H. G. Wells: Das Land der Blinden
Das Land der Blinden liegt in einem weltabgeschiedenen Tal der ekuadorianischen Anden, dessen Weltabgeschiedenheit durch eine Naturkatastrophe endgültig geworden ist. Die Blindheit ist wie eine Epidemie entstanden, ist erblich geworden und nach vierzehn Generationen hat sich das gesamte Leben, das praktische wie das geistige, auf die Blindheit eingestellt. Bestimmte mit dem Sehen zusammenhängende Worte sind aus der Sprache verschwunden oder gelten allenfalls noch als Leerformeln unter den Blinden. Die geistige Anpassung an die Situation haben die Blinden bis zum Ausbau einer eigenen Philosophie, eines eigenen Weltbildes, getrieben. Ein Zufall fügt es, dass ein Mensch aus der anderen Welt, mit Sehvermögen ausgerüstet, in das Land der Blinden gerät. Dieser Numez, spanischstämmiger Lateinamerikaner, erinnert allerdings mehr an einen echten Engländer, dem bei der Ankunft im fremden Land als erstes in den Sinn kommt, ob man nicht Beherrscher der Blinden werden kann. Das Sprichwort „Unter den Blinden ist der Einäugige König“ nährt diese seine Überlegungen noch.
Seine Eroberungspläne scheitern jedoch alle mehr oder minder kläglich, hinzu kommt, dass sein Ethos, immerhin etwas, Gewaltanwendung gegenüber Blinden verbietet. So lebt er unter den Blinden als ein aus der Art Geschlagener, den die Blinden für unterentwickelt halten. Das Misstrauen ihm gegenüber weicht milder Nachsicht. Er selbst erkennt, dass sein kostbarer Besitz, das Sehvermögen, ihm hier unter den Blinden nicht zum Vorteil gereicht, ja dass seine Erzählungen von den Segnungen des Sehens keinerlei wirkliche Sehnsüchte zu wecken vermögen. Fast ergeben findet er sich drein in sein neues Leben, bis er eine Frau findet, die ihn liebt und die er auch liebt. Einer Verbindung zwischen beiden steht nur sein Sehvermögen im Weg und er nimmt nach langer Unentschiedenheit den Ausweg einer Operation hin, die ihn blind machen und auf eine Stufe mit den anderen, vor allem seiner Zukünftigen, stellen soll. Kurz vor der Operation jedoch, überwältigt von der Schönheit des Blickes, der sich ihm bietet, als er das Tal betrachtet, flieht er. Vom Ausgang der Flucht berichtet die Erzählung nicht mehr.
Aus der Logik der Erzählsituation folgt, dass die Flucht erfolgreich gewesen sein muss (sonst hätte nie jemand die Geschichte erfahren können), die Geschichte selbst jedoch und die Art des Schlusses deuten auf das Gegenteil. Auch dieses Ende ist, die Position des unreflektierten allwissenden Erzählers vorausgesetzt, möglich. Allzu üppig hat Wells seine Phantasie nicht ins Kraut schießen lassen. Bedenkt man, was aus der einmaligen Idee möglicherweise zu machen gewesen wäre und man braucht hier gar nicht extra etwas erfinden, weil ein anderer Großer, Max Frisch, eine vergleichbare Vorstellung ja voll durchgespielt hat, dann erscheint die Geschichte doch alles in allem nicht als ganz großer Wurf. So scheint am Ende kaum mehr gemeint als eine Relation zwischen Liebe und Gesichtssinn. Der Held verzichtet auf die Liebe, diese Entscheidung wird der so genannte gesunde Menschenverstand vollauf akzeptieren, die Liebe hat dann allerdings im Vergleich zu ihrer traditionellen Stellung im Wertgefüge der Literatur eine Bedeutungsreduktion erfahren.
