Tagebuch
6. August 2018
Der kleine Rucksack reichte hin. Die Hauptübung des langen Marsches über die einstige Stalinallee zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Allee hieß Verzicht. Immerhin erwarben wir zwei kleine Bierkrüge, die man sich hätte bis zum Umfallen füllen lassen können zum Sonderpreis von 2,50 Euro für 0,2 Liter Bier. Ich trank ein polnisches Kirschbier, Kirschbiere gibt es längst nicht mehr nur in Belgien, lagerte fünf Sorten der 1. Dampfbierbrauerei Zwiesel und kaufte kurz vor dem Heimgang noch drei nette Exemplare aus einer mir bis dato unbekannten tschechischen Brauerei. Heute ein Wiedersehen mit dem Tierpark Berlin, in dem ich mindestens 35 Jahre nicht mehr war. Wir sahen Fütterungen: Eisbärin Tonja, die Pinguine getrennt in zwei Gruppen und schließlich die asiatischen Elefanten: dabei die Lehre für die Enkel vom moderierenden Tierpfleger: Wer bettelt, bekommt gerade nicht zuerst. Die Attraktion: der jüngste Rüsselträger der Gruppe heißt Edgar.
5. August 2018
Wir werden heute die Berliner Biermeile besuchen, wenn wir unser Stammquartier in der Wielandstraße bezogen haben. Wie groß der Rucksack sein soll, den wir zum Abschleppen brauchen, haben wir noch nicht verhandelt, es muss auf alle Fälle reichen, um zwei Kühlschränke leidlich zu bestücken. Wir nehmen nicht gleich den frühen ICE wie sonst, schlafen etwas länger. Wir haben der Werbung folgend das BahnBonus Programm für uns entdeckt, Willkommenspunkte gesammelt, es fehlt nun nur noch, dass wir uns im Alter zu Humoristen entwickeln mit Westberliner Zweitwohnsitz. Karten fürs Schöneberger Südgelände sind reserviert. Paul Claudels morgigen 150. Geburtstag lassen wir andächtig schweigend an uns vorbeirauschen, weil wir morgen überhaupt ein Schweigen beginnen, welches nach Beendigung durch Nachträge ersetzt wird. In Meiningen wird weiter an einer Doktorarbeit über mein erstes Shakespeare-Buch gearbeitet, Abgabetermin 2021.
4. August 2018
Hätte ich nicht einen Teller holen wollen, ihn unter die Kerze auf dem Balkon zu stellen, damit das Wachs nicht auf den Teppich tropft, hätte ich das wilde Rauschen in der Küche nicht gehört und folglich auch nicht nach seiner Ursache gesucht. Zu spät war es ohnehin schon, in Küche und Bad tropfte es von der Decke, im Bad war der Lampenschirm bereits voller Wasser, was der ältesten Energiesparlampe unserer Wohnung den Gnadentod schenkte. Inzwischen schon ein junger Mann an unserer Tür, der sich nach einem Wasserrohrbruch bei uns erkundigte, eine Etage über uns wurden wir fündig. Immerhin, den Notdienst zu alarmieren, war bis dahin niemandem eingefallen. Die Wohnung im Erdgeschoss erlebte auch schon leichte Flutung, man merkte es aber erst, als ich die Klingel drückte. Heute Morgen zeigen die Wasserflecke an den Decken braune Färbung, Fotos zu Beweiszwecken für die Versicherung sind gemacht. Zum Ausgleich lese ich über Minnesänger.
3. August 2018
Für bescheidene 32.500 Euro kann man eine ZEIT-Busreise von Hamburg nach Shanghai und zurück unternehmen. Wer das Doppelzimmer nicht allein beziehen will, muss weitere 32.500 Euro auf den Tisch legen. Der Einzelzimmerzuschlag wäre teurer als die teuerste Reise, die ich je im Leben mit Frau und Kindern gemeinsam absolvierte. Die Reise dauert vom 16. Mai bis zum 28. August, man soll also nur mitfahren, wenn man Kohle und unendlich freie Zeit hat. Man erfährt von dieser Reise nebenbei, welche Zielgruppe das im weitesten Sinne eher linke Wochenblatt aus Hamburg wirklich hat. In der gestrigen Ausgabe war das nicht nur der Reisebeilage zu entnehmen, sondern auch einem wie immer lesenswerten Lang-Text von Bernd Ulrich, der sein veganes Jahr vermarktete. Auf was für unfassbare, irrwitzige und irrsinnige Gedanken man kommen kann, wenn man nur ein einziges „l“ weniger im Namen hat! Darf eine Veganerin SUV fahren?? Ja, darf sie??
