Gisela Elsner: Der Achte
Ob Hermann Kinder ein Fall für die Biografie-Polizei des deutschen Literaturbetriebs ist, mag ich nicht gänzlich ausschließen, immerhin hält sich die Variationsbreite der Angaben zu seiner Geburt in einem überschaubaren Bereich. Das früheste Datum, das sich mehrfach findet, ist der 18. Mai 1944. Nachschlagewerke, die der Stimme des bis heute immer noch und hoffentlich bei guter Gesundheit lebenden Autors ein gewisses Gewicht zuordnen, nennen unter direkter Berufung auf ihn den 18. Juni 1944. Thomas Kraft hat sich in seinem Beitrag für das „Lexikon der Gegenwartsliteratur“ für den 18. Juni 1945 entschieden. So oder so, das Rentenalter hat Hermann Kinder auf alle Fälle erreicht. Gisela Elsner, die sich am 13. Mai 1992 in München aus dem Leben stürzte, erreichte es nicht. Kinder aber, der sieben Jahre Jüngere, gab in seinem Nachwort zur Neuauflage von Gisela Elsners Roman-Erstling „Die Riesenzwerge“, einem fünf Jahre Älteren das erste Wort: Günter Herburger. Am 6. April war sein 85. Geburtstag, der letzte Neuzugang in meinem Archiv zu ihm stammt aus dem Jahr 2008, was nichts besagen muss. „Als ich in mein Büro kam, erhielt ich einen Anruf, dass Gisela Elsner, die über mir wohnte, sich umgebracht habe.“
Herburger, dürfen wir daraus schließen, hatte aus der Wohnnähe heraus unvermeidlich Kenntnisse über Elsner, die anderen verborgen bleiben mussten. 1966, im Sommer der bis heute legendären Fußball-Weltmeisterschaft, brachte er ihr ihren Sohn Klaus mit nach London, „der sich hinter mir versteckte, als in der Wartehalle des Flugplatzgebäudes seine Mutter, ägyptisch geschminkt und in bis zu den Schenkeln, wo der kurze Rock begann, reichenden Stiefeln steckend, klirrend auf uns zuschritt. Sie sah aus wie eine Weltraumspinne.“ Liebeserklärungen unter Nachbarn und Freunden klingen anders. „Wenn tagelang die silberfarbenen Vorhänge geschlossen blieben, dann lag sie im Tablettenrausch. … Sie kam mir wie eine seit Jahrzehnten unerlöste Prinzessin vor, versiegelt unter Schminke und eingenäht in Echsenhaut. Als sie auf der Straße zusammenbrach und in ein Hospital am Englischen Friedhof eingewiesen wurde, stieg sie abends aus dem Fenster, kletterte auf dem kupfernen Vordach, denn direkt darunter war im Garten ein Sonnenschirm aufgespannt, noch ein wenig zur Seite und stürzte sich, ohne zu zögern, kopfunter in die Tiefe.“ Laut Herburger wollte sie sich Jahre früher schon vom Empire State Building in Manhattan stürzen.
2007, als am 2. Mai der siebzigste Geburtstag aus der Überschau zu würdigen war, hatte Ursula März erst im Deutschlandfunk und dann in der ZEIT textgleich am Folgetag die unübertreffliche Formulierung parat, Gisela Elsner hätte, „zwanzig Jahre jünger und mit etwas mehr Abstand zu den eigenen Neurosen – der deutsche Houellebecq werden können.“ Der deutsche Houellebecq! „Gisi, Gisi, Gisela, morgen, morgen bin ich da, hurra!“ Sang ich stets vergebens, weil ich nie der beste Schütze war. Laut Ursula März war das Thema, dem Gisela Elsners Werk folgt: Disproportion. März braucht eine solche schräge These, weil sie darunter auch die Frisur einordnen zu können glaubt, die Elsner fast noch berühmter machte als ihr Werk. „Optisch betrachtet verweigerte Gisela Elsner vor allem eines: erwachsen zu werden, den Gang der Zeit zur Kenntnis zu nehmen. … Mit dem Riesending auf dem Kopf erhielt sie sich bis ins heranrückende Alter die Körperproportion der Kindlichkeit. Sie verzwergte sich mit einem übertreibenden Attribut.“ Houellebecq hat den einfacheren Weg gewählt, er ließ sein spärliches Haupthaar einfach ausfallen und den Rest in alle Richtungen herumsterzeln. Wie finde ich nun den Weg zurück zu Hermann Kinder? Ich lese weiter.
