Peter Weiss: Der Turm

Das Lachen befällt mich sofort wieder, wenn ich zu Hans-Werner Richters Buch „Im Etablissement der Schmetterlinge“ greife und den Beitrag zu Peter Weiss überfliege, Titel „Marats Trommel“. Richter erzählt dort von einem Urlaub in Bibione. Weiss sei mit einem dicken Buch unterm Arm zum Strand gekommen, Band 1 des „Kapital“ von Karl Marx. „Wie wollte er hier in der brütenden Sonne Karl Marx und dann noch ausgerechnet das Kapital lesen.“ Ich besann mich auf meine eigene „Kapital“-Lektüre“ in der vorlesungsfreien Zeit zwischen erstem und zweitem Semester. Hier die Aufgabe: vollständige Lektüre des ersten Bandes, dazu, um nicht allzu viel Langeweile aufkommen zu lassen: vollständige Lektüre von „Materialismus und Empiriokritizismus“ von Lenin inklusive Konspekt. Freilich waren das Januar- und Februarwochen 1976, im eiskalten Thüringen, weit und breit kein Sandstrand, keine Nähe von Triest oder gar Venedig. Am 26. September 1996 las ich zuletzt, dass auch Richter einen abgebrochenen Versuch am „Kapital“ aufweisen konnte, er sei nie über Seite 50 hinausgekommen. Nach drei Tagen jedenfalls soll Peter Weiss schon die Seite 10 erreicht gehabt haben. Hatten unsere ideologischen Klassenkämpfer doch recht, wenn sie den „Marxisten“ des Westens ein grundsätzliches Misstrauen entgegen trugen? Dies Lachen befreit.

Befreit von der Ehrfurcht, die einen bisweilen doch befällt, wenn man diesem oder jenem großen Namen und seiner vermeintlichen Beschäftigung mit diesem oder jenem Thema konfrontiert wird. Im Schnitt sind die Damen und Herren bisweilen sogar erschütternd ahnungslos, sie sind Autodidakten, den Zufällen ihres Lebens ausgeliefert, davon, welches Buch auf genau der Toilette zufällig liegen blieb, auf der sie das Fehlen von Klopapier erschreckt registrierten. Diese Ahnungslosigkeit wird nur dann zum Ärgernis, wenn sich die nämlichen Damen und Herren irgendwann als Experten, beispielsweise Marxisten, feiern oder beschimpfen lassen, obwohl jede SED-Friseuse in der Kreisparteischule Limbach-Oberfrohna mehr Marx original las als diese Schlaumeier/innen. Wahrscheinlich hätte es die Mehrzahl aller Versuche, Marx mit diesem oder jenem zu „versöhnen“, zu „ergänzen“, „weiterzuentwickeln“ nie gegeben, hätte in sehr vielen klugen Köpfen nicht dieser wilde Lese-Eklektizismus gewütet. Glauben wir also erst einmal Hans Werner Richter, wenn er behauptet: „Peter Weiss glaubte, Marxist zu sein, aber seine theoretischen Kenntnisse waren verhältnismäßig gering.“ Es sei wiederholt, dass ich dies keineswegs als Schande sehe bei Dichtern/Schriftstellern, sehr wohl aber bei vielen Frühschrift-Beseelten des Westens.

Peter Roos, 1950 in Ludwigshafen geboren, hat für sein erstes Buch „Genius loci. Gespräche über Literatur und Tübingen“ auch Peter Weiss interviewt, der von seinen frühen Monaten in Tübingen sprach. Weiss wohnte bei der Schwester seiner Mutter, die mit dem Juristen Eugen Autenrieth (6. Januar 1877 – 17. September 1933) verheiratet war, der wiederum ein direkter Nachfahre war von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (20. Oktober 1772 – 2. Mai 1835). Weiss hatte Blick zum Hölderlinturm und Autenrieth war jener Arzt, in dessen Universitätsklinikum der Dichter vom 15. September 1806 bis zum 3. Mai 1807 stationär und erfolglos behandelt wurde. Im Turm lebte Hölderlin dann noch 36 lange Jahre. Für Peter Weiss aber war ein Turmeindruck entstanden, den er jetzt, 1978, zur Zeit des Interviews, auch Peter Roos gegenüber nicht ausblenden mochte. Roos fragte: „Wie kommen Überlagerungen zustande: das Motiv des Turms als Metapher für psychische und politisch-gesellschaftliche Zustände?“ Und: „Ist dieser Turm in ihrem Werk nicht ein ambivalentes Symbol: in der Innenperspektive einmal für repressive gesellschaftliche Ordnungs- und Norm-Verhältnisse, aber auch Schutz und Nestwärme – Heimat also im bürgerlichen Sinn?“ Weiss wollte antwortend vor allem die gesellschaftliche Isoliertheit gelten lassen für seinen Turm.