2. August 2018
Wenn ich im Vorjahr ein Lutherbier trank, dann hatte das sehr wohl mit Martin Luther zu tun. Wenn ich jetzt ein Kellerbier aus dem Kühlschrank hole, dann vor allem, weil es ein neues Sammlerstück ist, das der Trend zu Kellerbieren auch in solchen Brauereien mir zuführt, die sonst der Naturtrübe eher abhold waren. Gottfried Keller bleibt außen vor und das nicht nur, weil der eher dem Weine als dem Biere huldigte, dies aber dafür umso emsiger. Wenn im kommenden Jahr 2019 der kleine Mann mit dem großen Kopf (wer nannte ihn so?) und der noch größeren Vorliebe für das Ausrufezeichen seinen 200. Geburtstag haben wird, werde ich trotzdem bei jedem Kellerbier seiner gedenken. Bis dahin will ich nicht nur „Kleider machen Leute“ einer Re-Lektüre unterziehen, welches ich am 5. März 1970 als Goetheschüler zuerst las, also nach den vorletzten Halbjahreszeugnissen. Damals ahnte ich nicht, dass ich eines gar nicht fernen Tages auf Quartiersuche in Glattfelden sein könnte.
1. August 2018
„Der Schweizer Dichter, der am 1. August, dem schweizerischen nationalen Feiertag, am meisten zitiert wird, heißt Gottfried Keller. Mit ihm gelingen patriotische Erhebungen scheinbar am leichtesten.“ Schrieb der Schweizer Werner Weber in seinem Buch „Zeit ohne Zeit“. Ich denke zu diesem Datum immer an meinen Freund Escher, der heute 66 Jahre alt wäre und außerdem, siehe gestern, natürlich an unsere Ankunft in Kaysersberg vor 20 Jahren. Es war unfassbar warm, wir fanden bei der ersten Umgebungserkundung Brombeeren in einem Reifegrad, der mir noch jetzt das Wasser im Munde zusammen laufen lässt. Ein wenig irrten wir umher, bis wir auch ohne Navi unser Domizil gefunden hatten, dann aber begannen zwei Elsass-Wochen mit vielen Eindrücken, die jetzt lebendig sind, als wären sie von vorgestern. Nicht nur, weil wir die wohl dämlichsten Bürger des Altbundesgebiets trafen, Autokennzeichen für Mettmann. Sie fragten: Und wo sind die Vogesen?
31. Juli 2018
Alfred Webers 150. Geburtstag hätte mich gestern beschäftigen sollen, zumal der Gute ja in Erfurt geboren ist und ich mir sogar eigens zwei Bücher von ihm in Sichtweite hinlegte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Eins ist ein Lesebuch mit dem Titel: „Haben wir Deutschen nach 1945 versagt?“ Meine spontane Antwort wäre: Wir haben damit bedeutend früher angefangen, aber so war die Titelfrage sicher gar nicht gemeint. Das andere heißt „Das Tragische und die Geschichte“ und interessiert mich vor allem wegen der Kapitel über die Griechen und ihre Tragödie. Das hat mich schon in meinen ersten Studiensemestern beschäftigt, momentan aber gründle ich im 19. Jahrhundert. Nachdem eben per Mail zwei Kartenbestellungen bestätigt wurden, sehe ich einem August entgegen mit dreimal Shakespeare und gar kein „Sommernachtsraum“ dabei! Vor 20 Jahren schon unser letzter Tag in Soubey vor der Weiterreise nach Frankreich mit Quartier in Kaysersberg.
30. Juli 2018
Kate Bush war mir immer um Längen sympathischer als George Bush oder gar George W. Bush. Dennoch hätte ich mich bei einer Wahl zwischen Stille im Haus und Gesängen von Kate Bush sofort für Stille entschieden. Heute wird die Gute 60 Jahre alt, mein YouTube führt mich zu ihrem koloraturigen „Wuthering Heights“, ich sehe sie im dunstigen Hochwald und feuerrot gekleidet wie einen überdimensionalen Bodenschmetterling über Gras wuseln. Immerhin, das Lied nimmt seinen Titel vom Roman der Emily Brontë und die wiederum hat heute ihren 200. Geburtstag. Der Roman trägt den deutschen Titel „Sturmhöhe“ und ist so oft verfilmt worden, dass ihn wahrscheinlich längst niemand mehr lesen muss oder will. Auch Haylay Westenra sang „Wuthering Heights“ mit höchster Stimme und ganz in Schwarz. Wer diese Dame ist, weiß ich nicht und bin auch unwillig, es herauszufinden. Beth Hart hat den Titel sicher nie gesungen, auch dafür mag ich sie ganz gern.