Kinder, um das auch gleich zu sagen, hat mir weder je einen Kaffee bezahlt noch ein kleines in ein großes Bier verwandelt, das ich nicht hätte bezahlen können. Ich besitze von ihm eines der dünnsten Bücher, die sich in meinem Bestand finden, Titel „Venedig. Ins Glück“ Es ist das Exemplar Nummer 98 eines einmaligen Privatdrucks in 100 Exemplaren zum 60. Geburtstag von Hermann Kinder am 18. Mai 2004, erschienen bei Peter Ludewig in München, mit dem wiederum ich manches Bier trank, wenngleich nie in München. Hermann Kinder hat, nun endlich muss es raus, für Gisela Elsners „Die Riesenzwerge“ eines der eindrucksvollsten Nachworte geschrieben, die mir je über den Leseweg liefen, ich könnte es fulminant nennen, wenn nicht die großen Feuilletons vor allem in ihren Buchmesse-Beilagen jedes zweite der dort besprochenen Bücher fulminant nennen würden, womit das Prädikat wertloser ist als ein Unfallwagen nach wirtschaftlichem Totalschaden. Hermann Kinder hat auf aufreizend einfache, verständliche und überzeugende Weise alles gesagt, was man sagen muss, nach diesem Nachwort, könnte man mit Grund meinen, ist Gisela Elsner ein
abgeschlossenes Sammelgebiet. Kinder, Kinder, woher hat er diese Souveränität gewonnen?
Er hat auch einen Freibrief ausgestellt. Vorher schrieb er noch schnell: „Gisela Elsner hat es nicht geschafft, ihre Schreibweise des Negierens, Umsichschlagens stets überraschend umzuformen und in einen förderlichen Ausgleich mit den sich wandelnden Erwartungen zu bringen. Negativität kann, …bei den Lesenden zur Ermüdung und bei den Schreibenden etwas schneller zum Tode führen.“ Dann aber der Aufruf mit Freibrief: „Trotzdem und gerade deshalb: „Die Riesenzwerge“ sollten Sie kennen! Und sollten Sie die Tugend des geduldigen Lesens etwas sperrigerer Texte nicht besitzen, können Sie sich – trotz der ausgeklügelten Gesamtkomposition – auch einzelner Kapitel bedienen.“ Ich werde mich heute gar eines einzigen einzelnen Kapitels bedienen, das wiederum Hermann Kinder sicher aus präziser Berechnung mit keinem Wort erwähnt. „Der Achte“ ist Kapitel 9 im Buch und muss auf seinen Skandalwert geprüft werden. Das Wort von den sperrigen Texten ist somit gefallen, bisweilen werden sie von Wohlmeinenden verschachtelt genannt, man könnte sie auch verleiert nennen. Sätze, die man mindestens zweimal lesen muss, hätte man, als ich jung war, ambivalent genannt, alles war ambivalent, als ich jung war, gemeint aber ist aus meiner Sicht dies:
Die Ehrgeizigen lesen solche Sätze, um sie bis in die Struktur hinein zu verstehen, die Sterblichen werfen Bücher mit solchen Sätzen in die Ecke. In Zeitungen fallen solche Sätze bei Ressortleitern und Chefredakteuren durch, weil sie an Lesermehrheiten denken müssen. Nun spricht das in bestimmten Augen natürlich glasklar für verschachtelte Sätze (ich selbst schreibe nicht selten welche, ohne mich ihrer zu schämen), nur in dem Fall, dass die Autoren oder Autorinnen sich als Teilnehmer am Klassenkampf verstehen und Kämpfer gegen den Kapitalismus, müssen sie sich der Frage stellen, von wem sie eigentlich gern gelesen werden möchten: das Proletariat folgt ungern Führern, die es nicht versteht oder, schlimmer, von denen es sich verscheißert fühlt, für blöde gehalten wird, wahlweise oder gleichzeitig. Liest man Spaßes halber kurz bei Günter Herburger nach, wie es war, wenn Elsner nicht böse auf ihn war, weil er sie kritisierte: „Dann führte sie ihre Kleider vor, teure Kreationen aus Schlangenleder und Seide, zeigte mir Pailletten bestickte Blusen, goldene und silberne Gürtel oder hochhackige Schuhe, die nur von Riemchen zusammengehalten wurden.“ Dann liegt die Erkenntnis nahe, konsequent war Elsners Weltbild nicht, eher flexibel.
1971, bereits drei Romane hatte Gisela Elsner vorgelegt, auf „Die Riesenzwerge“ (1964) folgte 1968 „Der Nachwuchs“, 1970 erschien „Berührungsverbot“, wobei zu sagen ist, dass sie selbst „Die Riesenzwerge“ nie Roman, sondern „Ein Beitrag“ genannt hat, sprach Ekkehart Rudolph vom Süddeutschen Rundfunk Stuttgart mit ihr für die Sendereihe „Autoren im Studio“. Das Interview wurde keines, weil sich ein politisches Streitgespräch entwickelte, indem Rudolph eigene Bekenntnisse und Überzeugungen gegen die Argumentation von Gisela Elsner setzte. Wenn man die denn Argumentation nennen kann. Rudolph fragte: „Kennen Sie denn das, was sich in der DDR Sozialismus nennt, aus eigener Anschauung?“ Darauf sie: „Nein, ich habe nicht in der DDR gelebt. Aber ich glaube nicht, dass es notwendig ist, die Luft von Leipzig einzuatmen, um sich über die DDR zu informieren.“ Es dauerte gar nicht so fürchterlich lange, bis in der Luft von Leipzig der Ruf laut wurde „Wir sind das Volk!“ Die eingeatmete Luft von Leipzig hat einem Clemens Meyer den Weg in den befristeten Olymp massiv erleichtet, Gisela Elsner aber zeigt von gewollt ganz links just die rotzarrogante Selbstüberhebung, die dem Ruf des Volkes als Deutungshoheit die Luft nahm.
