Gisela Elsner 80

Sie hat einiges aushalten müssen, ehe sie sich am 13. Mai 1992 aus dem fünften Stock eines Krankenhauses stürzte, darunter frühen Hype, noble und weniger noble Förderer, Lob rein und Lob vergiftet und es gab auch eine Wand des Schweigens. Und bekanntlich ist das Schweigen der Kritik böser als noch der böseste Verriss, der immerhin bei günstigen Windverhältnissen Samariter-Lektüren auslösen kann. Es soll Dichter geben, die selbst einer bedeutungsfreien Lokalzeitung monatelang nachtragen, dass selbige ihr herrliches Opus Magnum nicht nur nicht hinlänglich bejubelte, sondern ganz und gar auf der Schreibtischkante des Feuilletons liegen ließ. Gisela Elsner, die heute 80 Jahre alt würde, hat mindestens zwei Entdecker. Einer wird, wenn er es schafft, 88 in diesem Jahr, der andere ist am 28. Februar 1992, also wenige Wochen vor seinem einstigen Schützling und Verlags-Ziehkind, gestorben, war freilich auch fast dreißig Jahre älter als sie: Hans Magnus Enzensberger und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Gisela Elsner erregte erstmals eine durchwachsene Großaufmerksamkeit, als sie 1962 bei der Gruppe 47 ihren Auftritt hatte. Das war die Tagung am Wannsee, deren Preis an Johannes Bobrowski ging und nicht an Peter Weiss.

Gottfried Just, am 20. September 1970 freiwillig aus dem Leben geschieden, widmete sich 1968 in „Die Welt der Literatur“ Gisela Elsners zweitem Roman „Nachwuchs“ (Ausgabe 19. September 1968). Und begann mit einer Breitseite: „Wenn es in der Literaturkritik eine ausgleichende Gerechtigkeit gäbe, müsste man über Gisela Elsners zweites Buch eben soviel schweigen, wie man über ihre „Riesenzwerge“ Worte verloren hat. Schon damals fiel einigen auf – es waren durchaus keine Hellseher -, welch zähe Summe die zu einem Buch zusammenaddierten Erzählungen ergaben. Was sich bescheiden „Bericht“ nannte, entpuppte sich als zu äußerster Langweiligkeit geronnene Variation über den Ekel.“ Der Kritiker, der bei seinen unvergesslichen Fernsehauftritten, vor allem, wenn er aus seinem „Literarischen Quartett“ etwas Gegenwind bekam, gern sagte: „Ich habe mich nicht gelangweilt“, Marcel Reich-Ranicki, hat Gisela Elsner mit auffälliger Hartnäckigkeit ignoriert. Ihr Name taucht weder in „Deutsche Literatur in West und Ost“, noch in „Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller in den sechziger Jahren“ noch in „Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre“ auf. Und fehlt bei Hans Mayer und Reinhard Baumgart.

Baumgarts „Deutsche Literatur der Gegenwart. Kritiken, Essays, Kommentare“, Hans Mayers „Die umerzogene Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1945 – 1967“ und „Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1968 – 1985“ üben sich in Maximal-Zurückhaltung: nicht die geringste Erwähnung. Der Zufall will, der natürlich kein Zufall ist, dass mindestens zwei der drei Kritiker 1962 Zeugen der Vorlesung wurden, mit der Gisela Elsner sich auffällig machte, sie las „Der Achte“, später der neunte und vorletzte Text ihres Bandes „Die Riesenzwerge“. Man kann mit Mehrfachvergnügen die markentreue SPIEGEL-Berichterstattung von der Tagung am Wannsee lesen und bekommt eine Vorstellung, was lief: „Die Jungautorin Gisela Elsner, die von Hans Magnus Enzensberger erst kürzlich in seinem Sammelband „Vorzeichen“ für die deutsche Literatur entdeckt worden ist, debütierte, zur femme fatale stilisiert, auf Richters Elektrischem Stuhl mit dem drastischen Gruselmärchen „Das Achte“. … Dichter-Gattin Eva Schnurre nach beendetem Hörstreik zum Schriftstellerehemann Wolfdietrich: „Das war so ekelhaft, ich konnte es nicht mehr ertragen.“ Wolfdietrich Schnurres Antwort hat das Nachrichtenmagazin leider nicht überliefert.

