Jörg Fauser: Hommage für Joseph Roth
Am 27. Mai 1939, es war ein Sonnabend, regnete es fast überall in Deutschland, die Temperaturen lagen bei 12, 13 Grad, nur auf der Zugspitze schneite es bei 2 Grad minus. In Paris starb an diesem Sonnabend der Österreicher Joseph Roth einen schrecklichen Tod in einem Hospital. Er war eingeliefert worden, nachdem er Tage zuvor die Nachricht vom Selbstmord Ernst Tollers am 21. Mai 1939 in New York zur Kenntnis nehmen musste und darüber zusammenbrach. So jedenfalls lautet das verbreitete Narrativ, wie man das heute nennen zu müssen glaubt. Die detailreichste Schilderung vom Sterben Joseph Roths findet sich, seltsam genug oder auch gar nicht seltsam, in einem Roman mit dem Titel „Die Zwillinge von Nürnberg“, der zuerst 1947 bei Querido erschien, einem der beiden maßgeblichen Amsterdamer Verlage, die Bücher ins Exil gegangener Autoren aus Deutschland und Österreich herausbrachten. Autor des Romans war Hermann Kesten (28. Januar 1900 bis 3. Mai 1996) und Kesten hatte sein Wissen aus erster Hand. Der Roman ist nach 1947 noch einmal 2003 neu aufgelegt worden, man findet beide Ausgaben in Antiquariaten, wobei die Erstausgabe zwar nicht ausgesprochen hochpreisig angeboten wird, dafür aber mit diversen Schäden. Das früheste Zeugnis Kestens zum Tod seines Freundes Roth aber steht in einem Brief.
Ich gebe die wesentlichen Passagen des Briefes vom 27. Mai 1939 hier vollständig wieder: „Was für eine (heute wie immer) so seltene Genugtuung, die Meinung eines verständigen Künstlers zu lesen! … Und ich hatte so große Schmerzen, so einen Schlag nach dem andern. Aber ist es auch erträglich noch, auf einmal zwei seiner besten und und treuesten und ältesten Freunde zu verlieren. Vor ein paar Tagen der schreckliche Tod von Ernst Toller. Und heute früh starb Joseph Roth im Spital. Es waren die beiden ersten deutschen Dichter, denen ich im Leben begegnet bin. Sie waren jeder von seiner Art so vorzüglich, so einzig, so unersetzlich, und mir so gute Freunde. Beide kenne ich seit zwölf Jahren. Mit beiden lebte ich inniger als mit Brüdern. Und hat die lebende deutsche Literatur viele solcher Dichter zu verlieren? … Ich habe zweimal geweint und bin doppelt elend.“ Gerichtet war der Brief an Klaus Mann, der zehn Jahre später selbst aus dem Leben schied, den jede Todesnachricht, vor allem, wenn sie Selbstmorde meldete, im Innersten traf, spielte er doch selbst schon lange mit Suizid-Gedanken, war sein Tod 1949 doch nur der finale Vollzug, nicht etwa eine Reaktion auf zeitnahe Ereignisse. Das hat bereits vor vielen Jahren Marcel-Reich-Ranicki schlüssig bewiesen. Kestens Brief brachte Klaus Mann in einige Verlegenheiten, wie seine Antwort verrät.
Auch hier das Entscheidende ungekürzt: „Roths Tod hat mich sehr betroffen, und ich weiß, welch bitteren Verlust es für Sie bedeuten muss. Nur wenn Sie, oder Landshoff und Landauer, von Roth erzählt haben, konnte ich den schönen, richtigen Begriff von ihm bekommen. Ich selber habe ihn wohl zu spät kennengelernt; in den Jahren von 33 bis 38 war er nicht mehr in der besten Form, er hat mich immer etwas beängstigt. Plötzlich aber sind dann Charme-Reste zum Vorschein gekommen, und ich konnte begreifen oder doch ahnen, warum ihr alle ihn so geliebt habt. - Es ist so besonders schlimm, dass er in der gleichen Woche wie Toller gestorben ist, und noch nicht ein Jahr nach dem lieben Horvath.“ Die genannten Personen waren Walter Landauer, Verleger (31. August 1902 – 20. Dezember 1944, KZ Bergen-Belsen) und Fritz Helmut Landshoff, Verleger (29. Juli 1901 – 30. März 1988), die beide Roth gut kannten und im holländischen Exil eben auch Klaus Mann des öfteren trafen. Macht man sich die Mühe und sucht Äußerungen des Thomas-Mann-Sohnes über Joseph Roth, dann findet man zahlreiche kurze und kürzeste Erwähnungen, oft mit Verweisen auf den Alkoholkonsum Roths. Noch die ausführlichste Äußerung in der Autobiografie „Der Wendepunkt“ weiß beinahe mehr über Trinkgewohnheiten als über das Werk Roths.
