Paul Zech: Stefan Zweig. Eine Gedenk-Schrift
Man kommt von einem zum andern mit diesem Paul Zech, weshalb es fast gleich ist, wo man den Anfang nimmt. Ich beginne bei Hermann Kähler und zitiere einen kompletten Absatz: „Paul Zech zog nach dem ersten Weltkrieg nach Berlin, das er nie geliebt hat. Von einem Verlag bekam er den Auftrag, ein autobiographisches Romanmanuskript, das den Titel „Michael“ trug und einen Joseph Goebbels zum Verfasser hatte, zu begutachten. Das Gutachten fiel vernichtend aus. 1933 wurde Paul Zech auf einer Geburtstagsfeier verhaftet. Freigelassen, floh er über Prag, Paris, Genua nach Buenos Aires zu seinem Bruder. In Buenos Aires gab es eine starke faschistische deutsche Kolonie. Der Bruder distanzierte sich von Paul. Als Hausierer, Nachtwächter, Klavierspieler in Hafenkneipen versuchte nun Paul Zech sein Leben zu fristen. 1946 verstarb er im argentinische Exil. Anfang der achtziger Jahre erschien in der DDR sein nachgelassener Roman „Deutschland, dein Tänzer ist der Tod“, eines von vielen noch ungedruckten Manuskripten dieses Schriftsteller.“ Kähler belegt, nicht unüblich in der DDR, keine einzige seiner hier getroffenen Aussagen mit einer Quelle. Und doch muss man ausnahmsweise mit dem Urteil, dass eigentlich kein Satz, so wie er da steht, stimmt, nicht sofort weitreichende Folgerungen über den Autor Kähler verbinden. Denn Paul Zech selbst trägt die Hauptverantwortung dafür, dass lange, letztlich bis heute, sehr viel unklar ist über ihn.
Paul Zech zog keineswegs nach dem ersten Weltkrieg nach Berlin, sondern schon 1912, wobei er fast ein halbes Jahr wartete, ehe er seine Frau und seine beiden Kinder nachholte. Die erste Fassung von „Michael“ entstand 1924, 1929 erschien der einzige Goebbels-Roman im Franz-Eher-Verlag München, nun mit wesentlichen Veränderungen, die vor allem den Einbau nationalsozialistischer Ideologie betrafen. Der kurze Absatz bei Kähler, der laut Lexikon „Schriftsteller der DDR“ als Professor am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Redakteur der theoretischen Monatszeitschrift „Einheit“ wirkte, suggeriert, dass zwischen der Ablehnung des Manuskriptes und der Verhaftung 1933 ein Zusammenhang bestand. Die tatsächliche Lebensgeschichte von Paul Zech im Jahr 1933 ist aber so weit von dem hier Behaupteten entfernt, dass nur eine Folgerung möglich ist: Hermann Kähler ist einer der vielen Legenden aufgesessen, die Zech über sich selbst verbreitet hat und die nicht selten wegen ihrer vermeintlichen Plausibilität auch gar nicht erst überprüft wurden. Die Frankfurter Rundschau nannte Zech am 18. Mai 2007 ganz unumwunden einen „Hochstapler“ und wer die verblüffend ausführliche Eintragung zu Zech bei WIKIPEDIA liest, hat den Eindruck, dass der in offenbar herabsetzender Absicht geschriebene Text auf just diesen einen zusammenfassenden Begriff hinausläuft, also nicht wirklich herabsetzt.
Der von Paul Zech und Stefan Zweig geführte Briefwechsel der Jahre 1910 bis 1942 erschien 1984 in erster, 1987 in zweiter, veränderter Auflage im Greifenverlag zu Rudolstadt, dazwischen 1986 auch in Frankfurt am Main. Der von Donald G. Daviau (geboren 30. September 1927) gediegen herausgegebene Band enthält als Beigabe die 1943 im Quadriga-Verlag Buenos Aires erschienene Gedenk-Schrift, um die es hier zunächst ausschließlich gehen sollte. Daviau ist beim Abfassen seiner biographischen Studie „Die Freundschaft zwischen Stefan Zweig und Paul Zech“ auch auf den halbwegs merkwürdigen Umstand gestoßen, dass Stefan Zweig in seiner berühmten und bis heute empfehlenswerten Lebensdarstellung „Die Welt von gestern“ den Namen seines langjährigen Freundes nicht ein einziges Mal erwähnt. Daviau versucht es mit einer noblen, aber unklugen Erklärung: „Zweig hat Zech in seiner Autobiographie … nicht erwähnt, weil er dieses Werk eher als Geschichte seiner Generation und nicht seines persönlichen Lebens betrachtete.“ Doch gehörte der am 19. Februar 1881 geborene Zech etwa nicht zur Generation des am 28. November 1881 geborenen Stefan Zweig, sie waren Jahrgangsgefährten und wenn die nicht zu einer Generation gehören, wer dann? Auch der Rückblick von Heinrich Mann „Ein Zeitalter wird besichtigt“ enthält den Namen Paul Zech kein einziges Mal, obwohl Mann 1918 den Kleist-Preis an Zech verlieh.