Und bezog sein frühes Bühnenwerk „Der Turm“ ausdrücklich mit ein. Das 1949 in Schweden erstmals inszeniert wurde und Deutschland erst 1962 erreichte, als Hörspiel. Der Hessische Rundfunk (und vielleicht auch andere Sender) nehmen den hundertsten Geburtstag von Peter Weiss am heutigen 8. November zum Anlass, das 54 Jahre alte Original (Regie Walter Knaus) neu auszustrahlen, den Pablo sprach Hartmut Reck (17. November 1932 – 30. Januar 2001). Die genaue Sendezeit: Morgen, 9. November, 21 Uhr, hr2-kultur. Die berühmte Lola Müthel (9. März 1919 – 11. Dezember 2011) sprach die kleine Rolle der Dompteuse. Und Peter Weiss selbst verfasste zu Glück und Unglück seiner Interpreten einen „Prolog zum Hörspiel“. Genau dieser Prolog aber hat dann in unterschiedlichem Maße eigenes Nachdenken der „Turm“-Deuter be- und verhindert. Zum Beispiel steht dort: „Pablo tritt ein unter dem Namen Niente. Damit ist gesagt, dass er ein Nichts ist.“ Nein, das ist damit keineswegs gesagt. Oder was besagte es dann, wenn ein Herr Müller eintritt oder gar ein Herr Krautwurst? Weiss müsste für sich das Prinzip der „sprechenden“ Namen reklamieren und hätte damit schon erste Missbilligung gewonnen, denn so oft dies wunderbare Effekte zeitigte in der Literaturgeschichte, so oft ging es auch einfach nur in die Hose.

Die sprechenden Namen bei Gogol etwa oder anderen Russen des 19. Jahrhunderts (und danach) offenbaren sich ja eben nur denen, die des Russischen mächtig sind, sonst bleiben sie oft einfach nur unaussprechlich. Niente ist im Italienischen nichts, das ist schon wahr, aber beim Namen Pablo neigt man doch eher zum Spanischen als zum Italienischen, oder? Den letzten Satz des Prologes haben alle zitiert: „Erst wenn er sich aus dem Turm befreit, gewinnt er sich selbst, gewinnt er seinen eigenen Namen.“ Im Stück gewinnt er freilich nichts dergleichen. Soll das gar andeuten, dass er sich gar nicht wirklich befreit hat? Warum hätte das dann wiederum niemand bemerkt? Peter Demetz, der am 21. Oktober seinen 94. Geburtstag begehen konnte, beispielsweise ist der Meinung, dass Pablo am Ende von „Der Turm“ tot ist, er begründet das nicht weiter, er schreibt es einfach. Und denen wiederum, die von Demetz Kenntnis genommen haben, angeblich, ist wiederum nicht aufgefallen, dass der dort, wo sie selbst Sieg und Befreiung sehen, Tod sah. Normalerweise gibt das unter Brüdern (und Schwestern) mindestens eine fragende Fußnote. Tatsächlich ist der Text so angelegt, dass es eben keine eindeutige Situation gibt, es ist im Gegenteil zu gleich vier Personen in direkter Folge gesagt (und gedruckt): ertrinkend. Wie aber ertrinkt man in einem Turm?

