Georg Herwegh, ein Vorgeschmack
Noch der amusischste Wohngebietsparteisekretär in der DDR konnte vermutlich, energisch genug befragt, die Verse hersagen: „Alle Räder stehen still, / Wenn dein starker Arm es will!“ Und hätte wohl auch, ernsthaft ermahnt, den Namen des Dichters Georg Herwegh hersagen können. So weit, so schlecht. Dass Herwegh auf seine gar nicht so alten Tage das Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins dichtete, muss ihm nicht als Ausrutscher angekreidet werden, auch wenn ihm Franz Mehring 1896 die kräftige Anleihe bei Percy Bysshe Shelley klar kritisch anlastete. Die Zeiten, als Räder still standen, wenn Arme etwas wollten, falls es die je wirklich gab, sind lange vorbei, die Verkürzung der revolutionären Perspektive, über die ich als studierender Staatsbürger der DDR noch eigenohrig informiert wurde, ist als Seh- und Denkfehler bei Schreibtisch- und Salon-Revolutionären bis in die Jetztzeit erhalten geblieben und gehört dort zur Grundausstattung. Die Es-kann-doch-nicht-sein-dass-Partei, die gern nach gemeinsamem Möhren-Schälen zu kämpferischem Transparente-Halten ausrückt, hat, das sei gesagt, in dem am 31. Mai 1817 in Stuttgart geborenen Georg Herwegh ganz sicher keinen sehr vorbildlichen Urvater oder Vorreiter.
Wer zur Einstimmung ein bösartiges Porträt Herweghs aus der Feder eines anderen Revolutionärs lesen möchte, dem seien die Lebenserinnerungen von Alexander Herzen empfohlen. Staatsbürger der DDR, so weit sie nicht Humor-Ingenieur werden wollten, wurden angelegentlich mit diesem Namen konfrontiert, wenn ihnen Lenins frühes Hauptwerk „Was tun?“ erzieherisch ans Herz gelegt werden sollte. Denn besagter Herzen, der von 1812 bis 1870 lebte, also fünf Jahre älter war und passend auch fünf Jahre früher starb, ist als Verfasser des Buches „Wer ist schuldig?“ bekannt geworden, von dem ein nicht ganz direkter Weg zu „Was tun?“ von Nikolai Tschernyschewski führte, bei dem sich wiederum Lenin den entsprechenden Titel lieh. Bei Lenin lief alles irgendwann auf die Gründung der Partei neuen Typus heraus, deren wunderbares Wirken in allen Ländern, die es mit ihr versuchten, auf lange Sicht den Sozialismus welcher Prägung auch immer in Langzeit-Misskredit brachte. Herzens Erinnerungen sind in der DDR in drei Bänden erschienen, später hat der Leipziger Reclam-Verlag, einen solchen gab es früher, ein Destillat daraus publiziert. Herwegh-Stellen finden sich dort auf den Seiten 177 bis 231, nicht wenige dabei mehr über Emma Herwegh.
Greifen wir eine heraus: „Das war Herwegh, rasiert, das Haar geschnitten, ohne Schnurrbart, ohne Bart. Für ihn hatte sich das Blättchen rasch gewendet. Vor zwei Monaten hatte er sich, umgeben von Verehrern, in Begleitung seiner Gemahlin, in einem bequemen Reisewagen von Paris aus auf den Marsch nach Baden gegeben, um eine deutsche Republik auszurufen. Jetzt war er vom Schlachtfeld zurückgekehrt, verfolgt von einer Unmenge Karikaturen, verlacht von den Feinden, angeklagt von der Freunden. Mit einem Schlag hatte sich alles verändert, war alles zusammengestürzt, und zu allem Überfluss schaute hinter den geborstenen Dekorationen der Ruin hervor.“ Schreibt so ein Revolutionär über einen anderen? Nein, möchte man rufen, obwohl wahr wäre: Nur so. Die Frage wäre allenfalls, was für schlimmer gelten soll, das lachen der Feinde oder die Anklage der Freunde. Mit einer lächerlichen 650-Mann-Legion, die aus 649 Männern und Frau Emma Herwegh in Männer-Kleidern bestand, eine Monarchie in eine Republik verwandeln zu wollen, das fand nicht nur Karl Marx albern. Aber so läuft das halt, wenn Phantasie an die Macht drängt, wobei wir nicht ahnen, was uns drohte, wenn ungediente Humoristen Macht über Menschen in die Hände bekämen.
