Hanns Cibulka: Nachtwache
Es geht schief, wenn man die Substanz eines immerhin 170 Druckseiten umfassenden Buches in kaum mehr als vier Zeilen zusammenquetschen will und das noch im Rahmen eines Lexikon-Essays, den man durchaus als Vernichtungsschlag deuten darf. Ulf Heise, dieser Tage 60 Jahre alt geworden, unternahm für das KLG, das Kritische Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur, den ambitionierten Versuch, Hanns Cibulka und sein Werk in finalen Misskredit zu bringen. Ob die Wirkung seines Beitrags mehr als peripher war (und ist), wage ich nicht einzuschätzen, zumal nicht alle kritischen Einwände Heises von der Hand zu weisen sind, im Gegenteil. Mit „Nachtwache“ hatte sich Cibulka 1989 gewissermaßen von der DDR verabschiedet, der Abschied war zugleich auch einer von seinem langjährigen Hausverlag. Man müsste der Spitzelprosa von IME „Richard“ unverdiente Aufmerksamkeit widmen, um zu erfahren, wie die Aktien von Hanns Cibulka in all den Jahren seit 1954 standen im Mitteldeutschen Verlag Halle, später Halle-Leipzig. Nach dem Debüt mit dem Gedichtband „Märzlicht“ wechselte der Autor für ein Buch zum Volksverlag Weimar. Es war sein zweiter Gedichtband „Zwei Silben“, danach blieb er dem Verlag in Halle bis 1989 treu.
IME „Richard“ war niemand anderes als der Leiter des Mitteldeutschen Verlages, von ihm sind, wenn die Angaben von Joachim Walther stimmen, wovon auszugehen ist, weit über 1000 Seiten Berichte geblieben, man darf also Eberhard Günther zu den fleißigsten rechnen, die im Nebenamt die Berliner Normannenstraße belieferten. Umso schräger ist es, dass der Mitteldeutsche Verlag 1989/1990 sich schnell, vielleicht sogar am schnellsten von allen Verlagen der Noch-DDR, von selbiger lossagte, Projekte verabschiedete, Autoren für bedeutungslos erklärte mit Blick auf den kommenden großen Markt. Für Hanns Cibulka blieb bis zum Ende seiner Tage, er starb am 20. Juni 2004, immerhin der Leipziger Reclam-Verlag, dessen finale Abwicklung er nicht mehr erlebte. „Nachtwache“ aber, Untertitel „Tagebuch aus dem Kriege Sizilien 1943“, brach 1989 mit einer bis dahin innerhalb des Werkes ungeschriebenen Regel. Immer folgte einem Band der Tagebuch-Prosa der nächste mit zeitlich späterem Stoff. „Sizilianisches Tagebuch“ widmete sich einigen Monaten der Kriegsgefangenschaft Cibulkas auf Sizilien 1946. „Umbrische Tage“ hatte eine Italienreise im September 1960 zum Gegenstand, die nächsten Tagebücher (1971, 1974, 1985) je spätere Jahre.
Erst die „Nachwache“ griff vor die Zeit des ersten gedruckten Tagebuchs zurück, Basis der Literarisierung im Buch sind Aufzeichnungen aus knapp drei Monaten des Jahres 1943, mit dem Datum 14. Mai beginnend, mit dem 1. August endend. Die DDR-Kritik hat vor diesem schmalen Band der Reihe „Kleine Edition“, freundlicher kann man es nicht formulieren, komplett versagt. Erst Eckhart Krumbholz und die Redaktion des „Sonntag“ brachten den Mut auf, wenigstens in ein paar Stichworten anzudeuten, was diesem neuen Cibulka eigentümlich war. Krumbholz war, man wird sich hier und da erinnern, weit eher ein Feuilletonist als ein Kritiker, was selten schlecht für die Bücher ist, die unter solchen Umständen unter die Lupe kommen. Wichtig aber war vor allem der Zeitpunkt der Veröffentlichung: es war schon März 1990. Michael Hinze hatte sich für die „Tribüne“ noch verbogen, um nur ja wenig sagen zu müssen, hatte sogar eine eigene vorherige Cibulka-Kritik in Teilen korrigiert, „Der Morgen“ und die „Berliner Zeitung“ versteckten sich hinter Einspaltern, die gar nichts sagen können mangels Platz, nur Hannes Würtz für die „Junge Welt“ gönnte sich einen etwas längeren Einspalter, während „Neues Deutschland“ einfach schwieg.
