Lessing: Hamburgische Dramaturgie (1)

Fahrräder waren vor 260 Jahren noch keine erfunden, ambitionierte Finanzminister lebten bereits, doch einen, der sagen durfte: „Hätte, hätte, Fahrradkette!“, konnte es leider noch nicht geben. Er hätte, schon wieder dieser Konjunktiv, öffentlich bedauern dürfen, dass Lessing mit seiner „Emilia Galotti“ nicht fertig geworden war, weshalb Friedrich Nicolai in Berlin für sein Preisausschreiben um das beste neue deutsche Trauerspiel nicht auf ihn zugreifen konnte, sondern zwischen den Herren Johann Friedrich Reichsfreiherr von Cronegk und Joachim Wilhelm von Brawe wählen musste. Cronegk (2. September 1731 – 1. Januar 1758) bekam den Preis zugesprochen für „Codrus“, sein Trauerspiel in fünf Aufzügen, konnte sich aber nicht mehr darüber freuen, denn er war bereits am Neujahrstag 1758 während eines Besuches bei seinem Vater in Nürnberg an den Pocken gestorben, die man damals Blattern nannte. Brawe (4. Februar 1738 – 7. April 1758) ging mit seinem ebenfalls fünfaktigen Trauerspiel „Der Freygeist“ leer aus und starb nur ein Vierteljahr nach Cronegk in Dresden beim Besuch seiner Eltern. Lessing aber lebte noch bis 1781, obwohl er älter als beide war und umstandslos ebenfalls unter die viel zu früh Verstorbenen zu rechnen ist.

Vor 250 Jahren nun, die Fahrräder ließen immer noch auf sich warten, erschien am 1. Mai 1767 das „Erste Stück“ von Gotthold Ephraim Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“. Am 22. April hatte er deren Erscheinen angekündigt, am 22. April öffnete das Theater der Hansestadt unter neuer Verwaltung mit der Auftaktpremiere von „Olint und Sophronia“. Dieses nicht vollendete Trauerspiel stammte aus der Feder eben jenes Reichsfreiherrn von Cronegk. Lessing musste also ausgerechnet über den Mann schreiben, dem er fast zehn Jahre früher in einem Brief an Friedrich Nicolai (18. März 1733 – 8. Januar 1811) nachsagte: „Es ist wirklich schade um ihn; er war ein Genie, dem bloß das fehlte, wozu er nun ewig nicht gelangen wird: die Reife.“ Überdeutlich wies Lessing in diesem drei Wochen nach Cronegks Tod geschrieben Brief auf seine eigene „Emilia Galotti“ hin, gab sich nicht nur selbstironisch die Schuld, nicht am Wettbewerb teilgenommen zu haben: „Er macht alle sieben Tage sieben Zeilen; er erweitert unaufhörlich seinen Plan und streicht unaufhörlich etwas von dem schon Ausgearbeiteten wieder aus.“ Dabei konnte Lessing zügig schreiben und zu Ende kommen, „Miss Sara Sampson“ schrieb er im Frühjahr 1755 in wenigen Wochen nieder.

Jetzt aber war eine neue Situation, jetzt ging es so sehr ums große Ganze, dass selbst die eigene Eitelkeit sich an ihrem Platz zu bescheiden hatte. Lessing begann sein Projekt mit einem Paukenschlag. Wie auch immer es damals empfunden worden sein mag, es ist hier nicht zu dokumentieren, es ist vor allem deshalb ein Paukenschlag, weil es heute, 250 Jahre später, in manch einem Satz wirkt, als wäre es eben vom Chefkommentator eines der bedeutendsten Blätter oder Sender dieser Welt in die Debatte geworfen, den brennendsten Fragen der Zeit eine Deutung zu geben und Handlungsaussichten zu eröffnen, die das glatte Gegenteil von blindem Aktivismus wären. Und den Anlass dazu lieferte das neu antretende Hamburger Theater mit einem nun wahrlich mäßigen Trauerspiel. „Olint und Sophronia“ ist ein klassizistisches christliches Märtyrerdrama mit Chorliedern, es greift auf den zweiten Gesang von Torquato Tassos Kreuzzugsepos „Gerusalemme Liberata“ zurück. Tasso (11. März 1544 – 25. April 1595) beendete dieses sein Hauptwerk nach fünfzehnjähriger Arbeit 1574, es wurde früh ins Deutsche übersetzt und hat den Titel „Das befreite Jerusalem“. Es ist hilfreich, noch einmal auf den Brief Lessings an Nicolai zurückzukommen.