Alexander Herzen charakterisierte den gescheiterten Legionär, wie es kaum böser ging: „Er war verschlossen, hinterhältig, fürchtete andere, er liebte es, sich insgeheim Genüsse zu verschaffen, er war in einer unmännlichen Weise verzärtelt, in kläglicher Abhängigkeit von Kleinigkeiten … Das Schicksal hatte eine Frau neben ihn gestellt, die mit ihrer zerebralen Liebe, ihrem übertriebenen Hang zum Verwöhnen seine egoistischen Neigungen unterstützte und seine Schwächen, die sie auch ihm als etwas Lobenswertes erscheinen ließ, entfachte. Bis zu seiner Heirat war er arm gewesen; sie brachte ihm den Reichtum, umgab ihn mit Luxus, wurde zu seiner Wärterin, Wirtschafterin, Pflegerin, zu einem Utensil der niedersten Art, das stets zur Hand sein musste.“ Abgesehen davon, dass das zu weiten Teilen schlicht nicht stimmt, als edlen Charakter offenbart es den Russen nicht. Und das wiederum hat mit einer einfachen Tatsache zu tun. Georg Herwegh spannte Alexander Herzen seine Natalie Herzen aus. Das mögen nicht nur die miesen Spießer nicht, auch unter den großen Weltverbesserern kommt in den seltensten Fällen große Freude auf, wenn es denn geschieht. Wer wissen will, wie Herwegh auf Frauen wirkte, befasse sich näher mit Emmas Biographie.
Die war nicht nur eine faszinierend kluge junge Frau, als sie den Barden noch gar nicht kannte, wohl aber die Verse seines ersten Bandes „Gedichte eines Lebendigen“, sie war auch energisch, zielstrebig, alles andere als ein Utensil, sondern sehr bald Partnerin auf einem Niveau, wie es unter Dichtergattinnen nicht häufig vorkommt. Sie liebte ihn und weil sie ihn liebte, wie sie ihn liebte, kam sie über Krisen hinweg, die der in dieser Hinsicht von wenig Skrupeln behinderte Georg hausgemacht frühzeitig produzierte. Sie hätte sich in einen Fluss stürzen können oder ihn lyrisch verwertbar erdolchen, statt dessen blieb sie ihm einfach treu, was nicht heißen soll, dass sie gegen Verführungen unempfindlich war. Herzen aber war nachtragend wie ein alter Elefant, verbreitete dummdreiste Falschmeldungen. Vor allem aber konnte er sich wohl keine Frau vorstellen, die selbständig eigene Entscheidungen trifft. Aus heutiger Sicht alles eher erheiternd, heute wechseln die revolutionären Parteiführer Gattinnen öfter als ihre Urgroßväter die Unterhosen. Für Georg Herwegh war Emma Siegmund ein extremer Glücksfall, keineswegs „erstickte sie zu gleicher Zeit sein Talent in den Daunenpfühlen eines spießbürgerlichen Sybaritentums“, wie Herzen giftet.