Pablo fragt direkt nach den vier Ertrinkenden: „Der Turm – wo ist der Turm -“, es sind seine letzten Worte, im Stück auf alle Fälle. Es folgt Regietext: „Noch einmal schwillt das große Dröhnen an. Dann Stille.“ Eine Stimme, im Hessischen Rundfunk gesprochen von Hans Caninenberg, da sogar „Stimme der Freiheit“ genannt, sagt: „Der Strick hängt von ihm herab wie ein Nabelstrang“. Auch dies ist, wenn man sich den zuvor von oben bis unten vom nämlichen Strick gefesselten und eingeschnürten Pablo nur kurz vorzustellen versucht, gerade sehr schwer vorstellbar. Das Bild ist schräg, Herr Dichter, müsste man sagen, wenngleich es diverse Assoziationen möglich macht, die dann auch prompt in der Literatur zu finden sind. Wie auch immer, ausgerechnet Schultheater haben den „Turm“ interessant genug gefunden für eine Inszenierung. Ich weiß von wenigstens zweien: in der Freien Waldorfschule Cuxhaven 2012 und im Oekumenischen Gymnasium Bremen. Sonst gehört Weiss schon lange nicht mehr zum gängigen Repertoire der deutschsprachigen Theater, was den Thüringer Weiss-Biografen Jens-Fietje Dwars in seinem 2007 erschienenen Buch „Und dennoch Hoffnung“ gleich eingangs resümieren ließ: „In den vergangenen fünfzehn Jahren der „Wiedervereinigung“ war kein deutscher Autor von Rang weniger präsent als Peter Weiss.“

2007 meldete sich zu diesem Buch Marius Fränzel zu Wort, der den lesenswerten Literatur-Blog „Bonaventura. Lektüren eines Nachtwächters“ betreibt und urteilte herb: „Alles, was Dwars schreibt, ist brav, richtig und fleißig. Aber es wird Peter Weiss und sein Werk nicht retten ...“. Dwars konterte, dass das auch keineswegs seine Absicht gewesen sei. Für mich ist dabei wichtig, dass Fränzel dem „Turm“ Chancen auf eine Wiedererweckung einräumt, „von dem mir bis heute unbegreiflich ist, warum er nicht viel bekannter ist“. Das ist nicht so unbegreiflich, wie es scheint. Nach der Hörspielaufführung 1962 dauerte es bis Dezember 1967, dass das Stück auf einer deutschsprachigen Bühne gespielt wurde, in Wien im Theater am Belvedere. Da aber waren bereits die großen Stücke von Weiss in aller Munde und es gab wenig Grund, in seinen Anfängen zu gründeln, zumal die der abgelegten Mode des absurden Theater zuzugehören schienen. Fränzels Behauptung von 2007 ist durchaus apodiktisch: „Weiss wird vergessen bleiben aus denselben Gründen, warum er berühmt geworden ist: Weil man ihn nicht verstanden hat! Vielleicht sogar, weil er sich selbst so schlecht verstanden hat.“ Das ist alles andere als eine nur kuriose Arbeitshypothese, der ich hier freilich weder folgen kann noch will. Es soll um den „Turm“ gehen.

„Der Turm“ von Peter Weiss hat das Pech, dass es auch „Der Turm“ von Hugo von Hofmannsthal gibt. Auf der Suche nach dem Bedeutungsfeld einer Metapher/Allegorie/Parabel stürzt sich der ehrlich habilitierte Germanist, der über eine enzyklopädisch fundierte Parallelstellen-Witterung verfügen muss, wenn er seine Beiträge für Fachorgane, Sammelbände und Kongresse verfassen will, auf solche Titelparallelen. Man kann über Hofmannsthals „Turm“, letzte Fassung von 1927, so weit ich sehe, schon allerhand schreiben, ohne noch ein Wort über Peter Weiss verlieren zu müssen, von dem bis zum Ende des entsprechenden Beitrags nicht klar wird, ob er überhaupt je vom anderen „Turm“ Kenntnis genommen hat. Selbst wenn es so war, wäre immer noch zu unterstellen, dass er einen Ehrgeiz entwickelte, einen ganz anderen „Turm“ zu schreiben. Man findet in der Literatur aber auch Vergleichshinweise auf William Butler Yeats und das, weil es von dem ein Gedicht „The Tower“ gibt, das einem ganzen Gedichtband den Bandtitel lieferte. Ob der in Schweden damals noch schwedisch schreibende Weiss das englischsprachige Gedicht von 1928 kannte und „produktiv“ verarbeitete, will ich keineswegs der Forschungsmühe für wert erklären. Uwe Tellkamps „Der Turm“ wäre nun seinerseits auf Weiss-/Hofmannsthal-Bezüge abzugrasen nach dieser Logik.