Dass der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt seine Ankündigung wahr machte, Gisela Elsner in sein Programm aufzunehmen, war dem SPIEGEL sogar eine Kurznachricht wert, fast auf den Tag genau ein Jahr später meldete er das Erscheinen von „Die Riesenzwerge“ im kommenden Frühjahr, also Frühjahr 1964. Das oben genannte Mehrfachvergnügen, ich löse das Miniaturgeheimnis jetzt auf, entspringt mir aus dem Umstand, dass vier SPIEGEL-Seiten über ein Schriftsteller-Treiben am Wannsee wohl das Kleist-Grab zweimal erwähnen, ausführlich auch die Wohltätigkeit des Berliner Senates, nicht aber den Umstand, dass just dort eine bestimmte Konferenz gut 20 Jahre vor der allgemeinen Berichterstatter-Belustigung die physische Ausrottung der Juden Europas beschlossen und auf den praktischen Weg gebracht hat. Auch im SPIEGEL musste offenbar erst die Peter-Weiss-Dämmerung zum Auschwitz-Prozess aufgehen, ehe echter „hard stuff“ in seine teilweise läppisch-süffisanten Ergießungen eindringen durfte. Die damals übliche Anonym-Kritik der „Riesenzwerge“ griff dem Diktum von Gottfried Just zum nächsten Buch vor: „Die anfangs so kunstvolle Monotonie wandelt sich unversehens zur Masche, der Rest ist ein halbes Buch voller Langeweile.“

„Der Nachwuchs“, Stein des Anstoßes für Gottfried Just nun vier Monate vor dem Hamburger Rotrand-Magazin in stets origineller Time-Aufmachung, findet an der Alster mehr Milde: „Die eher ermüdende als je ermüdete Geduld, mit der sich Gisela Elsner dem Papier zuwendet … es ist der Monolog eines wundgescheuerten Sprachgefühls … in der Art, wie eine Nachteule das Gewöll herauswürgt.“ Im September 1970, am Tag nach Justs Tod übrigens, hieß es, immer noch anonym zu „Das Berührungsverbot“: „Dergleichen Kleintragödien – die Unterwerfung des Familienvaters oder ein verunglückter Büro-Geburtstag – sind Gisela Elsner Stärke.“ Weitere drei Jahre später steht erstmals ein Name unter einer Elsner-Kritik des SPIEGEL und seine Leser lernen, dass journalistische Flaggschiffe sich selbst zitieren dürfen, ohne das Zitat als solches kenntlich zu machen, Christa Rotzoll nunmehr: „Bürgerliche Kleintragödien, nur ganz sachte zur Satire hingedreht, sind eigentlich Gisela Elsner Stärke. Das Ziel ist noch erkennbar. Der Autorin ist nur das bedenkenswerte Unheil ausgegangen und ihr Unmut weiß deswegen nicht mehr recht, wohin. Er tobt sich einfach aus.“ Erst der Roman „Abseits“ bekam dann im SPIEGEL wieder mehr Platz.