Liest man heute Verse wie „Wir haben lang genug geliebt, / Und wollen endlich hassen!“, an denen sich Emma Siegmund, die spätere Gattin, begeisterte, dann kann man auch auf die Idee kommen, hier habe ein lyrischer Vormärz-Springinsfeld mal eben rasch den klassischen Humanismus einer Antigone in sein Gegenteil verkehren wollen. Emma ist rabiat, was auch Georg sofort registriert, sie schreibt ihm: „Lieber ein kurzes Leben, als ein lange behagliches. Die Behaglichkeit, das ist die Schmarotzerpflanze unserer Zeit. Jeder Mensch sollte ein Flügel seiner Zeit werden, aber die meisten sind Blei.“ Nimmt man zur Kenntnis, mit wem im Laufe ihres Lebens Georg und Emma Herwegh befreundet, bekannt oder auch nur in Kontakt waren, dann hat man fast eine Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts beisammen und ganz sicher ist richtig, dass der Nachmärz-Herwegh ein bis heute fast unbekannter Herwegh ist. Auch Franz Mehring verschwendete in seinem Artikel über Herwegh viel zu viel Platz für den Sohn Marcel Herwegh als Herausgeber von Nachlass-Texten, als sich intensiver mit Vater Georg zu befassen. Mehring wollte mehr an Karl Marxens Weste bürsten, als dem Dichter Gerechtigkeit widerfahren lassen, wobei er dennoch sehr genau sah.
So etwa: „Herweghs Name steht leuchtend an der Schwelle der modernen deutschen Geschichte; mehr als eines seiner Gedichte kann nur mit der deutschen Sprache untergehen ...“. Über Emma: „Sie ist ihrem Gatten stets die treueste Beraterin gewesen, man darf sie seinen guten Genius nennen, und die Treue, die sie seinem Andenken bewahrt, entwaffnet jede Kritik.“ Der hinterhältige Geselle Heinrich Heine nannte Herwegh eine „eiserne Lerche“, die betreffenden Verse finden sich in den Gedichten aus dem Nachlass, Abteilung III, Zeitgedichte, und das Zitat ist so bekannt, dass es in nicht wenigen Zitiermündern wie Lob klingt, was bei Heine gar nicht steht. Heine schrieb auch unter dem Gedichttitel „Georg Herwegh“: „Mein Deutschland trank sich einen Zopf, / Und du, du glaubtest den Toasten! / Du glaubtest jedem Pfeifenkopf / Und seinen schwarz-rot-goldnen Quasten.“ Das Gedicht stand am 20. Oktober 1843 im „Wandsbeker Boten“. Heine und Herwegh kannten sich. Unter den Gedichten 1853 und 1854 findet sich als Nummer XXI „Die Audienz“, Untertitel „Eine alte Fabel“, in der sich Heine mit jener Audienz bei Friedrich Wilhelm IV. befasst, die Herwegh unendlich schadete, sie „schnitt sein Leben mitten entzwei“ laut Franz Mehring.
Auch hier lässt sich intellektuelles Verhaltensmuster überzeitlicher Qualität erkennen: eben noch zog der Autor der „Gedichte eines Lebendigen“ im Triumphzug durch Deutschland, wie es ihn aller Überlieferung nach vor ihm und nach ihm nie wieder gab, dann folgte er der Einladung eines Königs, der bei seiner Thronbesteigung durchaus ein Hoffnungsträger gewesen war, und schon hagelte es Prügel, jene Billigprügel der Billigmoralisten, die immer alles besser wissen, so lange sie es nicht selbst tun oder tun müssen. Herwegh kroch dem Oberpreußen keineswegs in den Hintern, hätte ihm aber, so wohl die Billiglogik (selbst bei Heine klingt sie an), eine Art Marquis-Posa-Rede frei nach Schiller dort halten sollen, der im eigenen Leben nie eine solche Rede hielt und sie auch nie gehalten hätte. Herwegh hat bitter bezahlt. Vor allem seine Irrtümer. Einen formulierte er so: „Es ist eine Lüge, dass unsere Gedanken schon zensiert auf die Welt kommen, wir besitzen die schönste, wahrhaftigste Republik, unsere Literatur.“ Er steht unter „Eröffnung“ 1840 in der von Johann Georg August Wirth herausgegebenen „Deutschen Volkshalle“. Dass Herwegh später auch ein passabler Übersetzer von Shakespeare-Stücken war, führt schon weit über diesen Vorgeschmack hinaus.