Selbst wenn man sonst nichts weiß, kann man an diesen wenigen Fakten schon ziemlich ratlos werden. Das wäre fortzusetzen: Laut WIKIPEDIA lernte Zech nach seiner Übersiedlung nach Berlin seinen dann langjährigen Brieffreund Franz Werfel kennen. Der Name Werfel taucht beispielsweise im Briefwechsel mit Stefan Zweig nur ein einziges Mal vollkommen beiläufig auf, dafür aber der Name Zech in der doch immerhin repräsentativen Werfel-Biographie von Norbert Abels gar nicht. Das deutsche Literaturarchiv Marbach verzeichnet einen einsamen Brief von Werfel an Zech vom 11. April 1919. Nennt man das langjährige Brieffreundschaft? Im Briefwechsel zwischen Zech und Zweig klaffen nicht nur auffallende Lücken, es fehlen auch Briefe, die es zweifellos gegeben hat. Der Herausgeber klärt in seinen Fußnoten regelmäßig auf, wenn nichts gefunden werden konnte und spricht deshalb auch der Gedenkschrift als einen Hauptwert den zu, dass in ihr aus verlorenen Briefen zitiert wird. Das soll in der Tat nicht unterschätzt werden. Wir wüssten von griechischen Vorsokratikern im Prinzip nichts, wenn wir nicht Werkfragmente von ihnen aus den Werken späterer Autoren überliefert gefunden hätten. Die Fragmente der Vorsokratiker aber gehören in ihren verschiedenen Ausgaben zu den Grundnahrungsmitteln jedes halbwegs vernünftigen Philosophiestudiums. Hat das bisweilen lange Schweigen Gründe in Zechs Lebenswandel?
Waren die kompromittierenden Fakten aus Zechs Leben doch schon früh wesentlich bekannter als all die irrenden Kurzbiographien oder Lexikon-Einträge vermuten lassen, die arglos allen Legenden folgten vom angeblichen Gymnasiumsbesuch, Studium, Doktortitel, von erfundenen Reisen, erfundenen Bekanntschaften? WIKIPEDIA legt Wert darauf, dass Zech keineswegs Bibliotheksrat gewesen sei, sondern nur Hilfsbibliothekar. Wenn das aber so war, ist unbegreiflich, wie der Direktor der Berliner Stadtbibliothek, Professor Gottlieb Fritz, einem Hilfsbibliothekar so enorm verantwortungsvolle Arbeitsbereiche übertragen durfte, dass Zech sie zu einem erschütternd umfangreichen Buchdiebstahl nutzen konnte? Am 26. Oktober 2007 publizierten Myriam Richter und Hans-Harald Müller in der Süddeutschen Zeitung den Beitrag „Verwirrung der Kataloge. Der Bücherdieb Paul Zech. Eine Nachforschung“. Nach der vorsichtigen Schätzung beider hat Zech mindestens 1200 Bände allein aus einer einzelnen Büchersammlung, der so genannten Pniower-Sammlung aus dem Nachlass des jüdischen Goethe- und Fontane-Experten Otto Pniower, geraubt. Pniower (23. Mai 1859 bis 17. März 1932) war einige Jahre Leiter des Märkischen Museums in Berlin. Waren manche Autographen, die Zech den Briefen zufolge seinem Freund Stefan Zweig besorgte oder versprach, eventuell Stücke aus ganz profanen Diebstählen? Liest man, wie halbherzig und ausweichend Zech Zweig seine Plagiatsaffären erklärt, wird man sehr nachdenklich.
