Johannes Bobrowski 100. Anwesenheiten und Abwesenheiten
In Uwe Wittstocks Darstellung der DDR-Literatur von 1949 – 1989 unter dem Titel „Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg“ (Serie Piper 1136) kommt der Name Johannes Bobrowski nicht vor. Man muss das nicht unter die ganz starken Leistungen westlicher Deutungshoheit über das östliche Gewesensein rechnen. In „Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller“ (Aufbau-Verlag 1972, 2. Auflage 1974) fehlen nicht nur die Frauen im Titel, auf den 420 Seiten fehlt auch Johannes Bobrowski. Liebte den niemand unter den DDR-Kollegen? An seinem Grab immerhin hatte Stephan Hermlin gesprochen, Hans Werner Richter freilich auch und dessen Behauptung, Bobrowski sei ein „Genie der Freundschaft“ gewesen, hat sich zwar zur gängigen Formel entwickelt, ihren Urheber aber nicht dazu verleitet, den Tilsiter aus Berlin-Friedrichshagen in seine Porträtsammlung der Gruppe 47 aufzunehmen, genannt „Im Etablissement der Schmetterlinge“. Und doch war Bobrowski da: bevor sein erster Gedichtband „Sarmatische Zeit“ erschien, hatte er die Aufmerksamkeit der erfolgreichsten und verdrängungsstärksten Alphatier-Gruppe der westdeutschen Literaturgeschichte wenigstens ansatzweise erregt.
Stephan Hermlin war am Grab Bobrowskis nicht im Vollbesitz aller nötigen Kenntnisse, weshalb ihm eine prägnante Falschaussage gelang: „Bei Johannes Bobrowski, den wir begraben, gab es keine poetische Entwicklung. … Er begann sofort, und zwar nicht mehr ganz jung, als ein großer Dichter; ihm blieb, zu unserm Unglück, nicht viel Zeit, einer zu sein.“ Später war Stephan Hermlin im Vollbesitz aller Rücksichten, die zu bewirken hatten, dass die DDR-übliche Balance von dezentem Verschweigen und noch dezenterem Andeuten gewahrt blieb. In seiner „Erinnerung an Johannes Bobrowski“ erzählt er nicht sofort von der durchsoffenen Wodka-Nacht, auf die der Rückblick zielstrebig hinläuft, sondern beginnt mit „Sinn und Form“, glaubt, sich zu erinnern, dort erstmals von Bobrowski-Gedichten betroffen worden zu sein. Er war doch selbst Mitarbeiter der Akademie-Zeitschrift, da sollte das nicht so im Vagen hängen. Zumal eben noch in NEUES DEUTSCHLAND Klaus Bellin ganz sicher nicht ohne Absicht darauf hinwies, dass Bobrowski beim „Merkur“ im Westen abgewiesen worden war, ehe er dann, eben in „Sinn und Form“, gedruckt wurde. Das hat Hermlin freilich nicht mehr lesen können, wissen aber hätte er es trotzdem dürfen.
„Aber er war auch leicht zu überhören, obwohl in seinem Ton keine Schwäche war, sondern eine beharrliche, zurückgestaute Kraft. Nur gilt in einer Zeit der Lautheit eine solche Stimme nicht viel, und man erkannte ein wenig spät, dass hier nicht nur ein bedeutender Dichter am Werk gewesen, sondern auch die Dichtung in einem großen und konsequenten Versuch für die Veränderung eines nationalen Bewusstseins eingesetzt worden war.“ Von welcher Zeit der Lautheit wo spricht Hermlin? Wer war es, der was spät erkannte? Hermlin, der später mit den Texten, die in seinem Sammelband „Lektüre“ vereint wurden, manchem bis dato in jener DDR Übersehenen oder gering Geschätzten Wege bahnte: Bobrowski hat er nichts gebahnt. „Im übrigen gehörte ich nicht zu seinem Freundeskreis, aus dem ich manche kannte, Fuchs und Jentzsch, Wagenbach und Grass.“ Es ging ja, man hat es gehört, sogar ein wenig die Rede von einem neuen Friedrichshagener Dichterkreis. Und später gab es jüngere DDR-Lyriker und Lyrikerinnen, denen nachgesagt wurde, sie schrieben auf „gut bobrowskisch“. Ich habe das im Ohr, ohne noch zu wissen, von woher. Als Poeten-Seminarist fremdelte ich dagegen eher mit seiner Art Gedichten, war immer eher bei Kunert als bei Bobrowski.