Nun sind Trinkgewohnheiten eines Autors keineswegs etwas mit abschreckenden Wirkungen. Wohl ist es bis heute üblich, wo irgend möglich, ein wenig kaschierend davon zu schreiben und zu reden, doch hat eine explizite Thematisierung auch positiv überraschende Effekte. Ich plaudere unter kompletter Einhaltung jeglichen Datenschutzes aus dem Nähkästchen eines leidlich gut besuchten Vortrags, den ich am 6. März 2008 hielt, Titel: „Freitod durch Alkohol“, Inhaltsvorschau: „Der österreichische Dichter Joseph Roth (1894 – 1939) und die Unendlichkeit kleiner Welten. Roths Liebe zur Monarchie, Roths Vorbildlichkeit als Journalist, Roth als Erzähler gegen die Moderne.“ Unter meinen Hörern einer, den ich nie bei meinen Vorträgen sah, wohl aber durchaus kannte und später sogar ziemlich gut, sehr bekannter Facharzt, sehr angenehmer Gesprächspartner. Und das Geheimnis lüftete sich nicht von seiner Seite, sondern aus dem Reservoir kursierender Nachreden: er hatte über viele Jahre, was man heute „ein Alkohol-Problem“ nennt. Jeder weiß, was gemeint ist, es ist nicht das Problem, dass elsässische Muscadet-Weine zu viel Restsüße enthalten oder Weiße aus Bordeaux (Entre-de-Mers) zu selten den Weg vor meine Augen finden, selbst in Kataloge kaum. Und damit bin ich spät, aber nicht zu spät, bei Jörg Fauser angelangt, der auch gern und viel soff.
Momentan schenken ihm Feuilletons wieder etwas mehr Aufmerksamkeit wegen einer neuen Werkausgabe anlässlich seines bevorstehenden 75. Geburtstages am 16. Juli. Da er aber bereits seit dem 17. Juli 1987 tot ist, kann er alles davon brauchen, was geht. Und heute, am 80. Todestag Joseph Roths ist eine nahe liegende Gelegenheit, an seine „Hommage für Joseph Roth“ zu erinnern. Zuerst veröffentlicht in der 1960 begründeten und bis heute fortbestehenden Literatur-Zeitschrift „Manuskripte“ (Nr. 59, 1978), die speziell darauf verweist, nur Erstveröffentlichungen zu drucken. Als ich die „Hommage“ zum ersten Mal las, unmittelbar vor Fausers 70. Geburtstag, da markierte ich mir diesen (neben anderen) Satz mit Gelb: „Vollkommen klarsehend, beging er Schluck für Schluck Selbstmord.“ Ich las also, was mir sechs Jahr zuvor titelwürdig erschienen war. Und ich las es von einem Mann, dessen eigenes Trinken heftig und kräftig zu seinem frühen Tod beitrug. Die Trinker, weiß ich seit meiner ausführlichen Dokumentation zu Irmgard Keun, verraten sich nahezu in jedem Text: wenn man sich selbst erst einmal für diese oft ganz offenen, häufig aber auch ganz harmlos scheinenden Passagen sensibilisiert hat, überfallen sie einen geradezu. Fausers „Hommage für Joseph Roth“ ist verständnisvoll und aggressiv, er verteidigt seinen Mann durch Angriffe.
Nicht aber Angriffe auf Roth. Nein, Angriffe auf Deutschland, auf seine Journalisten, seine Literaturgeschichtler, politischen Verhältnisse. Joseph Roth, von links, oder was sich links dünkt, gern mit Steigerungen von „konservativ“ bedacht, „erzkonservativ“ ist da nur die metallische Lesart, wird wegen seines lauthals und demonstrativ bekundeten Monarchismus, dem er ja sogar etwas wie Taten folgen lassen wollte, die allzu schnell lächerlich genannt worden sind, ebenso gern eine leichte Unzurechnungsfähigkeit unterstellt. Er hatte, will das sagen, als er 1938 noch einmal gen Wien reiste aus seinem Exil, um den Habsburg-Erben Otto als Kaiser zu empfehlen, nicht mehr sämtliche Tassen im Schrank. Man kann es sich leicht machen mit dem Interpretieren. Man kann es auch machen wie Jörg Fauser, der seine Deutungen natürlich gezielt als kalkulierte Provokationen niederschrieb. Wobei man zu bedenken hat, dass Provokationen, die von Literatur-Zeitschriften ausgehen, eher den Wirbelstürmen in Wassergläsern ähneln, selbst dann noch, wenn sich ein zeitweise themenarmes Feuilleton darauf stürzt, um eine Debatte zu initiieren, die sich selbst fortschreibt. Fauser, so das Provokante seiner „Hommage“, lobt Roth nicht primär dafür, wofür ihn alle loben, er lobt ihn dort, wo das „Milieu“ Nasen und Näschen rümpft, Vernissage-Sekt im Glas.
