Anna Louisa Karsch (1722 - 1791)

Die berühmte Marie Sophie von La Roche (6. Dezember 1731 – 8. Februar 1807) hat in ihrem dreiteiligen Roman „Erscheinungen am See Oneida“, 1798 zuerst erschienen und neuerdings in gleich drei verschiedenen Ausgaben wieder zu haben, dazu längst auch digitalisiert, einen kleinen bezeichnenden Nebensatz niedergeschrieben: „... doch tief, sehr tief hat der Kummer, wie unsere Karschin sagte, mit diamantnem Pfluge Furchen in sein Herz gegraben.“ Nun muss man das Bild vom diamantenen Pfluge nicht zwingend für besonders gelungen halten, man sollte sich jedoch tunlichst eines vorschnellen Urteils enthalten. Denn „unsere Karschin“, das war Anna Louisa Karsch, geboren am 1. Dezember 1722, gestorben am 12. Oktober 1791. Andere zitierten, wenn sie es denn für nötig hielten, die alten Griechen, die alten Lateiner, die La Roche aber hatte einen Vergleich einer fast auf den Tag neun Jahre älteren Dichterin im Ohr und zur Hand und nutzte ihn nach. Der besondere Ruhm, der sich mit diesem Namen verband, hat seine für mich schönste und zugleich prominenteste Würdigung von einem Manne erfahren, der nun wirklich niemandem vorgestellt werden muss, vom Düsseldorfer Heinrich Heine. Das mag überraschen.

In Heinrich Heines sicher bekanntestem, wenngleich durch seine Dienste im Schulunterricht nicht beliebtesten Werk „Deutschland. Ein Wintermärchen“ kommuniziert der Dichter, man erinnert sich umgehend, im Traum mit dem rothaarigen Kaiser Barbarossa, der von der Oberwelt angeblich seit dem siebenjährigen Krieg nichts mehr erfahren hat und nun total neugierig ist. In „Caput XVI“ stehen dann die Verse: „Er frug nach Moses Mendelssohn, / Nach der Karschin, mit Intresse / Frug er nach Gräfin Dubarry, / Des fünfzehnten Ludwigs Mätresse.“ Und Heine ist auskunftsbereit: „Die alte Karschin ist gleichfalls tot, / Auch die Tochter ist tot, die Klenke, / Helmine Chézy, die Enkelin, / Ist noch am Leben, ich denke.“ Kaum nötig zu sagen, dass genau das einem Heine keiner nachmacht und ganz nebenher hat er die in der männlichen und noch mehr in der weiblichen Literaturgeschichte höchst seltene Konstellation benannt, dass Großmutter Anna Louisa in weiblicher Erbfolge zwei weitere Dichterinnen folgten, die Tochter und die Enkelin. Während Tochter Caroline Louise von Klencke (21. Juni 1754 bis 1802, näheres Datum offenbar unbekannt) weithin unbekannt blieb, brachte es Enkelin Wilhelmine als Helmina von Chézy zu eigenem Ruhm.

Helmina von Chézy (26. Januar 1783 – 28. Januar 1856) verdanken wir ein erstes ausführliches Lebensbild ihrer Großmutter Anna Louisa, sie ist Teil ihrer späten zweiten Autobiographie, „Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben“, Leipzig Brockhaus 1858, also zwei Jahre nach ihrem Tod erschienen. Sie hat auch mit dem Untertitel „Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina“ das Buch ihrer Mutter Caroline „Leben und romantische Dichtungen der Tochter der Karschin“ drucken lassen, das schon im Titel auf den Ruhm der Mutter spekuliert und natürlich am Bild der Mutter aus ihrer Sicht arbeitet. Heinrich Heine waren übrigens auch Anekdoten vertraut, die bezeichnendes Licht auf die Karschin werfen. An August Lewald (14. Oktober 1792 – 10. März 1871) adressierte er 1837 die Briefe, die den Titel „Über die französische Bühne“ bekamen und dort steht an einer Stelle über Friedrich II.: „Hat er nicht dem Gellert einen Schimmel und der Madame Karschin fünf Taler geschenkt? Hat er nicht, um die deutsche Literatur zu fördern, seine eignen schlechten Gedichte in französischer Sprache geschrieben?“ Er hat und er hat die emphatische Dichterin seines frühen Soldatenruhms damit erheblich beleidigt.