29. Juli 2018
Natürlich kann man von einem Nachrichtenmagazin, das am Sonnabend an den Kiosken und in Briefkästen liegen soll, nicht verlangen, dass es mit schönen Fotos der schönsten Mondfinsternis seit Jahren aufwartet, unsereiner saß buchstäblich stundenlang auf dem Balkon und starrte auf das Himmelsphänomen, bis der Mond schließlich in der Nacht wieder leuchtete wie Donald Trumps auf Europa gerichteter Flakscheinwerfer. Aber muss der SPIEGEL ersatzweise Mesut Özil auf den Titel knallen? Wir haben hier inzwischen noch einen herrlichen Doppelregenbogen gehabt. Wir sollten, falls wir tatsächlich glauben, was politische und mediale Sommerloch-Stopfer von sich geben, unser Gemeinwesen grundsätzlich in Frage stellen, wenn ein wahrnehmungsgestörter Fußballer die Politik von Jahren zu gefährden in der Lage wäre. Dem Amtsblatt entnahm ich den Wahltermin für unseren neuen Oberbürgermeister, der vorher schon einmal herumsickerte: es ist der 21. Oktober.
28. Juli 2018
Wie oft im Leben wird man Zeuge der Explosion eines Hundekacke-Behälters? Der gemeine Schweizer, eifriger im Aufsammeln dieser Häufchen als der gemeine Berliner in diesem Jahr 1998, bereitet sich auf seinen Nationalfeiertag am 1. August vor und zu dieser Vorbereitung gehört wohl auch das Testen von Feuerwerkskörpern. Der Knall mit Folgegestank überraschte uns im Park des Uhrenmuseums von La Chaux de Fonds, wo wir uns eben am Klang des modernen Glockenspieles erfreut hatten und den Nachklang der phantastischen Exposition genossen. Jan Ullrich, immer noch er, siegt in einem Millimeter-Finish an diesem 28. Juli 1998, ganz aufgegeben hatte er sich noch nicht. Zehn Jahre später quälte ich mich ein wenig an Heinrich Bölls „Kreuz ohne Liebe“ und deutlich weniger mit „Venetianischen Epigrammen“. Begleitend las ich in Walter Dietzes Aufsätzen über Goethe mit dem Titel „Kleine Welt, große Welt“, ein Epigrammfreund werde ich wohl nie.
27. Juli 2018
Als Mick Jagger am 26. Juli 1973 30 Jahre alt wurde, war das jenen, die laut Zeitgeist-Feuilleton niemandem über 30 zu trauen beschlossen hatten, eine Elementarkatastrophe, vergleichbar mit der Ablösung der Dinosaurier durch kleine raffzähnige Nagetiere, die aus ihren Höhlen unter der Erde krochen. Gestern feierte NEUES DEUTSCHLAND auf fast einer ganzen Seite den 75. Geburtstag von Mick Jagger ab, Walter Ulbricht, der „jeah-yeah-yeah“-Feind, letzte Tage verdämmernd 1973, würde wohl schreiend vom Dach des Staatsratsgebäudes gehechtet sein, hätte er sein Zentralorgan so lesen müssen. Heute wird Margarethe Schreinemakers 60, schon lange langt sie niemandem mehr ans Knie oder weint ins sat1-Mikrofon. Barbara Rudnik dagegen, die auch 60 würde, lebt nicht mehr, leider, ich mochte sie, egal in welcher Rolle. Jan Ullrich, schon wieder er, rollte am 27. Juli 1997 als erster deutscher Sieger ins Pariser Ziel der Tour de France, Dopingverdacht noch fern.
26. Juli 2018
Das abendliche Sitzen auf dem Balkon hat mannigfache Nebeneffekte. Wir kennen die Standorte der immer bellenden Hunde. Wir wissen, welche Hunde nur kurz nach draußen kommen, um ihre Anwesenheit im Hunde-Universum wuffig zu dokumentieren. Ein Vogel in den Büschen hat sich offenbar das Nest nicht weich genug gepolstert, er raschelt allweil in den Blättern wie größere Zweibeiner auf den falschen Matratzen. Die Kerze, die besser brennt, duftet nicht. Die Kerze, die besser duftet, brennt schlecht. Wir lassen Balkone Revue passieren, auf denen wir mit Kerze beim Wein saßen: Comer See, Luganer See, Sarner See, Bodensee. In den späten 60ern wären wir als Romantiker durchgegangen, man filmte die Candle-Light-Dinner mit Weichzeichner, der Sex hieß noch Erotik. Der Blick ins alte Tagebuch führt nicht nur zu Jan Ullrich, sondern auch zu Marco Pantani, den es später erwischte. Vorher sahen wir eine Reportage aus der Pizzeria seiner Eltern.