Man kann den Gedanken an Frischs Gantenbein allerdings auch dazu benutzen festzustellen, dass für Wells zum Zeitpunkt dieser Erzählung auch der geringste Gedanke an eventuelle Segnungen des Blindseins unvorstellbar war, dass also der Grad seiner Übereinstimmung mit der sichtbaren Welt noch sehr hoch war. Eine andere möglicherweise intendierte Idee ist die des Verhältnisses von homogener Gemeinschaft und andersartigem Einzelnen. Die Intoleranz der Blinden erscheint dann mit überraschender Selbstverständlichkeit. Die Überraschung des Heutigen über diese Tatsache wäre zu hinterfragen. Denn es ist der Standpunkt des sich irgendwie betroffen Fühlenden, der hier Überraschung empfindet. Der Gedanke, dass die wesenseigene menschliche Kollektivität am Anfang der Menschheitsentwicklung fundamentale Lebensbedingung war und eben dadurch ins Erbgut des Menschen, wenigstens in das soziale, eingegangen ist und somit außerhalb der Kontrolle durch das Bewusstsein das Verhalten bestimmt, könnte hier klärend wirken. In gewisser Weise ist die Situation der Blinden dem Anfang der Menschheit vergleichbar.
Der Anspruch der Blinden an den Fremdling, sich ihnen anzupassen und diese Anpassung eben auch physisch zu vollziehen, scheint also im höchsten Maße legitimiert. Und doch bleibt für uns eine emotionale Distanz, die mittels Einsicht nicht zu überbrücken ist. Eine nicht emotional totalisierte rationale Einsicht bedarf wahrscheinlich, um handlungsstimulierend zu werden, der zusätzlichen Begründung, das heißt, einer äußeren Motorisierung. Darüber kann man nachdenken. Bis hier reichen meine am 18. November 1980 beschriebenen Gedanken zum „Land der Blinden“ aus dem Jahr 1904 und ich finde 36 Jahre später nicht, dass sie der Behauptung eines Lexikon-Artikels widersprechen, derzufolge dies seine bekannteste Geschichte ist. Barbara Korte schrieb, sie „ironisiert im Szenario einer verlorenen Zivilisation das Sprichwort, im Land der Blinden sei der Einäugige König“. Das nehme ich als einäugiges, nicht als blindes Urteil. In Kenntnis der Darstellung von John Carey (Jahrgang 1934) in seinem „Hass auf die Massen“ (Steidl 1996) freilich bekenne ich Verblüffung über die schreiende Oberflächlichkeit im ZEIT-Lexikon zu H. G. Wells.
Die schiere Masse dessen, was der am 21. September 1866 in Bromley/Grafschaft Kent geborene Wells an gedruckten Büchern hinterlassen hat, macht freilich mehr oder minder große Kenntnislücken verzeihlich, hinzu kommen nationale Rezeptionsbesonderheiten, auf die schon Sieglinde Mierau in ihrer Nachbemerkung 1978 aufmerksam machte. Demnach hat sich deutsche Rezeption ganzheitliche Betrachtung selbst versagt: „ In Deutschland haben sich weniger die Schriftsteller als vielmehr die Sozial-, Geschichts-, Religionswissenschaftler und Pädagogen auf Wells gestürzt. Entsprechend stehen seine Weltanschauung, Geschichtsschreibung und seine Erziehungsprogramme im Vordergrund und wird er als Fachmann kritisiert oder als Pseudofachmann verdammt.“ Auf die ganz offenbar extrem irritierenden Ansichten von Wells zum Thema Bevölkerungsexplosion, zum Umgang mit „Minderwertigkeit“, ich las Carey geradezu mit stockendem Atem, geht außer Carey offenbar niemand ein. Nach Barbara Korte spekulierte Wells in den einschlägigen Büchern der Jahre 1901 bis 1905 „bereits Anfang des 20. Jahrhunderts über zukünftige Entwicklungen der menschlichen Spezies und Gesellschaft.“
John Carey zitiert aus „Anticipations“ (1901): „Die neue Ethik wird das Leben als ein Privileg und eine Verantwortung betrachten, nicht als eine Art Nachtasyl für minderwertige, elende Geschöpfe … Für eine breite Masse verächtlicher und geistesschwacher Kreaturen … werden die Menschen der Neuen Republik wenig Mitleid und noch weniger Mildtätigkeit aufbringen.“ Man kann, was Wells entwickelt, umstandslos eine Theorie der Vernichtung unwerten Lebens nennen. Carey führt eine lange Reihe von Belegen an, in denen Wells seinen Grundgedanken von fortschrittsfeindlicher Ausbreitung bestimmter Menschensorten, um nicht -rassen zu sagen, entfaltet und ausmalt. Wenn es stimmt, dass Wells es war, der den Begriff „Menschen des Abgrunds“ einführte, wie John Carey behauptet, stellt sich sofort die Frage, wieso das niemandem, der sich mit Jack Londons „Menschen des Abgrunds“ befasste, je auffiel, jedenfalls ist mir der Name Wells in London-Zusammenhängen noch nie untergekommen, obwohl es durchaus weitere auffallende Phänomene gäbe. Auch bei Wells rottet ein „Roter Tod“ Menschenmassen aus wie bei Jack London. Auch Wells geht in einem seiner Bücher in die Vorzeit weit zurück wie Jack London in „Vor Adams Zeiten“.