Zitieren wir dennoch zuerst Ulf Heise: „In Nachtwache“ (1989) greift Cibulka wie im „Sizilianischen Tagebuch“ noch einmal die Kriegserlebnisse in Italien auf. Doch sein Blickwinkel ist nur vordergründig historisch. In sehr heikler Weise skizziert er unter Bezugnahme auf die Antike und Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ eine Diktatur im Endstadium, in der die Wahrheit „nur noch durch Symbole weitergegeben werden kann“. Das ist, verblüffend genug, reine DDR-Leseweise, denn dort wurde, spätestens mit Beginn der 70er Jahre, alles und jedes nur unter dem Gesichtspunkt gelesen, regelrecht durchforstet, ob es „Stellen“ enthielt, von denen man seinen Freunden erzählen konnte mit der Frage: Hast du schon gelesen? Wer alt genug ist, erinnert sich, welche aufgeregt-idiotischen Debatten das Ländchen bewegten, wenn irgendwo verkündet wurde (von einer Bühne herab), die DDR sei das langweiligste Land der Welt. Wohngebietsparteisekretäre heuchelten tapfer Empörung, wo sie doch meist noch nicht einmal den Namen des schreibenden Übeltäters kannten, geschweige irgendeine Zeilen dessen, was er so zu Papier gebracht hatte. „Nachtwache“ ist höchstens in vierter Linie ein Buch über eine Diktatur in ihrem Endstadium.
Zunächst und vor allem ist es das literarisch aufbereitete Tagebuch eines Nachrichtensoldaten, der seinem italienischen Gesprächspartner Gabriele Struzzi verrät, dass er bis dato nie einen Schuss abgegeben habe. Ganz anders als der in Turin geborene Struzzi, den das Gewissen angesichts der vielen von ihm mit dem Maschinengewehr im ersten Weltkrieg am Isonzo getöteten Gegner nicht ruhig schlafen lässt. „Jede Nacht habe ich gebetet, dass mir die Männer verzeihen mögen, die ich am Tag zuvor abgeschossen hatte wie die Hasen.“ Ich kann mich an keinen Mann aus der Generation meines Vaters (Jahrgang 1921) erinnern, der je eingeräumt hätte, getötet zu haben. Ich kann mich auch an keinen Mann der Generation meines Vaters erinnern, der je eingeräumt hätte, ein Wehrmachtsbordell besucht zu haben. Hanns Cibulka hat. Er hat erst Saxofon gespielt dort, hat kostenlos zu essen und zu trinken bekommen, dazu ein paar hundert Zloty pro Woche und ab und zu ist er eben auch mit einem der Mädchen aufs Zimmer gegangen, wobei vermutet werden darf, dass er dort weder über Empedokles noch über Ernst Jünger gesprochen hat. Sein Rückblick erinnert nicht einmal pflichtgemäß an irgendwelche Anzeichen von Ausbeutung und Zwangsprostitution.
Erst spät im Buch erfährt der Leser, warum es den Titel „Nachtwache“ trägt, man muss bis Seite 127 vorgedrungen sein. Einige Seiten zuvor, auf Seite 121, steht schon ein etwas weniger mit Bedeutung beladener Satz: „Was gibt es Schöneres, als Nachtwache zu halten bei den blühenden Pflanzen, den Amaryllen, den Geranien.“ Dann aber kommt, worauf es dem Autor ankam: „Ich frage mich: wo habe ich in meinem Leben schon Nachtwache gehalten? In einem Schützenloch am Don, in einer Lehmhütte in Wolhynien, am Sterbebett meiner Mutter. Das Beste, was man einem Menschen heute mitgeben kann, wenn er auf Nachtwache geht, ist nicht das Gewehr, es ist der Schlüssel, der ihm die Tür zu anderen Menschen öffnet. Überall dort sollten wir Nachtwache stehn, wo der Mensch in Gefahr ist, wo man ihn ausweist, unterdrückt, im eigenen Land heimatlos macht. Am Totenbett der Diktatoren sollten wir Nachtwache halten, damit sie nie wieder auferstehen, in den Arbeitslagern, den Dunkelzellen, vor dem eigenen Herd, damit das Feuer nicht ausgeht, aber auch dort, wo ein Mensch den Bleistift in die Hand nimmt und schreibt: Nachtwache halten vor einem leeren Blatt Papier.“ Das ist deutlich besser gemeint als gesagt, ein Dilemma Cibulkas.