Das Verstiegene der literarischen Prosa von Gisela Elsner ist, dieses eine Interview, das keins war, zeigt es überdeutlich, Ausfluss eines unter Druck sich versteigenden Denkens. Wenn Ursula März ihr nachträglich den Eintritt in die kleinbürgerlichste aller kommunistischen West-Parteien, die DKP, ankreidet, dann kreidet sie ihr damit keineswegs einen irgendwie „orthodoxen“ Marxismus-Leninismus etwa in den Farben der DDR an, fast jedes Wort im Interview zeigt, wie wenig sie wirklich verstanden hat, wie oberflächlich agitatorisch ihre Floskelei ist. März macht nur auf einen der vielen Widersprüche aufmerksam, die mit Disproportion freilich kaum zu bezeichnen sind. Aus Hass auf Kleinbürgertum sind keine Umkehrschlüsse zu ziehen, eigene Kleinbürgerlichkeit treffend. Überhaupt sind Hass und Überhebung über ganze Bevölkerungsgruppen letztlich künstlerisch unfruchtbar, allem Humanismus zudem arg fern, man braucht an keine Antigone zu erinnern. Der wahrlich nicht rechtskonservative Eckhard Henscheid schrieb im Juni 1982 in der FRANKFURTER RUNDSCHAU über Elsners Roman „Abseits“: „Es braucht schon einen starken Lesefähigkeits-Blackout, das geradezu verheerend Misslungene dieses Romans nicht mitzukriegen.“
Und wenige Zeilen später: „Entweder ist dies eine völlig unbegabte Erzählerin; oder eine unglaublich schlampige; oder eine zumindest in diesem Opus von allen guten Geistern verlassene und taub gegen deren Zuflüsterungen: Lies den Text doch bitte noch ein paarmal, bevor du ihn verabschiedest!“ Der DDR war „Abseits“ gut genug für die erste separate Buch-Veröffentlichung eines Elsner-Werkes. „Der Achte“ aber, Beitragsteil oder Kapitel 9 in „Die Riesenzwerge“, ist jener Text, der 1962 am Wannsee Skandal machte. Überall liest man, wenn man über Elsner liest, dass dort sieben Kinder Mutter und Vater so zusammen auf dem Ehebett fesseln, dass sie zur Kopulation gezwungen sind, die Kinderhände auf dem Vater-Hintern sogar mithelfen im Auf und Nieder und es entsteht der Eindruck, als wäre das nun das Unglaublichste vom Unglaublichen. Wer aber, durchaus separat, wie Hermann Kinder gestattet, dies liest, muss eben viel Sperrigkeit der Sätze überstehen, ehe er überhaupt bis an die Stelle gelangt, die keine ist. Diese sperrigen Sätze, in der es um Hunde und Hundehalter geht und in denen dann ein wirklich widerlicher Bandwurm und seine ekligen Teile auf dem Küchenfußboden eine Rolle spielen, haben frappierendes Genuss-Potential an sich.
Ihr Problem: die Dosis. Wem eventuell tatsächlich Disproportion zum Lebensthema wurde und nicht nur zur Philosophie der Haarpracht, könnte etwas entgangen sein, was ein gewisser Hegel, auf dem ein gewisser Marx fußte, der wiederum selbst in der DKP nicht unbekannt gewesen sein dürfte, als Haupt- und Oberkategorie der Dialektik ansah, das Maß. Westdeutsch-rheinische Frühschriften-Freunde der adornoid-blochialen Schule müsste es heute noch Blubb machen auf dem Spinat, wenn sie „das Maß“ hören oder lesen. An Elsner sauste es vorbei, sie machte als Tugend empfundene Not zum kategorischen Stümperativ ihres Denkens, das glücklicherweise, weil Literatur kein Direktsaft aus Denkfrüchten ist, gar nicht so selten doch Literatur ermöglichte, die den Namen verdient. Gisela Elsner hatte, da traf Hermann Kinder präzise den Nagel auf den, nun ja, Kopf, Pech, dass 1968 einen Paradigmenwechsel brachte. Dass sie sich kaum änderte, führte bei ihr zu keinem Erbleichen wie bei Frau Keuner. Die Geschichte von den Kindern erzählt in „Der Achte“ ein Taxifahrer der Großmutter des Erzählers Lothar. Er begründet damit, warum er Lothar nicht zu dessen Vater fahren will, auch nicht für viel Trinkgeld. Tatsächlich, „Die Riesenzwerge“ soll man kennen. Unbedingt.