Harry Thürk: Su-su von der Himmelsbrücke
Als am 5. August 1951 die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin eröffnet wurden, hatte der Reporter Harry Thürk seinen 24. Geburtstag gerade erst fünf Monate hinter sich. Er konnte bereits auf ein ungemein ereignisreiches Leben zurückblicken, kaum etwas an Erfahrungen hatte er aus freien Stücken und voller Absicht gemacht. Seit Oktober 1945 in Weimar ansässig, reichen seine journalistischen Anfänge bis ins Jahr 1948 zurück, von 1950 bis 1952 war er Redakteur der Thüringer HO-Betriebszeitung „Fortschritt“. Als solcher erlebte er die Augusttage in Berlin, als solcher schrieb er das Buch „In allen Sprachen“, das im Verlag Neues Leben Berlin 1953 in einer Startauflage von 20.000 Exemplaren erschien. Das ist ein Zeitdokument, heute mehr als damals. „Als ich acht Jahre alt war und in die Schule ging. Pflegte ich mir mit dem blonden Lieschen, der Tochter eines Zuckerbäckers, gelegentlich einen Scherz zu erlauben.“ So beginnen jene neun Seiten im Buch, in denen Thürk vom chinesischen Kulturprogramm in der Staatsoper Unter den Linden berichtet. Er hat von 1934 bis 1940 die Albert-Leo-Schlageter-Volksschule besucht in Neustadt in Oberschlesien, das blonde Lieschen saß in der Bank vor ihm und hatte einen langen dicken Zopf.
Diesen Zopf heftete er heimlich mit einer Teppichzwecke auf die Schreibfläche seiner Schulbank: „Jedesmal gelang dieser Spaß von neuem großartig“, erinnert er sich, dann malte der Achtjährige sich aus, „wie dieser Scherz in einer Schulklasse von Chinesen wirken würde, die ja bekanntlich alle einen Zopf trugen. Wenn dort jeder den Zopf des anderen an die Bank heftete – das gäbe einen Spaß!“ Vielleicht ist die Geschichte ja auch erfunden oder wenigstens die sich anschließende Phantasie, denn Thürk steuert auf ein Ziel zu: „In dieser Kenntnis dass alle Chinesen ein Zopf tragen und dass es dort im übrigen fortwährend Krieg gibt, erschöpfte sich mein Schulwissen über China. Dass die Chinesen längst den Zopf abgelegt hatten und mit ihm eine Menge anderer Dinge, die es wert waren, auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu wandern, erfuhr ich erst viel später. Da aber erwachte auch in mir das Interesse für dieses heroische Volk, das es verstand, sich in einem beispielhaften Kampf seine Freiheit zu erringen und ein neues Leben zu beginnen, das Leben der Volksrepublik China.“ Und da kommt plötzlich Freund Rudi mit Karten für das Nationalprogramm in der Staatsoper, das Programm „unserer chinesischen Freunde“, wie es umgehend heißt.
Es sei wiederholt: das ist ein Zeitdokument. Ein Programm in der Staatsoper, das mit nicht weniger als drei Nationalhymnen beginnt und dem gemeinsamen Gesang der Internationale endet. Harry Thürk berichtet enthusiastisch begeistert, pathetisch befeuert und hat natürlich 1951, zwei Jahre nach der kultischen Feier des 70. Geburtstages von Stalin, mit dem Personenkult nicht das geringste Problem. Der erste begeisterte Beifall gilt dem chinesischen Volk, aber er gilt auch „seinem größten Helden, dem Bauernsohn und Soldaten, dem Dichter und weisen Führer des chinesischen Volkes, Mao Tse-tung.“ Und die Chinesen sind nicht nur glückliche Menschen, sie sind auch dankbare Menschen: „Kein Chinese vergisst, dass Stalin der beste Freund des erwachten chinesischen Volkes ist, kein Chinese vergisst diesen, seinen großen und besten Freund. Es ist, als ob diese Feststellung jeden der Sänger bewegt, die in diesem Augenblick die Stalin-Kantate singen.“ Diese Jugend „singt es so begeistert, dass der Jubel am Ende die Mauern dieses Hauses durchbrechen möchte. Das Lied auf Stalin.“ Dann steht da plötzlich dieser Satz: „Eigentlich sollte nun eine Pause sein, aber auf der Bühne wird eine Entspannung anderer Art geboten.“ Man kann ihn als Überleitung lesen.