Hier spürt man am exemplarischen Fall, wo eines der Probleme des Dichters mit Händen zu greifen ist: lyrisches Schreiben ist nicht immer mit Prosa bruchlos zu verbinden. Das echte Gewehr auf Wache ist eben nicht mit dem symbolische Schlüssel zu vergleichen, neben einem toten Diktator wachen in echten Diktaturen nur seine potentiellen Nachfolger, nie Menschen, die künftig jede Diktatur vermeiden wollen. Vor einem Herd muss schon seit ewigen Zeiten niemand mehr wachen, damit das Feuer nicht ausgeht: im Gegenteil: man muss aufpassen, dass das Feuer komplett aus ist, ehe man sich hinlegt. Das mag allzu prosaisch klingen und wäre hier nicht mit einer Silbe erwähnt worden, wenn es sich um Gedichte Cibulkas handeln würde. Dort sind Unschärfen erlaubt, Mehrdeutigkeiten, sie sind vielfach sogar die eigentliche lyrische Substanz, dort wird mit Metaphern, mit Symbolen, mit weit hergeholten Vergleichen (Concetti) gearbeitet, Prosa aber folgt anderen Gesetzen, selbst wenn man sie selbst und für andere lyrische Prosa nennt. Das Buch „Nachtwache“ wie auch andere seiner Tagebuch-Bände enthalten immer wieder lyrische Sätze, die bestenfalls bemüht wirken, manchmal wirklich poetisch, oft aber einfach nur Fehlgriffe darstellen.
Was Ulf Heise mit dem nichtssagenden Wort heikel beschreibt, ist eine Kernsubstanz des Buches, die man natürlich nicht goutieren muss. Hanns Cibulka ist, wenn ich mich nicht täusche, der erste DDR-Autor gewesen, der sich explizit und vergleichsweise ausführlich in einem jedermann sehr leicht zugänglichen Druckwerk zu Ernst Jünger bekannte. Genau genommen bekennt er sich nur und allein zu „Auf den Marmorklippen“ von 1939, distanziert sich sogar ausdrücklich von frühen Büchern Jüngers. Dieses Buch aber, bei dem er sich wundert, wie es denn überhaupt in Deutschland gedruckt werden konnte angesichts einer aufmerksamen Zensur, das ist ihm fast eine Offenbarung. Und selbst in den späteren Kommentaren innerhalb der „Nachwache“, die nur schwer vom eigentlichen Text der alten Tagebuch-Aufzeichnungen zu unterscheiden sind, schon gar nicht im Druck, oft beenden sie einfach nur das, war unter jeweils einem Datum zu lesen steht, nimmt er seine Sätze nur teilweise und vorsichtig zurück. Heikel, das reflektiert noch nach Jahren jene fast hysterische Debatte des Jahres 1982, als dem greisen Ernst Jünger der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main verliehen werden sollte (und schließlich auch tatsächlich verliehen wurde).
„Dieses Buch ist für mich wie ein Geburtshelfer, Erscheinungen und Bezugssysteme werden sichtbar, an denen ich bisher vorbeigelebt habe. …Wie konnte dieses Buch unter den wachsamen Augen der faschistischen Diktatur überhaupt erscheinen? Hier findet man Worte, die setzen sich fest, krallen sich ein in die Haut, reißen dich nachts aus dem Schlaf, ergreifen von deiner Seele Besitz, halten dich wach“ – so steht es auf Seite 68 bei Cibulka und auf der nächsten ergänzt er nur, dass er der Dinge nun in einem härteren Licht sehe. „Der Autor berichtet von einem Land, einer alten Hirtenkultur, wo die Menschen seit vielen Generationen in Frieden zusammengelebt haben und plötzlich durch einen Tyrannen in ihrer geistigen und materiellen Existenz bedroht werden.“ So beschreibt Cibulka den Inhalt des Buches und hätte über sein eigenes Wort „plötzlich“ stolpern müssen. Denn dieses Wort leugnet, dass es erklärbar sei, was da passierte in jenem fiktiven Hirtenvolk. „Heute weiß ich, dass die Wahrheit in einer Diktatur oft nur noch durch Symbole weiter gegeben werden kann.“ Natürlich konnte man das 1989 auf die DDR beziehen, doch griff Cibulka viel weiter aus: „Diktaturen haben schon in der Antike den Stil des Schriftstellers differenziert.“