„Schmäh, Marotte, Spleen: leicht haben es sich schon die „linken“ Freunde Roths aus dem antifaschistischen Widerstand, die „aufgeklärten“ Demokraten, Liberalen, Kommunisten werden lassen, mit lächelnden Mienen immerhin (und auf dem wankenden Boden ihrer jeweiligen Geschichtsdialektik).“ Tatsächlich reicht es, bei Klaus Mann nachzulesen, um diese These Fausers bestätigt zu finden. Von den Kommunisten hat allein Franz Carl Weiskopf sich wiederholt eher freundlich über Roth geäußert, während etwa der in der DDR weltberühmte Dramatiker und Hörspielautor Günther Rücker (2. Februar 1924 – 24. Februar 2008) bekannte: „Meine Zuneigung ist so groß, dass ich mir die Lektüre einiger seiner Publikationen versage, einige aus meinem Gedächtnis vertreibe, um mir die Liebe erhalten zu können; denn es findet sich in seinen Schriften so viel bürgerlich Borniertes und politisch Beschränktes, dass nur eine wirklich große Liebe die Kraft gibt, darüber hinwegzulesen.“ Bei Rücker finden sich in seiner bornierten Liebeserklärung sogar die überdeutlichen Spuren einer, nun sagen wir, ungekennzeichneten Entnahme fremden Gedanken- und Formuliergutes, eine nicht genannte Quelle ist zweifelsfrei Hermann Kestens „Der Schriftsteller Joseph Roth“, Erstdruck 1947.
Jörg Fauser dagegen beginnt mit dem Blick auf seine drei liebsten Fotos von Joseph Roth. Er findet sie in der großen Biografie des unendlich fleißigen, unendlich akribischen David Bronsen (1926 - 1990), dem man nur gewünscht hätte, etwas mehr Schreibbegabung in seiner Wiege vorgefunden zu haben. Da ist zunächst das Foto: Roth 1926 auf einem Koffer vor einem Gepäckwagen sitzend, dann eines, das ihn während einer Reportagereise in Albanien zeigt, schließlich das vielleicht bekannteste: Stefan Zweig legt seinen Arm um Roth. Was Fauser alles aus den Fotos liest und erkennt, hängt natürlich mit seinem Vorwissen zusammen. Niemand liest halbe Lebensläufe aus über die Lippen hängenden Schnurrbärten und weiß auch gleich noch, dass diese „slowakisch“ genannt werden. „Aber das Gesicht verrät schon die Spuren des Trinkens, und man glaubt die Geschichte eines Kollegen aufs Wort, dass Roth drei seiner albanischen Reportagen in einer einzigen Nacht geschrieben“ habe. „Roths Flucht, dieses Foto zeigt es uns vor, das Getriebensein des panisch Erschreckten und einsam Zerquälten in Literatur und Rausch und Mythen, hat ihren Scheitel längst überschritten.“ Diese drei Fotos, wiederholt Fauser, liebe er über alles und vor allen anderen, und er benennt seine Gründe.
Sie enthielten „alles Elend dieses Mannes, dessen Leben nicht aufhören kann, mich zu faszinieren, und dessen Bücher ich allen anderen vorziehe, die in diesem Jahrhundert in meiner Muttersprache geschrieben wurden.“ Das ist dann selbst 1978 noch mutig und wäre es heute auch. Denn Fauser stellt Joseph Roth nicht neben diesen oder jene auf seinem Privataltar der Literaturgeschichte, er schränkt lediglich auf das deutsche Sprachgebiet ein. Er zieht Roth allen anderen vor. Allen. Nun gibt es von Roth selbst einen Rückgriff auf Karl Kraus, das Zitat soll seine vergleichsweise bescheidene Belesenheit erklären: „Ein Schriftsteller, der seine Zeit mit Lesen zubringt, ist wie ein Kellner, der seine Zeit mit Essen zubringt.“ Solche Pointen sind Bedarfshaltestellen, man könnte das auch so im Umkehrschluss lesen: ein Schriftsteller ist keiner, wenn er zu viel liest. Bei Fauser aber meint es wohl nur: was auch immer die anderen schrieben, wie gut auch immer es sein möge: ihm reicht die Welt, die Roth erschuf, zu der ja auch seine Unmengen journalistischer Arbeiten gehören, die nicht nur in ihren besten Beispielen Literatur sind. Mancher, der sich Dichter nennt, schreibt nicht im Lebenswerk so viele herrliche Sätze wie Joseph Roth in drei Reportagen aus dem Saarland. Fausers Hommage weist sogar noch bekannte Beschreibungen Rothscher Getränke ab.