Die auffallende, bis zur Schilderung eigener Tränen gehende Beschreibung der übergroßen Dankbarkeit Zechs für die treue Freundschaft Zweigs hat vielleicht ihre tiefste Erklärung darin, dass Zech eigentlich sicher war, diese treue Freundschaft nicht wirklich verdient zu haben. Denn Zech hat auch Stefan Zweig dreist belogen und sein Rückzug aus drohenden Rechtsstreitigkeiten mit angeblicher Rücksicht auf Zweig hatte vielleicht die tiefere Ursache im Wissen, dass der Streit vor Gericht verloren gehen würde. Heute wird die Zahl von 27 Plagiatsfällen genannt, Autoren legen den Schluss nahe, dass die vermeintlich kongenialen freien Übertragungen aus dem Französischen und Altfranzösischen, für die Zech fast berühmter ist als für seine ureigenen Werke, vielleicht weniger dem Genie als vielmehr tatsächlich schwacher Sprachkenntnis entwuchsen. Es scheint, dass Zech viel kürzer in französisch sprechenden Regionen des Kohlereviers tätig war und eben nicht die großen Dichter persönlich kennen lernte, als er behauptete oder mindestens nicht dementierte, wenn andere es behaupteten. Seine Villon-Nachdichtungen jedenfalls, das scheint sicher zu sein, hat Zech aus der Übertragung von K. L. Ammer (Pseudonym für Karl Anton Klammer, 13. Oktober 1879 bis 8. März 1959) gewonnen und selbst frei hinzugedichtet, so auch das durch den berühmt-berüchtigten Klaus Kinski höchst populär gemachte „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“.
Das am Ende sogar einer Kinski-Biographie den Titel lieferte. Zech lebt also hauptsächlich in einem Villon fort, der gar kein Villon ist, könnte man zugespitzt sagen, ohne der Sache zu nahe zu treten. Und wie lebt er nebensächlich fort? Die alte Bundesrepublik hat ihn, niemanden kann das überraschen, zunächst schlicht ignoriert wie viele andere deutsche Exilautoren auch. Man hielt es eher mit der „inneren Emigration“ und dabei besonders auffallend mit jenen unter ihnen, die nun die Weggegangenen sogar angriffen. In der DDR erschienen einige wenige Titel in den ersten fünfziger Jahren in jenem Greifenverlag zu Rudolstadt, der auch schon in den allerersten Jahren seiner Verlagsexistenz, die zunächst nur von 1919 bis 1930 dauerte, Zech-Bücher edierte. Der Briefwechsel-Band nennt für das Jahr 1924 zwei Titel, für die Jahre 1952 bis 1955 vier Titel. Erst nach sehr langer Pause besann sich der Greifenverlag abermals auf Zech, nun mit der Berufung auf Weltrechte, für die lange Pause habe ich keine Erklärung gefunden. Zwischendurch edierte Manfred Wolter in der Lyrik-Reihe des Aufbau-Verlages 1976 die Sammlung „Die Häuser haben Augen aufgetan“ und die bb-Reihe von Aufbau gab die „Kinder vom Parana“ neu heraus, die es 1952 schon in Rudolstadt gegeben hatte. In der siebenbändigen Reclam-Ausgabe „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil“ widmete Wolfgang Kießling Zech in Band 4 ein auffallend langes Kapitel.
Inzwischen ist auch eine fünfbändige Ausgabe „Ausgewählte Werke“ zu haben, 1998 bis 2001 im Shaker-Verlag erschienen, einem deutsch-holländischen Unternehmen mit überraschend moderaten Preisen, Herausgeber Bert Kasties, die auch bis dahin schwer oder gar nicht zugängliche Dramen und „Vermischte Schriften“ greifbar macht. Dennoch ist Paul Zech auch weiterhin ein vergessener Autor, denn noch die schönste Skandalgeschichte vom Bücherdieb oder vom Mann, der Frau und Kinder allein im Haus in Bestensee ließ, während er im doch so ungeliebten Berlin bei seiner Geliebten sein auch und vor allem ins Geld gehende Doppelleben führte, bringt ihm keine neuen Leser. Richard Dehmel, Else Lasker-Schüler und eben Stefan Zweig haben ihn geschätzt, Robert Musil hat Gedichte von ihm rezensiert, eine Unterschrift von Paul Zech steht neben der von Franz Kafka unter einem Brief an Kurt Wolff. Das alles ehrt, bringt ihm aber keine neuen Leser. Genau siebzig Jahre nach seinem Tod nach einem Herzanfall vor der eigenen Haustür in Buenos Aires, er wohnte bei einer Witwe und ihrem Sohn, wäre Scheinoptimismus bezüglich neuer Wirkungen, abzusehenden neuen Interesses, unangebracht. Seine Gedenkschrift für den Freund Stefan Zweig von 1943 zeigt ihn klug und nachdenklich, man würde ihm dennoch raten, nicht mit den eher dürftigen allgemeinen Erwägungen zu beginnen, sondern mit den handfesten Erinnerungen.