Pablo ist unter dem Namen Niente, den er selbst angibt, in den Turm zurückgekehrt, aus dem er schon einmal, vielleicht sogar zweimal, floh. Im Turm lebt eine geschlossene Gesellschaft von Zirkus- oder Varieté-Künstlern mit hierarchischer Struktur. Da gibt es einen Direktor, eine Verwalterin und einen Zauberer. Von letzterem behauptet der nun schon mehrfach zitierte Prolog: „Der Zauberer, scheinbar beschäftigungslos, ist die stärkste Macht des Turm.“ Der Text gibt das so klar und eindeutig gar nicht her, dennoch folgen die Interpreten der Selbstdeutung des Autors brav wie früher die akademischen Leser Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Pablo balancierte früher auf einem Ball, dazu mehr dressiert als trainiert. Jetzt will er mit einer Entfesselungsnummer auftreten, wie er bekannt gibt. „Restlos will er sich der Gewalt des Turms aussetzen“, behauptet Weiss selbst 1962. Warum kehrt einer, der floh, freiwillig dorthin zurück, woher er floh? Die Deuter haben zwei Vorschläge: es ist die innere Befreiung, ohne die die äußere misslingt. Es ist der Weg zu sich selbst. Als Weg zu sich selbst sehen das auch diejenigen, die eine Parabel auf die Genese des Künstlers Peter Weiss erkennen wollen. Wäre zu fragen, ob einer, der dichtet, malt und Filme macht, ausgerechnet einen Varieté-Künstler nach eigenem Bilde formt, um seinen schwierigen Weg aus einem repressiv verstandenen Elternhaus zu autonomer Personalität zu gestalten.

Auf der Suche nach Assoziation zum Bild des Turms ist es keineswegs hinderlich, nicht nur am Wort zu kleben. Aber selbst wenn, dann wäre doch eine sehr nahe liegende Frage, warum kein Deuter auch nur probeweise in Richtung jener berühmtesten aller literaturnotorisch gewordenen Turmgesellschaften geschaut hat, der in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Und, die Turmgesellschaft im eigenen „Turm“ einmal ganz naiv als „geschlossene Gesellschaft“ gesehen: warum assoziierte niemand „frei“ Sartres „Huis clos“ oder, bei Einbeziehung des Prologs von 1962 ja auch zwanglos denkbar, seine „Eingeschlossenen von Altona“. Die geschlossene Gesellschaft wiederum hat als Pendant die Begrifflichkeit der offenen Gesellschaft, man käme zu Karl Popper und seinem „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Weite Felder gegen die radikale Blickverengung auf Hofmannsthal plus etwa Yeats. Und dann könnte man, wenn man sich einen Turm nicht nur als „Turm“, sondern beispielsweise als Leuchtturm denkt, weitere Felder eröffnen. Ich fand, ein Beispiel zu nennen, beim polnischen Nobelpreisträger von 1905, Henryk Sienkiewicz, verblüffend passende Sätze zu Turm und Turm-Leben, dazu demnächst mehr. „Der Turm“ von Peter Weiss aber hat 1977, als er auch in der DDR erschien, noch ganz andere Lesarten ermöglicht.

Da fragt Pablo etwa: „Warum hieltet ihr mir alles geheim? Warum durfte ich nichts von draußen wissen? … Ich wusste immer, dass es eine Welt draußen gibt.“ Wie liest man das als DDR-Bürger, erfreut über einen dicken Peter-Weiss-Band des Henschelverlages, der mit „Der Turm“ eröffnet wird? Eben war Biermann-Ausbürgerung, ein Jahr später gab es das Verbot eines Films mit dem Titel „Geschlossene Gesellschaft“ mit Jutta Hoffmann und Armin-Müller-Stahl, Drehbuch Klaus Poche und Frank Beyer, spät und ohne Vorankündigung im Fernsehen ausgestrahlt, einmal, und dann nie wieder, zufällig sah ich es an diesem Abend bei einem Berliner Freund. Da ist plötzlich ein Land Turm und aus heutiger Sicht, wo wir jahrein, jahraus mit der Formel „Die Mauer in den Köpfen“ konfrontiert wurden und bisweilen immer noch sind: ist diese Mauer wirklich etwas anderes als der „Turm in uns“, den Peter Weiss wenige Jahre nach dem Krieg gestaltete? Es dauerte, so weit ich sehe, bis 1988, ehe eine „Turm“-Deutung publiziert wurde, die nicht individual- und tiefenpsychologisch alle Wirklichkeit außerhalb einfach ausklammerte. Es war die gedruckte Habilitationsschrift von Alfons Söllner, „Peter Weiss und die Deutschen“. Söllner hat eine mehr als nur ansatzweise historisch-politische Deutung versucht, Thema Schwierigkeiten mit der Freiheit.