Denn nach ihrer Rückkehr aus Magdeburg im Oktober 1762 versprach er ihr während einer Audienz im August 1763 nicht nur ein Haus, sondern auch eine Pension auf Lebenszeit und beides hätte sie sehr gut brauchen können. Das mit dem Haus klappte erst zwei Jahre vor ihrem Tod, Friedrich Wilhelm II. ließ es ihr 1789 bauen, der „Alte Fritz“ aber, der sich nicht an seine Zusagen hielt, versuchte es stattdessen mit königlich-preußischem Humor: „Im Scherz schickte er ihr einmal zwei Taler, um die lästige Bittstellerin – der nur geringe Einnahmen aus ihrer Dichtung zuflossen – loszuwerden. Selbstbewusst und unerschrocken schickte sie dem Monarchen aber das Geschenk mit einer gereimten Antwort zurück.“ Die Verse lauteten: „Zwei Taler gibt kein großer König; / Ein solch' Geschenk vergrößert nicht mein Glück - / Nein, es erniedrigt mich ein wenig, / Drum geb' ich es zurück.“ Ich habe dies Zitat aus dem DDR-Standard-Werk „Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur“, 6. Auflage 1977, entnommen, auch um zu zeigen, welche Tendenz die Karsch-Rezeption damals nahm. Mut vor Königen war klassenkampfgenehm und außerdem galt sie als Naturtalent aus dem Volk, Goethe und Herder lieferten über zwei Seiten passgerechte Zitate dazu.

Überhaupt Goethe. An ihn hatte Anna Louisa Karsch 1775 einen Brief geschrieben, der leider nicht erhalten ist, wohl aber Goethes Antwort, an der er vom 17. bis zum 28. August 1775 schrieb. Es war also sein 26. Geburtstag, an dem er ihn beendete. Er sei hier in voller Länge zitiert und auch in originaler Schreibweise: „Ich treibe mich auf dem Land herum, liebe Frau um das Leid und Freund was eben Gott iungen Herzen zu ihrem Theil geben hat, in freyer Luft zu genießen. Neulich lief ich einmal in die Stadt, und Criesbach brachte mir Ihren Brief. Es machte mir herzliche Freude dass Sie Ihre Feder so an mich lauffen liesen, und nun für Ihre Grüse und Freundlichkeit meinen Danck. Ich wollte dass mir Ihre Tochter auch schrieb wie und wenns ihr einkömmt, denn kein Spiegel ist das der Eitelkeit, was ein Brief, der von wunderbaaren Verhältnissen gedrängten Seele, ist, wenn sie drinn gleiche Stimmung horcht, und müde des ewigen Solo, mit Freuden pausirt, und dem freundlichen Mitspieler neue Wonne ablauscht.“ Goethe bekommt, wen wundert das, gern huldigende Briefe, weshalb er gewissermaßen mit dem Zaunpfahl winkt, auch Tochter Caroline, die 1775 ja immerhin schon 21 Jahre alt war, möge ihm schreiben, „wenns ihr einkömmt.“

Wir haben von Caroline eine hübsche Beschreibung des Goethe-Besuchs bei Mutter und Tochter in Berlin im Jahr 1778, doch vorerst weiter im drei Jahre älteren Goethe-Brief: „Schicken Sie mir doch auch manchmal was aus dem Stegreife, mir ist alles lieb und werth was treu und starck aus dem Herzen kommt, mag's übrigens aussehn wie ein Igel oder wie ein Amor. Geschrieben hab ich allerley gewissermaßen wenig und im Grunde nichts. Wir schöpfen den Schaum von dem grosen Strome der Menscheit mit unsern Kielen und bilden uns ein, wenigstens schwimmende Inseln gefangen zu haben. Von meiner Reise in die Schweiz hat die ganze Cirkulation meiner kleinen Individualität viel gewonnen. Vielleicht peitscht mich bald die unsichtbaare Geisel der Eumeniden wieder aus meinem Vaterland, wahrscheinlich nicht nordwärts, ob ich gleich gern Lot und seine Hausgenossen in euerm Sodom wohl einmal grüsen möchte. Addio. Offenbach am Mayn. d. 17. Aug.“ In Offenbach war er also zwischenzeitlich und schrieb dort, die erste Schweiz-Reise vom 14. Mai bis 22. Juli 1775 noch frisch im Gedächtnis und offensichtlich zu weiteren Reisen animiert. Berlin mit Sodom in Verbindung zu bringen, bereitete Goethe offenbar großes Vergnügen.

