non olet. Ist also ein Mann da mit einem Zelt und einem Scheinwerfer obendrauf, der wie ein Jahrmarktschreier seine Abnormitätenschau ankündigt: die Schaustücke, die die Attraktion zu einem Aufklärungsvortrag bilden, wären heute auf Zigarettenpackungen zu sehen, falls Rauchen Geschlechtskrankheiten verursachen würde. Der Witz ist der Standort des Zeltes in Heilsarmeemanier. Es ist die Bordellgasse, in die der Scheinwerfer unbarmherzig leuchtet, was, daher letztlich der Gattungsbegriff, das lichtscheue Gesindel vertreibt. Man kennt eine spätere Brecht-Strophe: „Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Man lutscht eine Idee von allen Seiten rund, ist sie einmal im Maule.

Der Mann mit dem Zelt, den Vorträgen und den Gruselexponaten heißt Paduk, solche Namen wählte der Brecht der Baal-Zeit. Paduk macht kräftig Umsatz, nimmt den Bordellbetreibern Umsatz und Kunden ab. Nur ist seine Geschäftsidee nicht so tragfähig wie die des ältesten Gewerbes der Welt. Dort sind die Kunden nicht nur einfache Wiederholungstäter, sie sind Stammkunden, während der freiwillige Blick auf Ekelfleisch selten auch nur zweimal gewagt wird. Nachdem der Einakter im Band 13 der alten Werkausgabe erstmals erschien, selbst der SPIEGEL hielt am 9. Januar 1967 einen Hinweis darauf für wichtig, brachte ihn Dieter Dorn in Essen 1969 auf die Bühne. Dorn stand am Anfang seiner überaus erfolgreichen Regie- und Intendanten-Karriere, die er in München mit einem grandiosen „Käthchen von Heilbronn“ ausklingen ließ, an seiner Seite in Essen damals der Pantomime Jean Soubeyran. Das ist insofern von Bedeutung, als Jean Soubeyran (1921 – 2000) der Vater war von Manuel Soubeyrand (1957 in Köln geboren, ein Jahr später mit Mutter in die DDR übergesiedelt). Der aber inszenierte 2015 „Lux in tenebris“ in Senftenberg.

Und zwar just in der Essener Konstellation kombiniert mit der erwähnten „Kleinbürgerhochzeit“. Johannes Jacobi, ZEIT-Theaterkritiker, war seinerzeit nicht sonderlich begeistert vom Wirken des Pantomimen in „Lux in tenebris“, für die „Kleinbürgerhochzeit“ aber bescheinigte er ihm gewissermaßen den Hauptanteil am Gelingen. In Senftenberg war die Neuinszenierung Teil eines Projektes, die Begriffe Theater und Projekt sind heute bekanntlich so verflochten, dass die Zunge fast automatisch die entsprechenden Laute gemeinsam bildet. Nur haben es Projekte eben an sich, Einmaligkeiten zu sein, denen das Vergessen schon an der übernächsten Wochenecke auflauert. Was trotzdem nicht zwingend gegen sie spricht. Ein Kritiker sah in Senfenberg: „Brecht zeigt hier an einem nicht nur für die damaligen Zustände recht typischen Beispiel die Wirkungsweise von kapitalistischen Marktgesetzen und die bestehenden Widersprüche zwischen Vernunft und Lust sowie Idealismus und Ausbeutung.“ Die Frage ist nur, ob jemanden im Parkett, wenn das so ist, überrascht, was er sieht. Weil nicht zuletzt der ältere Brecht den jüngeren im Gegenstand überholte.

Der vermeintliche Moralapostel Paduk, der sich vor dem Vertreter der Lokalpresse in gespielter Bescheidenheit spreizt, ist nicht nur einfach ein Bekannter der Bordellwirtin Frau Hogge, er ist ein sehr guter Bekannter von ihr und der Leser wie der Zuschauer erfahren recht rasch innerhalb der insgesamt neun Szenen, dass Paduk vor allem ein Rächer ist, ein Rächer seines eigenen Gekränktseins. Er als Stammkunde des Bordells mit grenzwertigen Vorlieben, die am Ende des Einakters noch einmal akustisch vernehmbar werden, meinte, dass eine zufällige Klammheit im Geldbeutel seinerseits kein Grund hätte sein sollen für den Rauswurf, den er erleben durfte. Der Racheaufwand ist, man könnte heute sagen, männlich hoch, der verbale Return der Frau Hogge weiblich prägnant und unaufgeregt. Sie räumt ihm seinen kurzzeitigen Erfolg gern ein, sagt ihm aber klar ihr Überleben im Geschäft voraus, während sie für seins mit sehr gutem Grund schwarz sieht. In Senftenberg hat Regisseurin Ulrike Müller offenbar viel Beifall erhalten, in Essens Humboldtaula viele Jahre früher fanden vor allem Karl-Valentin-Anspielungen weniger Zuspruch.

An der University of Illinois ist 1973 in „Lux in tenebris“ ein dialektischer Dreisprung von These über Antithese zur Synthese diagnostiziert worden, was dem Text auf einer Bühne freilich kaum aufhilft. Auch die Erkenntnis, dass der Meister ein Thema erstmals aufgriff, das zu seinen späteren Hauptanliegen zählt, ist kaum mehr als eine werkgeschichtliche. Und so wundert man sich nicht, in den vielen voluminösen Brecht-Büchern die Werkregister-Rubrik vergeblich nach diesem und oft auch allen anderen Einaktern absuchen zu müssen. Das 1967 bei Francke in Bern erschienene erste Standardwerk zum Thema „Der moderne Einakter“ von Diemut Schnetz hat von den fünf Einaktern des Jahres 1919 immerhin vier berücksichtigt, deutlich am intensivsten die „Kleinbürgerhochzeit“, gefolgt von „Er treibt einen Teufel aus“. „Lux in tenebris“ und „Der Fischzug“ sind nur knapp erwähnt, „Der Bettler oder Der tote Hund“ kommt gar nicht vor. „Lux in tenebris“ zählt, leicht kurios, nur als eines von etlichen Beispielen für einen Einakter, „wo ein öffentliches Lokal die Szenerie für eine unverbindliche Begegnung abgibt“. Das ist eine extrem veräußerlichte Sicht.

Die Einakter finden sich in der großen 30bändigen Brecht-Ausgabe im Band 1, wo ihnen vor allem die „Baal“-Fassungen vorausgehen, aber auch „Trommeln in der Nacht“. Marianne Kesting hat in ihrer Brecht-Biographie die Einakter einem unmittelbaren Einfluss von Karl Valentin zugeschrieben. Eine 1993 bei Kiepenheuer in Leipzig erschienene Karl-Valentin-Biographie erwähnt diesen Einfluss nicht, was nicht gegen die Biographie spricht, für sie aber auch nicht. Mein Höhepunkt im Einakter ist der Gruppenrabatt für einen christkatholischen Männerverein mit einem Kaplan an der Spitze. Hundert Männer dürfen sich Tripper, weichen Schanker und Syphilis für nur 73 Mark anschauen, wo der Tripper allein schon im Text der ersten Szene einmal mit 1,60 Mark, einmal mit einer Mark angepriesen wird. Lediglich singen sollen die Männer nicht, was sie leicht versprechen und einhalten. Am Ende der neunten Szene ist Paduk Teilhaber geworden im Bordell von Frau Hogge. Und darf auch gleich auf seinen Inhaber-Rabatt aktiv werden. Das Mädchen dokumentiert es mit Schreien. Den renitenten Gehilfen, der eben noch kündigen wollte, entlässt er.


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