Wobei sich schon der drogensüchtige Klaus Mann mit verblüffendem Eifer erging über Alkoholika, die ihm diabolisch dünkten, die Roth angeblich schlürfte. Fauser, der erst fünf Jahre nach Joseph Roths Tod geboren wurde, weiß dagegen genau, dass jene „von Roths Zuschauern trübe genannten, in Wirklichkeit köstlich schimmernden Flüssigkeiten“ ganz anders waren. „Es ist bloß dieses Jahrhundert, es ist keinesfalls das Ende, denn natürlich werden sie auch aus der Kapuzinergruft ein Sex-Kino machen, wie sie in Hollywood aus Mendel Singer ein Tiroler Knödelhirn gemacht haben.“ Das mit Hollywood, das kennt man. Die Kapuzinergruft ist immer noch die Kapuzinergruft und Sex-Kinos sind selbst im Wiener Prater auf der rosa Liste aussterbender Unarten gelandet. „Ein Roth, der Faschismus mit Stalinismus gleichsetzte und eine Wurzel der Nazis im Marxismus erkannte, durfte ja keine Ahnung haben. Ein Roth, der die Freiheit des Individuums vor alles andere, auch die Gerechtigkeit, stellte, konnte damals aber immerhin noch mit Aufmerksamkeit und Respekt auch der Andersdenkenden rechnen; die komplette ideologische Verblödung und die ekelhafte Schlachthofmentalität eines große Teils der schreibenden Zunft stammt ja aus jüngerer und jüngster Zeit.“ Alle Kreter lügen, sagte der Kreter. Für den Journalisten Fauser kein Thema?
Dafür kantige Gewissheit: „... der jüdische Humanist verlegte seine geistige Heimat und seine menschliche Sehnsucht nicht deshalb in die versunkene Welt der katholischen Monarchie, weil er ein spintisierender Vorgestriger war, sondern weil für ihn schon allein die geistige Vision des alten Reichs, der ihm zugrunde liegende Traum von religiöser Freiheit, menschenrespektierender Toleranz, Laissez-vivre mehr Substanz enthielt als Bonzen-Demokratie, Faschismus, Kommunismus einzeln und zusammen.“ Roth sei in einer Hinsicht kompromissloser als fast alle gewesen: „Rücksichtslos gegen persönliche Gefühle brach er mit jedem, der in Deutschland blieb: „Seit wann ist es so, dass ein Schriftsteller sagen darf: ich muss lügen, weil meine Frau leben und Hüte tragen muss? Und seit wann ist es üblich, das gutzuheißen?“ Gnadenlos in seiner Polemik, war er von ebenso kompromissloser Hilfsbereitschaft, wo es um die Verfolgten ging.“ Wie ein Posting zu taufrischen Hauptnachrichten erscheint Fauser vor 41 Jahren: „Und lese sie, wer erfahren will, was Solidarität ist, nämlich etwas zutiefst anderes als jenes konzertierte und konzertante Geschnatter heutiger „Linker“, die um so lauter schnattern, je weiter der Anlass ihres Geschnatters vom Orte ist, und um so schriller, je weniger sie ihre sogenannte Solidarität vom Eigenen kostet.“
Nichts logischer, als dass sich Jörg Fauser fast am Ende seiner „Hommage“ zu seinem liebsten Buch von Roth bekennt: es ist die „Legende vom heiligen Trinker“. Roth erlebte ihr Erscheinen im Jahr 1939 nicht mehr, Fauser sieht in ihr das Buch, „wo nichts mehr erklärt wird, weil ja alles vorher erklärt war, und das Leben brennt wie eine bengalische Kerze und geht aus, und mehr ist es nicht und nicht weniger.“ Wer Optimismus haben will, ist bei Jörg Fauser vielleicht nicht am besten aufgehoben, denn der nahm die Gelegenheit seiner „Hommage“ beim Schopfe: „Wir sitzen heute auf Ruinen und halten sie für Reichtum. Unendlich ärmer sind wir als Roths Hiob Mendel Singer. Nichts haben wir, wohin wir zurückkehren können. Die Visionen sind alle.“ Daniel Keel und Daniel Kampa haben in ihrem Buch „Joseph Roth. Leben und Werk“ Jörg Fauser zwischen David Bronsen und André Heller platziert. Wo es in der neuen Werkausgabe steht, weiß ich nicht zu sagen, mir reicht bis auf weiteres der Band „Lese-Stoff“. Dort eröffnet die „Hommage“ den Reigen der Texte und im Vorwort von Friedrich Ani lesen wir: „Außerhalb der eigenen Biographie gibt es kein eigentliches Schreiben, geschweige denn ein eigentliches Lesen.“ Hätte ich meinen schlechten Montag, ergänzte ich: Nicht einmal ein eigentliches Leben gibt es außerhalb der eigenen Biografie.