In „Su-su von der Himmelsbrücke“, dem einzigen echten Kinderbuch Harry Thürks, 1960 in der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ als Band 8 erschienen, geht es auch um eine Programm-Pause, die gefüllt wird. Sieben chinesische Pioniere und Onkel Gao-mo haben sich intensiv und unter voller Geheimhaltung darauf vorbereitet, im großen Zelt, in dem die erwachsenen Artisten auftreten, in der Pause ein eigenes artistisches Programm voller Schwierigkeiten und Kunst zu zeigen und dann eine „Gruppe Junger Artisten“ zu gründen. Die Illustrationen im Buch stammen von Horst Bartsch (31. August 1926 – 13. November 1989), der beispielsweise auch etliche Bücher von Jack London in Ausgaben des Verlags Neues Leben Berlin illustrierte. Von 1956 bis 1958 war Thürk als Redakteur im Verlag für fremdsprachige Literatur in Peking tätig, beriet die Zeitung „China im Bild“ und hatte deshalb keineswegs nur touristische Erfahrungen, die er an Kinder zu vermitteln suchte. Gleich der Beginn des Büchleins klingt eher nach Sachbuch: „Peking, die Hauptstadt Chinas, ist groß und wunderschön. Voller Leben ist sie und so bunt, dass man immer wieder etwas Neues entdeckt, so oft man sie auch durchwandert.“ Manch Buntes verblüfft.
„Wenn der Unterricht zu Ende war, fanden sie sich zusammen und machten die Hausaufgaben. Dann erst fuhren sie heim, und dann lag der ganze Nachmittag vor ihnen.“ Das ist natürlich vorbildlich und Vorbilder will ein DDR-Kinderbuch von 1960 natürlich immer auch zeigen; also erst die Hausaufgabe, dann das Vergnügen. Jetzt aber ist etwas anders, Spannung wird erzeugt: „Sonst hatten sie einander immer auf den Laden aufmerksam gemacht, dessen Schaufenster voller Tigerfelle war“, das tun sie nun nicht. Tigerfelle in einem Schaufenster? Heute so undenkbar wie Peking ohne Dauersmog und Menschen mit Atemmasken. Aber der Tiger hat eine spezielle Rolle in der chinesischen Mythologie. Das kannte Harry Thürk schon aus der Staatsoper 1951, dort tanzten „die chinesischen Freunde einen klassischen chinesischen Tanz, dessen Handlung aus dem berühmten chinesischen Roman „Liang-Schan Moor“ stammt.“ Das Buch „Die Räuber von Liang-Schan Moor“ stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist unter anderem auch Vorlage für vielteilige Fernsehserien geworden. Der Tanz in der Staatsoper 1951 zeigte, wie der raubgierige Tiger von einem halb betrunkenen Helden mit bloßen Händen erschlagen wird. Im Kinderbuch Tigerfelle.
Und: „…an einer Straßenecke konnte man zirpende Grillen in kleinen Strohkäfigen kaufen.“ Die Kinder beschauen ein Flugzeug: „Es war das erste Flugzeug, das die Chinesen selbst gebaut hatten. Es konnte Passagiere befördern oder Lasten transportieren.“ Su-su träumt sofort davon, eine Fliegerin zu werden und vielleicht nach Moskau oder Berlin zu fliegen. Wie mag sie wohl auf Berlin gekommen sein? Der Onkel Gao-mo muss den Kindern von früher erzählen und er hat schöne Geschichten auf Lager: „Den Tee Chinas schleppten damals die Engländer auf ihren Schiffen fort, und was uns blieb, war das Wasser.“ Er weiß auch von Formen der Rache zu berichten, hat selbst bei einem Auftritt als Jongleur vor einem General dessen zwölf Teller samt und sonders zu Boden fallen lassen. „Viele Artisten nahmen mein Beispiel auf, und bald hatten die ausländischen Soldaten keinen Spaß mehr an unseren Vorführungen.“ Am Ende werden die Ausländer vertrieben, das Glück nimmt seinen Lauf in der Volksrepublik China. „Manchmal … glaube ich, dass ihr Kinder euch nicht vorstellen könnt, in welch einer glücklichen Zeit ihr heute lebt.“ Ganz so glücklich waren dann weder die Zeiten noch die Gegenden, es wurde nicht besser.
Manches beschreibt Harry Thürk, was heute ganz sicher aus anderen Gründen auffällt als zum Zeitpunkt, als das Buch für Leser von acht Jahren an in die DDR-Buchhandlungen kam: Die Pioniere beobachten aufmerksam die Reaktion der Lehrer, als die lächeln und klatschen, klatschen alle anderen auch. Die Pioniere beobachten den Pionierleiter, als der lächelt, ist das Unternehmen „Gruppe Junger Artisten“ gesichert. Diese Art von Selbstverständlichkeit der Autoritäten wirkt heute geradezu befremdlich. Auf dem Heimweg sagt Onkel Gao-mo: „Wie glücklich unsere Kinder sind! Das ganze riesengroße China ist endlich glücklich geworden, seine Männer und Frauen und seine Kinder.“ In der DDR kannte man am Ende der fünfziger Jahre den Vers: „Dieser Garten voller Glück, das ist unsre Republik!“ Später büsste Harry Thürk bitter und zu Recht für sein Machwerk „Der Gaukler“, ich erinnere mich noch gut an die Flutung der DDR-Buchhandlungen mit der zweibändigen blauen Paperback-Ausgabe auf gehobenem Klopapier und Peter Hacks entblödete sich noch später nicht zu erzählen, wie schwer es gewesen sei, dies Buch zu bekommen. Am neunzigsten Geburtstag Thürks ist eines sicher: Er wäre ein sehr interessantes Forschungsobjekt.