„Abseits“ war 1983 auch der erste Roman von Gisela Elsner, den DDR-Leser lesen durften, es folgten noch „Die Zähmung. Chronik einer Ehe“ und „Das Windei“ (alle im Verlag Volk und Welt, der 1980 im Lesebuch „BRD heute. Westberlin heute“ die Autorin erstmals mit der Erzählung „Die Zerreißprobe“ vorgestellt hatte). Das Erstlingswerk „Die Riesenzwerge“ erschien als Aufbau-Taschenbuch mit Lizenz des Rotbuch-Verlages von 1995 erst 2001 in der gar nicht mehr vorhandenen DDR mit einem knappen Nachwort von Hermann Kinder. Dass Gisela Elsner DDR-Sympathien bekundet hatte zu Zeiten, als man in ihrem Land die drei Buchstaben noch überwiegend in Anführungsstrichen schrieb, hat ihr zwar nicht bei Arbeitern und Bauern, wohl aber bei deren selbst ernannten Funktionären, Wohlwollen eingetragen. Die DDR existierte noch in ihren letzten Zügen, als die Autorin dem Zentralorgan NEUES DEUTSCHLAND einen zweiteiligen Essay zum Abdruck gab mit der Dachzeile „Über die sogenannte deutsche Revolution“. Die findige Redaktion wählte für Teil I den Titel „Vorsicht, Schlaraffenrafferland!“ und für Teil II „Die demaskierende Maskerade“. Das war im April 1990, ein paar Wochen vor der Währungsunion.

„Schriftstellerleben verramscht“ meldete der SPIEGEL am 15. Juni 1992 reichlich vier Wochen nach dem Freitod der Autorin. „Im vergangenen Jahr teilte Rowohlt der einstigen Vorzeigeautorin kühl mit, der Verkauf ihrer Bücher – weniger als zehn Exemplare pro Titel im Jahr – liege „unter der wirtschaftlich vertretbaren Grenze“. Neue Aufmerksamkeit zog erst der Film „Die Unberührbare“ auf sich, den Gisela Elsners Sohn Oskar Roehler drehte mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle, die Mutter hatte ihn als Kleinkind bei seinem Vater Klaus Roehler zurückgelassen. Im Vorfeld des siebzigsten Geburtstages 2007 gab es dann auch wieder neue Ausgaben ihrer alten Bücher, der Verbrecher-Verlag etwa brachte „Das Berührungsverbot“ und ausgerechnet die linksradikale JUNGE WELT, in deren Buchbeilagen zu den Messen meist mehr oder minder dubiose Sachbücher dominieren und jene Literatur, der sich die „bürgerlichen“ Blätter widmen, ignoriert wird, brachte schon am 4. Oktober 2006 eine umfangreiche Besprechung. Die ZEIT folgte mit satten sieben Monaten Verspätung am 3. Mai 2007 und bezog gleich noch das ebenfalls im Verbrecher Verlag erschienene „Heilig Blut“ ein, Anlass nun aber der 70. Geburtstag selbst.

Inzwischen sind zwei Bände „Kritische Schriften“ erschienen, je 340 Seiten stark, wieder im Verbrecher Verlag, „Flüche einer Verfluchten“ heißt der erste Band, „Im literarischen Ghetto“ der zweite. Der „Fliegeralarm“ erschien neu 2010 und im vorigen Jahr als Erstveröffentlichung aus dem Nachlass das Romanfragment „Die teuflische Komödie“. Wieder eilte die JUNGE WELT der ZEIT um ein halbes Jahr voraus. Das als Gegenmodell zu tatsächlichen Entwicklungen gedachte Buch reagiert auf Gorbatschow im Osten, auf Reagan und Thatcher im Westen. Moritz Scheper am 22. September 2016: „Nichtsdestoweniger liest sich diese tiefschwarze Groteske flüssig bis zum Schluss und zeigt noch einmal die alles ablehnende Grandezza dieser bissigen Miesepetra des bundesrepublikanischen Literaturbetriebs in vollem Glanz.“ Vielleicht ist ja Charlotte Roche mit ihren „Feuchtgebieten“ ohne Gisela Elsners „Der Nachwuchs“ nicht zu denken. Wer gern überaus und künstlich komplizierte erste Sätze liest, sollte sich den kürzeren Sachen von Gisela Elsner zuwenden, „Herr Leiselheimer“ etwa anlesen oder auch „Die Verlobung“, wo der zweite Satz der erste ist. „Gisela Elsner ließ keine Balance zu.“ (Ursula März im Deutschlandfunk am 2. Mai 2007).


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