Der Zauberer sagt zu Pablo: „Alles zerrinnt da draußen. Wir halten uns an die Ordnung des Turms.“ Ist das nicht die Logik, die manchen antreibt, den konvulsivisches Zucken befällt bei jeder Manifestation einer sich von dieser Ordnung absetzenden Denkweise? Die Ordnung des Turms ist die Ordnung der einfachen Wahrheiten, die Ordnung des vormundschaftlichen Staats, der seinen Gliedern eigenes Denken wie eigene Initiative um so mehr abnahm, je lautstarker er sie öffentlich als vorhanden und hinreichend vorhanden pries. Man könnte sehr zugespitzt sagen: Peter Weiss hat eine Parabel auf die DDR geschrieben, bevor es die überhaupt gab. Das Stück hätte so gesehen tatsächlich eine verblüffende Bühnenlebendigkeit zu offerieren. Am 2. September 1965 veröffentliche „Neues Deutschland“ die „10 Arbeitspunkte eines Autos in der geteilten Welt“. Das dort formulierte Bekenntnis von Weiss zum Sozialismus machte die Zensoren an höchster Stelle offenbar blind genug, die auch dort schon geäußerte Kritik am real existierenden Sozialismus zu ignorieren und eventuell gar ernst zu nehmen. Es blieben nur Wochen bis zum berühmt-berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED und dem Ende des von manchen als zweites „Tauwetter“ empfundenen Kurses der Kulturpolitik im weiteren Umfeld des Deutschlandtreffens 1964.

Für Manfred Haiduk war der „Turm“ 1977 „eine Art verschlüsselte Familiengeschichte in Parabelform. Die Fesseln, von denen sich Pablo zu befreien versucht und schließlich auch befreit, symbolisieren die Normen der bürgerlichen Gesellschaft“. Bei Peter Demetzt steht: „Pablo kehrt instinktiv zu dem mystischen Heimatturm zurück, dem er einst eher in seiner Körperlichkeit als in seinem Geiste entkam, verlangt danach, seine Stärke und Kunst darzubieten, und erstickt, indem er seine Fesseln wie spielend zu entwirren sucht: Die Flucht aus den Fesseln ist gleichbedeutend mit dem Tod.“ Manfred Durzak überrascht gleich eingangs seiner Darstellung mit dem Satz: „Der Titel deutet auf Zusammenhänge mit der symbolistischen Dichtung hin.“ Da sei in der Tat Uwe Tellkamp vor. Dafür hätte diese These Durzaks sehr weitreichende Konsequenzen zur Betrachtung der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte: „Die Eingeschlossenheit im Turm lässt sich nicht durch eine äußerliche Flucht in die Wirklichkeit des Draußen durchbrechen, sondern erst durch eine Sprengung jenes andern Turms, der mit seinem Bewusstsein identisch geworden ist.“ Das aber will Durzak gar nicht, ihm geht es um die inneren Voraussetzungen einer Künstler-Biographie und das muss  möglichst so kompliziert klingen, dass man es keineswegs sofort versteht.