1992, da war die Erinnerung an auf Mülldeponien gelandeten Komplett-Auflagen lustiger DDR-Bücher noch unfassbar frisch, äußerte sich Helmut Hirsch in der BERLINER ZEITUNG zum 75. Geburtstag von Johannes Bobrowski, Überschrift tatsächlich „Ein Genie der Freundschaft“. Er zitierte Sarah Kirsch, was zwei Jahre zuvor noch eine ziemlich schräge Unternehmung gewesen wäre, und er zitierte Bobrowski selbst mit dem herrlichen Satz über den Friedrichshagener Dichterkreis: „Das Zentralorgan des Dichterkreises ist die Leber.“ Dann die Erinnerung an die vierbändige Ausgabe der „Gesammelten Werke in sechs Bänden“, mit der sich der vielleicht verdienstvollste Bobrowski-Forscher der DDR, Eberhard Haufe (7. Februar 1931 – 26. März 2013), vor dreißig Jahren ein Denkmal setzte: „Noch fehlen die beiden Kommentarbände dazu. Sie blieben – wie der Union-Verlag, in dem Bobrowski gearbeitet hat, auf der Strecke.“ Hirsch beendet seinen dreispaltigen Artikel so: „Aus welchem Verlagshaus wird künftig Bobrowskis Stimme zu vernehmen sein? Und noch immer liegen die Briefe ungedruckt. Es wäre schlimm, drohte die Spur von seinen Werken in den eisigen Äonen des gesamtdeutschen Buchmarktes unterzugehen.“
25 Jahre später ist, alle Opfer des gesamtdeutschen Buchmarktes und der Deponien zu seiner Einführung hören es wohl nicht ganz so gern, das Thema geklärt. Satte 2724 Seiten umfasst die vierbändige Briefausgabe des Wallstein Verlages Göttingen (welcher Verlag sonst, möchte man fragen). DVA München hat 752 Seiten „Gesammelte Gedichte“ auf den Markt geworfen, zum praktischen Preis von 34,99 Euro (die Briefe kosten bescheidene 199 Euro), die Herausgeber heißen Jochen Meyer (Briefe) und Helmut Böttiger (Gedichte), Kommentarbände gibt es immer noch nicht und wird es, das steht nicht in Gracians Handorakel, wohl auch nie geben. Denn von den drei großen DDR-Bobrowski-Experten lebt einer (Haufe) nicht mehr, Gerhard Wolf wird in diesem Jahr 89 und selbst Bernd Leistner („Unruhe um einen Klassiker“; „Sixtus Beckmesser“; „Spielraum des Poetischen“) ist als Angehöriger des Jahrgangs 1939, des Volker-Braun-Jahrgangs, in der Einlaufkurve auf die 80 zu. Von Böttiger hat unter der Überschrift „Im Halbschatten“ die mir seit Jahren liebe Literaturzeitschrift „Volltext“, die anfangs eine Zeitung war, was mir besser gefiel (und auch meinem Budget) das Nachwort zu den Gedichten gedruckt, empfehlenswerte Westsicht.
Böttiger, für sein Buch über die Gruppe 47 ein Buchpreisträger, beginnt natürlich mit der Gruppe 47 und der dramatischen Schilderung ihrer Wannsee-Tagung 1962, kleine Seitenhiebe dabei auf die anwesenden Germanistik-Professoren, „die damals auch die tonangebenden Kritiker waren“, denn die waren irritiert und sprachlos, angeblich. Immerhin destilliert Böttiger aus einer Notiz von Walter Höllerer einen halben Deutungsansatz, Hans Mayer dagegen wird nur namentlich erwähnt. Der war immer um Längen populärer als Höllerer und als der Rowohlt-Verlag für seine Taschenbuch-Reihe rororo 1968 aus dem 1967 in Reinbek bei Hamburg erschienenen Mayer-Buch „Zur deutschen Literatur der Zeit“ die Schrumpffassung „Deutsche Literatur seit Thomas Mann“ erstellte, war dem feinen Haus ein ziemlicher Etikettenschwindel nur eine lässliche Sünde. Auf dem Cover des Taschenbuchs (hinten fortgesetzt) prangen die Autoren-Namen, die werben sollen, Bobrowski dabei. Nur leider steht innen über Bobrowski so gut wie nichts, wie schon in der dickeren Version im Hardcover. Immerhin: Westleser lernte, dass es in der DDR auch DDR-untypische Typen gab. Wenn Böttiger schreibt, dass am Wannsee keiner auf Bobrowski vorbereitet war, stimmt das nicht.