Der Rest seines Briefes geht so: „Die Aufgabe von der Männer Schlappsinn unter gewissen Umständen, kann und darf ich heut nicht erörtern. Die Ursachen liegen in dem Schreibtisch hier, dem Caffee Tisch dort, und der Figur dran im Neglichee, die mir den Rücken kehrt und ihr Frühstück schlürpft. - Heiliger Yorick, wolltest du aus deinen Himmeln herüber sehen, und der guten Karschin die vernünftig herzliche Stimmung dieses Unsinns vorträumen denn du allein hättest Kopf und Herz dazu. - - - Nur eine klassische Stelle zur Erörterung: Les gens amoureux, sagt die superkluge Gemahlinn des unvergleichlichen Schah Bahams, ne dorment gueres, a moins qu'ils ne soi[en]t favorisés. Biss den 28. Aug. ist dieses Brieflein liegen blieben. Nun noch einen guten Morgen und Adieu. Franckurt. G.“ Als Goethe dann mit seinem Herzog die Dienstreise über Leipzig, Wörlitz, Potsdam gen Berlin antrat, diese Reise dauerte vom 10. Mai bis zum 1. Juni 1778, der Berlin-Aufenthalt nahm dabei fünf Tage in Anspruch vom 15. bis 20. Mai, klopfte er am 18. Mai an die Tür von Mutter und Tochter Karsch, was Caroline auf ihre Art dem Dichter Johann Ludwig Wilhelm Gleim (2. April 1719 – 18. Februar 1803) mitteilte im Brief vom 27. Mai 1778.

„Wenn Sie ihn hätten kommen sehen, unerwartet in unsre Tür treten, mit den Augen meine Mutter suchen, mit seinen Augen! Ach, unaussprechlich reizend war die Szene. So kommt nur reuige Liebe zu Liebe … Das weiß ich, dass in seinen großen hellen Augen der ganze Goethe strahlte. Nicht der flammende, zugreifende, ungenügsame Goethe! Der, welcher Lotten Brot schneiden sah, der war's ohngefähr; nur dass sein Mund stumm blieb und Goethe stumm blieb beim Eintritt, beim Umarmen und einiger Wendung bis zum Sitze, da denn meine Mutter die erste Frage an ihn tat. Ich hätte gar zu gern die Hand auf seine liebe Brust gelegt, ob nur sein Herz auch das geschlagen hätte, was sein seraphgleiches Stummsein verkündigte. Aber der Mensch wirft soviel Respekt aus seinen Augen, dass ich mich kaum traute, in seiner Gegenwart zubleiben. Ich musste ein paarmal hinaus, lief aber geschwind wieder hinein.“ Karoline, zu diesem Zeitpunkt verheiratete Hempel, hatte ihren „Werther“ genau gelesen und mit der treffenden Stelle auch parat. Worüber Mutter und Gast redeten, hat sie jedoch dem Mann in Halberstadt nicht mitgeteilt. Dazu sind wir auf die Mutter angewiesen, die am gleichen Tag an Gleim schrieb, vielleicht sogar abgestimmt mit der Tochter.