Auch hier noch eine handfeste Erinnerung. Frank Castorf, dessen Abgang von der Berliner Volksbühne 2017 von Feuilletons und ihren Zulieferern wie der Untergang des Abendlandes behandelt wird, verdankt seinen ersten in den Westen strahlenden Erfolg Paul Zech. Im III. Stock am Luxemburg-Platz gab es am 9. September 1988 die Premiere von „Das trunkene Schiff“, die Rolle des Verlaine, der auf Rimbaud schoss, spielte Henry Hübchen, das wurde in den mittleren Neunzigern dann sogar in Südamerika gezeigt. „Das trunkene Schiff“ soll in der Inszenierung von Erwin Piscator mit den Bühnen-Bildern von George Grosz nicht nur Zechs einziger nennenswerter Bühnenerfolg, sondern auch eine der prägendsten Inszenierungen der Weimarer Republik gewesen sein. Günther Rühle weiß es offenbar besser, denn er nennt den Zech nur ein Nebenprodukt von Piscator und schenkt ihm keine eigene Erörterung. Ich vertraue Rühle. Und lese verblüfft bei Sylvia Staude über eine Inszenierung im Schauspiel Frankfurt 2007: „Und darauf, das zuletzt farbige Statisten aufgeboten werden, um das Schiff Europa zu entern. Ein Ende, das wirkt wie angepappt.“ War Florian von Hoermann, der Regisseur, vielleicht gar kein Anpapper, sondern ein Weitseher, während die Anpapper heute die Theater bespielen, wo das Europa-Entern Alltag ist. Auf die Idee, einmal ein Stück von Stefan Zweig zu spielen, der hatte wirkliche Erfolge, kommt niemand mehr.
Paul Zech wollte sich von Stefan Zweig partout nicht einreden lassen, wir gut er es letztlich trotz allem in Südamerika habe und hatte genau deshalb dann sehr viel zu tun, sich und seinen Lesern den Freitod in Petropolis verstehbar zu machen. Ein Satz aus dem Nachwort vom Manfred Wolter (18. Februar 1938 bis 14. Oktober 1999) zu seiner 1976er Gedichtauswahl von Zech wirft ein erhellendes Licht auf die ersten Seiten der Gedenk-Schrift: „Sobald Weltanschauung ins Gedicht kommt, wird die Poesie Zechs fragwürdig, die Gegenstände werden klein und verschwimmen.“ Dies Verschwimmen kennzeichnet den Anfang der nur 35 Druckseiten, die gewollte Zeitkritik trifft nicht. Dann aber trifft er, als es um den gemeinsamen Selbstmord des Paares Zweig geht: „Man mäkelt an diesem Entschluss, der allein doch nur ihn angeht, herum und ruft die sogenannten Stützen von Moral und Gesellschaft zu Zeugen auf … Dieser Zeit gegenüber bestehen für uns keine anderen Verpflichtungen, als sie zum Teufel zu wünschen.“ Man könne die Toten sogar beneiden, meint Zech. Dann fallen die Namen Ernst Toller und Kurt Tucholsky. Zech hat nicht nur Oberflächen-Kenntnisse. Er zitiert Zweig aus 1938. „... man ist fassungslos über die Ohnmacht, die man plötzlich bei sich entdecken muss: nichts mehr tun zu können.“ Es fallen die Namen Walter Hasenclever und Ernst Weiß und Zweigs Satz über beide: „Sie verloren die Geduld.“
Hat man den kompletten Briefwechsel gelesen und zur Kenntnis genommen, dass Paul Zech in sehr spezieller Weise seinem eigenen Leben nicht gewachsen war, möchte man meinen, er wäre eher ein Kandidat für die Entscheidung gewesen, die dann sein Freund mit seiner Frau wählte. Man sieht aber auch die auffallende Umkehr im Verlauf der Jahre: Hatte zunächst Zweig dem neun Monate älteren Zech gegenüber den Ton des Mentors, der dem jungen Talent Mut machen müsse und deshalb dauernde Fortschritte bescheinigen, so wählte später Zech fast identische Wendungen, um Zweigs Werkfolge so zu deuten. Dabei begann der Briefwechsel, als beide fast dreißig Jahre alt waren. „Der Tod“, so Zech, „hatte für ihn nie die Bedeutung einer Endlichkeit; er sah ihn als ein Tor, das zu einem Seins-Zustand von Dauer führt“. Das Gedicht vom 4. Februar 1942, sechzehn Verszeilen, das Stefan Zweigs letztes war, nimmt die Gedenk-Schrift als Ausklang. Sechs dieser Zeilen seien auch hier als Ausklang genommen: „Reine Lust des Weltbetrachtens / kennt nur, wer nicht mehr begehrt.“ Und: „Niemals glänzt der Ausblick freier, / als im Glast des Scheidelichts. / Nie liebt man das Leben treuer, / als im Schatten des Verzichts.“ Das Grab Paul Zechs in Berlin-Friedenau, auch letzte Ruhestätte von Sohn Rudolf, der hier in seinem Klein-Verlag auch Bücher des Vaters publizierte, ist Ehrengrab der Stadt Berlin. Das hat trotz allem seine Richtigkeit.