Wells hat seine eigenen frühen Erzählungen, wie sie in der Leipziger Reclam-Ausgabe „Das Kristallei“ versammelt sind, später nicht gelten lassen wollen. Die Ausgabe bleibt dennoch in sich in jeder Hinsicht vorbildlich, sie versammelt ein wunderbares Zusatzmaterial, liefert Biographie in einer sonst vollkommen unüblichen Ausführlichkeit und die Herausgeberin selbst benutzt eine Formulierung, deren Sprengkraft nur versteht, wer mit der Geistesgeschichte der DDR mehr als nur oberflächlich vertraut ist: „sein ganzer späterer teilweise deprimierender Optimismus“ schreibt sie. Das in einem Staat, in dem Optimismus geradezu Doktrin war, in dem Geschichtspessimismus als Vorwurf der klassischen katholischen Ex-Kommunikation glich. Wie armselig dagegen die seltsame Leser-Verachtung im Nachwort zur DDR-Ausgabe von „Die Zeitmaschine“, wo der Autor Waldemar Seidel mitteilte: „1927 schrieb er den ersten antifaschistischen Roman in Westeuropa, warnte vor den Brandstiftern eines neuen Krieges.“ Wie aber hieß dieser Roman? Warum hat die antifaschistische DDR ihn nicht eilfertig veröffentlicht? Es muss „Meanwhile: The Picture of a Lady“ gewesen sein, der Roman zog ein Einreiseverbot für Italien nach sich.
Waldemar Seidel machte in seinem Nachwort aus dem Positivisten Herbert Spencer (27. April 1820 bis 8. Dezember 1903) einen Henry Spencer und niemand im Verlag Das Neue Berlin merkte es. Herbert Spencer aber wäre ein weiterer Bezugspunkt zwischen H. G. Wells und Jack London, dessen vorgeblich sozialistisches Weltbild mehr mit Darwin und eben Spencer zu tun hatte wie auch das vorgeblich sozialistische Weltbild von Wells, der zwar Lenin hoch schätzte und sogar persönlich traf, mit Marx aber wenig bis nichts anfangen konnte. Sieglinde Mierau sprach bezüglich der kurzen Geschichten von „Erkenntnismärchen“, das Wort Extrapolation ist bezüglich des Verfahrens benutzt worden, das der Autor anwendet. Weil er wie kaum ein anderer in der Lage war, schon früheste Entwicklungskeime nicht nur weiter, sondern bisweilen bis zum bittere Ende weiter zu denken. Das ergibt dann, was manche negative Utopie nennen, Dystopie habe ich auch gelesen, nicht Uchronie. Zu Ende denken als Verfahren macht nur Sinn, wenn es ergebnisoffen geschieht, wie man das modisch nennt. Das Ergebnis kann bisweilen auch ein Schlag ins eigene Gesicht sein.