Anna Louisa Karsch schreibt: „Ich frug ihn, ob er nicht auch das Vergnügen kosten wollte, Vater zu sein; er schien's nicht weit von sich zu werfen. Er ist ein großer Kinderfreund, und eben dieser Zug lässt mich hoffen, dass er auch ein guter Ehemann werden wird … Ich gab ihm ein paar frische Rosen, und geschwind hub er einen Strohhalm von der Erd auf, band damit die Rosen zusammen und steckte sie auf den Hut. Er liebt die freimütigen, offenherzigen Leute und mag's gern haben, wenn er geliebt wird. Das gefällt ihm besser als hohes Lob.“ Zum Vater-Werden kam Goethe doch erst nach seiner Rückkehr aus Italien. Als Sohn Julius August Walther von Goethe (25. Dezember 1789 – 27. Oktober 1830) geboren wurde, lebte die Karschin noch im fernen,von Goethe nie wieder besuchten Berlin. 1778 bekam auch Charlotte von Stein eine Nachricht über sie von Goethes Hand, schon von der Rückreise: „Dessau Sonntag d. 24. Endlich kann ich Ihnen die Zettelgen schicken und Ihnen sagen dass ich Sie immer lieb habe, mich wieder nach Hause sehne obgleich auch in der weiten Welt alles nach Wunsch geht. Hier haben Sie auch wie mich die Karschin beverset hat. In Leipzig werd ich Ihre Briefe wohl nicht abholen, wir gehn über Alstädt nach hause.“

Der Schweizer Johann Georg Sulzer (16. Oktober 1720 – 27. Februar 1779) war es, der eine erste Sammlung mit Karschin-Dichtungen veranstaltete. Briefe an ihn konstituieren etwas wie eine Autobiographie der Dichterin, und waren die Grundlage für Sulzers Vorwort. Geholfen hat es wenig, die Kritiken waren alles in allem vernichtend. Und diesen Grundtenor haben spätere Kritiker beibehalten. In schöner Regelmäßigkeit erschien ihnen die Autodidaktin, die ihre großen Erfolge vor allem in den Berliner Salons als Stehgreifdichterin feierte, also so etwas wie eine frühe Poetry-Slammerin war, als eine Art Vorläuferin der Friederike Kempner, was ihr nun wirklich nicht gerecht wird. Ob man tatsächlich, wie Alfred Anger meinte, er gab 1987 in Stuttgart „Gedichte und Lebenszeugnisse“ der Karschin heraus, zwischen Gelegenheits- und Erlebnisdichtung im Goetheschen Sinne unterscheiden muss, um die Leistung der Dichterin gerecht zu würdigen, will ich weder pauschal bezweifeln noch einfach unterstreichen. Gern merke ich aber an, dass Anger als Lexikon-Autor für den Killy (Literaturlexikon) wie selbstverständlich die DDR-Ausgabe der Reihe „Märkischer Dichtergarten“ (1981), von Gerhard Wolf betreut, nicht zur Kenntnis genommen hat.

Alfred Anger nennt Anna Louisa Karsch die beste deutsche Briefschreiberin des 18. Jahrhunderts, das ist nicht wenig. Ihren Liebesgedichten an den reichlich dreieinhalb Jahre älteren Gleim attestiert er eine „Unmittelbarkeit und Wahrheit, die man bis 1770 wohl vergeblich in der deutschen Literatur suchen wird.“ Ein wenig macht das die lapidare Feststellung verständlich, die Christian Daniel Friedrich Schubart hinterließ, der zwei Tage vor ihr am 10.Oktober 1791 starb, geboren am 24. März 1739: „Meine Lieblinge, die ich fast niemals weglegte, waren Klopstok, Bodmer, Ossian, Shakespear, Geßner, Young, Gerstenberg, Gleim als Grenadier, Uz und Karschin; die übrigen Dichter las ich wohl alle, aber sie würkten nicht so allgewaltig auf mich, wie die genannten.“ Schubart übrigens ließ in Briefen wiederholt die Karschin im gleichen Atemzug mit einem gewissen Himburg grüßen, wollte sogar ihr Runzeln küssen. Himburg aber war jener Berliner Verleger Christian Friedrich Himburg (1733 – 1801), der einen Raubdruck von Goethes „Werther“ mit Stichen von Chodowiecki veranstaltete, der buchhändlerisch mehr Erfolg hatte, als die Originalausgabe, was Goethe maßlos ärgerte. Das wäre aber eine ganz andere Geschichte.


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