Denn, so kann man leicht nachlesen, Bobrowski besuchte schon zwei Jahre zuvor (1960) die Gruppentagung in Aschaffenburg. Mich haben Fotos mit Bobrowski drauf zeitlebens ein wenig an Fernandel erinnert. Ich könnte mir vorstellen, dass wenigstens das im Land, das Don Camillo und Beppone liebte im schwarzweißen Fernsehen, dem einen oder anderen aufgefallen sein könnte, es müssen ja nicht gleich die Professoren gewesen sein, die sicher die Mattscheibe verachteten. Wie auch immer, Bobrowski muss unweit der Endlösungsvilla eingeschlagen haben wie eine Lyrik-Bombe mit dort in ihrer Wirkung unerwartetem Klopstock-Zünder, er bekam den Preis der Gruppe und nicht etwa Peter Weiss und sein „Gespräch der drei Gehenden“. Fortan stand er im Ruhm, der bis weit in die Schweiz reichte, wo ihm Werner Weber lesbares Gedenken widmete (nachlesbar im Weber-Band „Forderungen, Artemis-Verlag). Nüchtern steht da beispielsweise: „Bobrowskis Dichtungen erledigen durch ihre Eigenart das Dogma vom sozialistischen Realismus; sie bringen den Literaturdogmatikern die Vorsicht bei: nicht leichthin alles, was hinter dem „Vorhang“an Kunst geleistet wird, als europafern zu verdächtigen.“ Weber kommt auch auf Irma Reblitz zu sprechen.
Was mir Gelegenheit gibt, an meinen hier anlässlich des 50. Todestages von Bobrowski am 2. September 2015 veröffentlichten Text „Johannes Bobrowski antwortet Irma Reblitz“ zu erinnern. Werner Weber, der nicht als Professor Kritiker wurde, sondern als Kritiker Professor, schrieb weiter: „Es gibt kaum einen deutschschreibenden zeitgenössischen Dichter, der ebenso deutlich europäische, alteuropäische Überlieferung aufgenommen und dem Eigenen anverwandelt hätte wie Bobrowski.“ Und weil er so klug ist und an eine Aussage Bobrowskis über das Liebesgedicht anknüpft, zitiere ich voller Zustimmung noch dies: „Es gibt keine leerere Frage auf dem Gebiet der Künste als diejenige: ob dies oder jenes noch möglich sei. Morgen kommt einer und macht „es“: neu.“ Ja, die Schweizer können nicht nur Käse und Starkstrom ohne Tourismusverlust. Was im Fernsehen eine Überleitung wäre zu Uwe Grüning. Denn der, im Januar weitgehend unbemerkt 75 Jahre alt geworden, hat in seinem Büchlein „Moorrauch“ über „Zwei Schweizer“ geschrieben: Carl Jakob Burckhardt und Robert Walser. Und zwei Texte später folgt „Himmel: Schatten und Licht“ mit dem Untertitel „Johannes Bobrowskis Wortschatz in seiner Lyrik“, ein seltenes Wunderwerk.
Der dichtende Ingenieur Uwe Grüning hat, man muss für diese Vermutung kein biographistischer Sinndeuter sein, eben als Ingenieur von Hause aus ein krampffreies Verhältnis zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden. Deshalb oder auch deshalb wendet er auf Bobrowski das Verfahren der Wortstatistik an. Das geht über die reichlich zwölf Druckseiten fast bis zum Schluss gut, dann beginnt es, das Nervige zu streifen, aber, und dieses Aber ist sehr wichtig, es führt zu hoch interessanten Ergebnissen über die Lyrik Bobrowskis. Und das war das Ziel. Da steht beispielsweise nun provokant: „Das Wesen und die Stärke seiner Lyrik sind, wie wir sehen werden, nicht die exakte Beschreibung, das treffende Bild, das die Einzelheit erfassende Wort.“ Dann: „Bobrowski porträtiert die östliche Landschaft nicht – dazu ist sein Wortschatz ungeeignet -, er beschwört sie. Er ist Magier, kein Naturalist.“ Und: „... er malt Genrebilder in sich voll Leben, aber ohne eine Bewegung, die über den Rahmen des Bildes hinausführte“. Verblüffend: „Bobrowski schreibt, als besitze bereits sein äußeres Auge einen blinden Fleck.“ Ans Ende stelle ich, weil es zum 100. Geburtstag perfekt passt: „Volkstümlich war Bobrowski als Lyriker nie und wird es nicht werden.“
Nachtrag auf Antrag: Die obige Aussage über die Kommentarbände bezog sich auf die Ausgabe des Berliner Union-Verlages, in der Neuausgabe der Stuttgarter Deutschen Verlags-Anstalt sind sie als Band V und Band VI, 412 und 598 Seiten stark, 1998 erschienen. Eine Besprechung von Otto W. Plocher zu allen sechs Bänden findet sich im Januar 2002 bei literaturkritik.de.