Das ist nicht weniger als die bis heute von mehr Wunschdenken als Nüchternheit begleitete Debatte, ob denn Diktaturen womöglich den Kunstwert von Kunst befördern ähnlich wie Verhüllungen und Schleier die Erotik erhöhen, die einem klinischen Naturalismus abgeht. Hanns Cibulka hat darüber in seinem Tagebuch nicht weiter nachgedacht, nur den möglichen Anstoß gegeben. In Zeiten, da alles gesagt werden darf (vermeintlich oder tatsächlich), gibt es strenger gesehen kaum wirklichen Grund, es auch noch künstlerisch zu sagen. Die wenigen Wochen, die Hanns Cibulka im aktiven Dienst als Nachrichtensoldat auf Sizilien verbrachte, waren ruhige Wochen fast ohne Lebensgefahr, erst als die Alliierten gelandet waren, gab es ein wenig mehr Gefahr. So kommen auch erst am Ende etwas grausamere Szenen ins Bild. Cibulka hatte viel Zeit, sich mit seinen Büchern zu beschäftigen: neben Ernst Jünger waren das noch die viel gedruckten „Wanderjahre in Italien“ von Ferdinand Gregorovius, natürlich die „Italienische Reise“ von Goethe und die Fragmente des Empedokles. Der vorsokratische Dichter und Denker, der sich am Ende seines Lebens angeblich in den Ätna gestürzt haben soll, spielt auf etlichen Seiten der „Nachtwache“ eine sehr wichtige, ja eine tragende Rolle.
Man muss vielleicht stupiden Soldaten-Alltag aus eigener Erfahrung kennen, um zu ermessen, wie wichtig ein solches geistiges Abenteuer sein kann. Und für Cibulka führt es gleich noch zu einem zentralen poetologischen Bekenntnis: „Fragmente waren für mich immer schon faszinierender als ein in sich abgeschlossenes Werk.“ Und gleich im Anschluss noch: „Das in sich abgeschlossene Werk ist oft wie eine Tür, die man hinter sich ins Schloss wirft.“ Mit diesen beiden Sätzen lassen sich bestimmte Züge des Prosa-Werkes von Hanns Cibulka unter Einbeziehung nicht weniger seiner Gedichte anders sehen: es herrscht nicht mehr der Eindruck, er verzettele seine Aussagen zu dieser oder jener Zeit, diesem oder jenem Gegenstand. Jetzt kann man sagen: er sammelt Fragmente fast wie Mosaik-Steine, aber durchaus mit dem Ehrgeiz, zu keinem endgültigen, keinem fertigen Ergebnis zu gelangen. So kann man, was er hier zu und über Empedokles schreibt, in Beziehung bringen zum gleichnamigen Gedicht oder einem, in dem der Name sich nur in einer Verszeile findet. So kann man den Gesamtkomplex Sizilien, zusammengesetzt aus Kriegserleben und dem Erleben der Gefangenschaft, mit Passagen in anderen seiner Bücher zusammendenken und deuten.
Die Aussagen zum Thema Fragment passen zu Sätzen aus „Dornburger Blätter“: „Ich liebe die Skizze, sie ist Aufbruch, kennt noch nicht das Ende, sie ist immer noch auf dem Weg. Eine Erzählung oder eine Novelle verlangt Ausgewogenheit, Geschlossenheit bis in den letzten Satz, in der Skizze dagegen lebt noch immer das uralte Misstrauen gegen die Fertigkeit, gegen die Vollendung, die Form.“ Dort steht auch, was zu weiten Teilen die Art des Gesamtwerkes erklärt und auf Empedokles vorweist: „Ich habe in den letzten Jahren wiederholt bemerkt, dass mich die Fragmente eines Schriftstellers, seine Aufzeichnungen, seine Skizzen oft mehr ansprechen als ein in sich geschlossener Roman.“ So trägt denn auch nur ein einziges seiner Bücher, das späte „Sonnenflecken über Pisa“ (Leipzig 2000) die Gattungsbezeichnung Roman. Auch Sizilien kommt in „Dornburger Blätter“ vor: „Meine Generation hat Italien anders erlebt, wir sind anders nach Sizilien vorgestoßen. Wir sind des Nachts durch die Städte und Dörfer gefahren, mit Zugmaschinen, immer die Küstenstraße entlang, tagsüber lagen wir in den Olivenhainen, in voller Deckung.“ Man mag Vergleiche anstellen, ob sich Sichten und Perspektiven änderten im Lauf der Autoren-Jahre.