Dort heißt es final: „In Ansehung der alten Schriftsteller bin ich ein wahrer irrender Ritter; die Galle läuft mir gleich über, wenn ich sehe, dass man sie so jämmerlich misshandelt.“ Wenig Trost darin für uns Heutige, es hat sich am Verfahren nichts geändert, allenfalls ist ins Misshandeln mehr Methode getragen worden, das Misshandeln hat sich Basisphilosophien erdenken lassen oder ist aus solchen gewachsen. Im „Ersten Stück“ vom 1. Mai 1767 lesen wir nunmehr: „Wenn heldenmütige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muss der Dichter nicht verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters, was man an mehrern sieht, hört man auf zu bewundern.“ Kann man es deutlicher sagen? Die beste Sache verliert, wenn sie mit Verve zu Tode geritten wird. Der Gerechte steht neben den Sündern und fällt auf wie ein bunter Hund, wenn aber die Gerechten in Regimentsstärke nebeneinander stehen und den Marsch antreten zur Rettung dieser und aller anderen Welten, die natürlich nie die besten aller denkbaren Welten sind, dann erfindet einer oder eine automatisch das Wort Gutmensch als Schimpfwort, zu Ge- und Missbrauch freigeschaltet.

Warum wusste das Lessing mitten im achtzehnten Jahrhundert schon so genau? Und schrieb: „Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als dass jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten, in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt zu wohl, die falschen Märtyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene eben so sehr als wir diese verehren ...“. Die Stimme der Vernunft kann also zu laut erschallen? Und es scheint denkbar, dass 250 Jahre später ganze Weltreligionen ein gestörtes Verhältnis zum Märtyrertum immer noch oder schon wieder haben, dass just dieses Unterscheidungsvermögen eben nicht zu den so genannten Basics des praktischen und praktizierten Ethos gehört. Und Lessing ging es erst einmal gar nicht gleich um die Welt, es ging ihm um den zu früh verstorbenen, den seiner Chance zum Reifen beraubten Cronegk. „Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu seinem Helden wählet: dass er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! … dass er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse.“ Lessing wusste um die Konsequenzen daraus.

In welchem Hauptstadtstudio saß er, welchem Bericht aus Wolfenbüttel sagte er ins Mikrofon: „Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden.“ Harald Bock hat für das „Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts“ vermutet: „Möglicherweise ist die Kritik an der Dogmatik des Islam aber als Kritik am zeitgenössischen Katholizismus aufzufassen.“ Als ob eine Entweder-Oder-Frage bei Lessing überhaupt sinnvoll zu stellen wäre. Man muss nicht auf „Nathan der Weise“ deuten, um solches Vermuten mit dem Prädikat „Thema verfehlt!“ zu würdigen. Im „Ersten Stück“ steht vollkommen unmissverständlich schon: „Es entschuldigt den Dichter nicht, dass es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war ...“. Lessing hält Cronegk natürlich auch seine profaneren Fehler vor: dass er den Islam wie einen Polytheismus behandle, dass er dessen Bilderfeindlichkeit offenbar nicht kenne. Aber er entschuldigt ihn auch: „Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem sechsundzwanzigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen?“ Man könnte probehalber an Georg Büchner denken.

„Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird.“ Hatte Lessing zur Ankündigung seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ geschrieben. Er wusste, was kommen musste: „Die Wahl der Stücke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstücke aufgeführt werden sollten, so sieht man wohl, worin die Schuld liegt.“ Heute sind wir in der paradoxen Situation, dass Theater nicht Menge voraussetzend wählen, sondern Menge ignorieren, nicht wählen zu müssen, weil der Wettlauf der Spielplangestalter den Romanen gilt, die um so mehr reizen, je theaterferner und theaterfremder sie von Hause aus sind. Man wuchtet, wie es bisweilen heißt, 1100-Seiten-Wälzer auf die Bühne, schlachtet aber zugleich jedes überhaupt gespielte Drama auf Spielfilmlänge herunter. Welch Irrsinn, der nur scheinbar Methode hat! Lessing liefe die Galle nicht nur über, sondern restlos aus. Und er überschätzte sich keineswegs: „Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stücks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schätzen.“

Lessing war übrigens der Meinung, dass mittelmäßige Stücke in einen Spielplan gehören, wenn sie gewisse vorzügliche Rollen haben, wie er sich ausdrückte. „Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.“ Das „Erste Stück“ vom 1. Mai 1767 endet in souveränster Weit- und Weltsicht: „Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloß schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtetsten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Pöbel heranlässt, lässt sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestärken.“ Im zweiten Stück vom 5. Mai 1767 kommt Lessing noch einmal auf Cronegk und das christliche Trauerspiel zurück. Und der Name Ekhof fällt. Denn von den Schauspielern war am 1. Mai noch mit keinem Wort die Rede.


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