„Der Turm lässt sich also, auf eine Formel gebracht, als Verbildlichung einer aus ästhetischem Material aufgebauten, künstlichen und Weiss einengenden Wirklichkeit verstehen, von der er sich erst befreit, nachdem er sich die Gründe bewusst gemacht hat, die zu dieser Situation geführt haben.“ Schlimmer noch: „Der Turm erscheint also hier als tiefenpsychologisch akzentuierte Metapher, die als gewünschte Rückkehr ins Unbewusste, in den Zustand kreatürlicher Geborgenheit, zugleich die Angst vor den Anforderungen der Realität zum Ausdruck bringt. Auch unter diesem Aspekt geht es bei dem Befreiungsakt Pablos nicht nur um die Genese des Künstlers, sondern auch der Person.“ Für Franz Norbert Mennemeier sieht es so aus: „Weiss zielt mit der Turm-Metapher auf die Macht einer als negativ verstandenen Überlieferung, auf das System repressiver gesellschaftlicher Regeln … die ihn auch und gerade im innersten, seelischen Bezirk bestimmen.“. Auf dieser Basis wäre „Der Turm“ in der Tat deutungsoffen für Realitäten, die er im puren Abbildungssinn flacherer marxistischer Widerspiegelungstheorien gar nicht meinen konnte. Der Einakter wäre so nicht nur deutungsoffen, sondern sogar zukunftsoffen, potentiell immer neu rezipierbar, würde eher Gegenstand einer unbefangenen Wirkungsästhetik.

Mennemeier meint auch: „Im Zauberer wird man eine polemische Chiffre der systemstabilisierenden und eben dadurch alle fortschrittliche Entwicklung verneinenden, reaktionären Mächte sehen dürfen“. Ist es ganz abwegig, bei einem Zauberer in italienischem Umfeld an „Mario und der Zauberer“ zu denken? Einmal an diesen Zauberer bei Thomas Mann gedacht, wird der Zauberer bei Peter Weiss eine ganz anders fassliche Figur. Mennemeier sieht auch Ansätze im Text, „dass der Ausbruch aus dem System der Unterdrückung von einem einzelnen allein offenbar doch nicht vollbracht werden kann.“ Und: „Pablos Befreiungsversuch ist gleichzeitig der Versuch, loszukommen von der Macht der Unterdrückung im Unbewussten, vom gesellschaftlichen System als einem verinnerlichten.“ Alfons Söllner schreibt 1988: „Es handelt sich um ein ebenso kurzes wie prägnantes Stück, in dem die Problematik der Befreiung modellartig durchgespielt wird.“ Für ihn ist „Der Turm“ ein politischer Text: „Die Geschlossenheit des Turms, die marionettenhafte Abhängigkeit aller Figuren von ihm und der Kampf Pablos gegen die geschlossene Turmgesellschaft – diese Konstellation ist in dieser Parabel zur ästhetischen Form geworden. In ihr ist auch ihre politische Botschaft zu suchen.“ Die natürlich auf Deutschland zielt.

„Gleichsam ohne zu wissen, was ihnen geschah, keineswegs durch bewusst organisierten Widerstand, sondern nur durch den militärischen Eingriff von außen, waren die Deutschen von ihrem „Turm“, von der totalitären Diktatur Hitlers losgekommen. Jetzt käme es darauf an, sich gefühlsmäßig noch einmal in den Turm zu begeben, noch einmal durchzuarbeiten, wie es zur Katastrophe kommen konnte.“ Wieder ein, nun freilich nicht tiefenpsychologischer Ansatz, der dem Stück Zukunft ermöglicht. Der individualpsychologische Modellcharakter, der natürlich nicht in Frage gestellt wird, ist gewissermaßen durch einen historischen ergänzt und eben auch vertieft, der den Text weit abhebt davon, nur ein frühes Dokument der Werkgeschichte von Peter Weiss zu sein. „Der Turm“ darauf zu reduzieren, es ist versucht worden, wäre als feindseliger Akt der Deutung zu sehen. „Auch ist die Abstraktionslage der Figuren dazu geeignet, das psychologistische Missverständnis zurückzuweisen, wonach Befreiung nichts weiter sei als ein individueller, innerlicher Vorgang.“ Bei Georg Hensel wird der „Turm“ nicht einmal erwähnt, bei Arnd Beise ebenfalls nicht, Hanjo Kesting hat ihn als Bestandteil einer allgemeineren Aussage. Selbst die Dokumentation des RBB von Ulrich Kasten und Jens-Fietje Dwars verschweigt diesen Titel.


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