„Nachtwache“ enthält beinahe kontrapunktisch Betrachtungen zu zwei Gesichtern, einem preußischen, angeregt durch den Major von Treptow, und einem ukrainischen, angeregt durch einen gefangen genommenen General der Roten Armee. Ich gestehe, von solchen physiognomischen Meditationen wenig zu halten, weiß aber, dass sie für Cibulka keineswegs Spielereien waren. In „Dornburger Blätter“ stehen dazu solche Sätze: „Wie gut, dass es für das menschliche Gesicht keine Kleider gibt.“ „Wo auch immer das Geistige im Leben sichtbar werden will, verlangt es nach dem Gesicht des Menschen.“ Und schließlich, die eigene Ambition explizit formulierend: „Wie selten wurde in unserer Literatur der Versuch unternommen, im Gegensatz zur Malerei, das Gesicht eines Menschen zu beschreiben.“ Cibulka nennt als Ausnahme Johannes Bobrowski, damit ist auch klar, was er mit „unserer Literatur“ eigentlich meint. Denn im Gefolge Lavaters gab es jahrzehntelang Gesichtsbeschreibungen in der Literatur, die aus Kinnen und Nasenflügeln und Stirnhöhen ganze Charaktere zu deuten unternahmen. Cibulkas Satz wäre, dahin blickend, einfach falsch. Falsche Sätze, man muss es nicht beschönigen, gibt es in allen seinen Büchern immer wieder, auch hier.
Oder sagt der Satz „… denn auf den Schlachtfeldern bleiben immer nur die Namenlosen zurück“ irgendetwas Wahres? Im Gedicht ginge er vielleicht durch, wäre vielleicht nur keine besonders gelungene Zeile. Auf Seite 156 findet man dies. „Ich könnte mir vorstellen, dass eines Tages die Soldaten auf beiden Seiten in ein ungeheures Gelächter ausbrechen werden … und ganz einfach die Uniformen ausziehen, nicht mehr mitmachen. …Gerade deshalb, weil es in der europäischen Geschichte ein solches Gelächter noch nicht gegeben hat, muss man darüber schreiben, damit es eines Tages Wirklichkeit werden kann.“ Es hat solch ein Gelächter auch auf der Insel Nauru noch nicht gegeben oder in der Inneren Mongolei. Die Uniform gar nicht erst anziehen, dann müsste man sie auch nicht wieder ausziehen, das wäre eine andere Idee. Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Schöne naive Welt. Wäre ein möglicher Kommentar. Eine Passage liest sich unfreiwillig prophetisch: „Wenn wir die Mauer in uns nicht einreißen, werden wir geistig und seelisch austrocknen; was zurückbleibt, wird eine Mumie sein.“ Da war noch nicht einmal die Mauer außer uns, die Mauer eben, gefallen, kein Gedanke daran denkbar. Vorerst feiern wir erst einmal heftig.
„Woher kommen die fiktiven Bilder, die man von einem Land, das man noch nie gesehen hat, mit sich herumträgt?“ fragte sich Cibulka. Und er kommt natürlich auf Goethes „Mignon“. Wie er bei Gelegenheit eines Straßenschildes mit der Aufschrift Cosenza an August von Platen dachte. An den denkt heute niemand mehr, wenn er Cosenza liest, denn das Gedicht ist seit langem kein Lernstoff mehr in den Schulen. Cibulka (Jahrgang 1920) wie auch mein Vater (Jahrgang 1921) kannten es auswendig, ich hörte es in Abständen immer wieder einmal. Einmal, ich will es allein des Spaßes halber erwähnen, fühlte ich mich an der Seite des Soldaten Hanns Cibulka, wenn auch nicht in Sizilien, wo ich bis heute nie war: „Marschpause. Das verspätete Abendbrot wird ausgegeben, Milchreis mit Aprikosen. Die Konserven mit der Blutwurst flogen in den Straßengraben.“ War in mancher Hinsicht die NVA näher an der Wehrmacht, als wir alle gern glauben? Wir warfen auch ohne vorherigen Milchreis mit Aprikosen den Chester-Käse in Büchsen in den Wald und das grüngraue Atombrot in der Plastikhülle nach deren Entfernung hinterher. Noch die Pikkolo-Flöte im Marschtritt verbindet mich mit Cibulka. Ein wenig auch sein Autogramm in meiner „Nachtwache“.
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