Tagebuch

21. Dezember 2018

Kein halbes Jahr mehr und alle Freitage werden so sein im Rentnerleben: gemeinsames spätes Frühstück nach durchhusteter Nacht, das Frühstücksei in der Grauzone zwischen hart und weich, die Geschmacksnerven noch immer auf halber Leistung. Wir bereisen ein altes Neubauviertel der Stadt, um im dortigen Supermarkt das eine oder andere zu erwerben, was andere Supermärkte in dieser Qualität nicht vorweisen können. Es gelingt uns nicht, an der Salattheke vorbei zu kommen, ohne einige Gramm in die Plastik-Schachteln zu schaufeln, die wir auch in diesem Jahr nicht ins Meer werfen, sondern in die gelbe Tonne. An einem Sanddorn-Spezialregal verharren wir länger, aus dem Weinregal entnehmen wir einen Gemischten Satz aus Wien, den wir hierzulande noch nie erblickten. Es gießt wie aus Eimern, was uns die schaurige Empfindung vermittelt, dass das auch Schnee hätte sein können. Es gibt eine feurige SPIEGEL-Affäre, die uns erheitert und erschreckt.

20. Dezember 2018

Es löst nicht prinzipiell eine Schrecksekunde aus, wenn ich gealterte Ex-Kollegen plötzlich und unerwartet im Fernsehen erblicke, emsig mit dem Schreibgerät ins Blöcklein notierend. Es löst im speziellen Fall einen Empörungsreflex in mir aus, ich bin also auf gutem Weg, mich der Mechanik  unserer freiheitlich-demokratischen Gesinnungsdiktatur anzupassen. Es gibt in der Technischen Universität Ilmenau Bettwanzen, Lehre daraus: Man kann auch ohne einen ausländerfeindlichen Übergriff in die Schlagzeilen kommen. Das war nicht immer so. Als mich 1996 eine mir nahe stehende Person weiblichen Geschlechts informierte, dass in ihrem Studentenwohnheim am Ernst-Reuter-Platz zu Berlin, zur Freien Universität gehörig, Kakerlaken zur Grundausstattung gehören, riet ich weder, den Studierendenrat um Alarmauslösung anzugehen noch bat ich den RBB, das Faktum in die Abendnachrichten zu hieven. Und wir redeten nicht von begleiteten Fahrten im Lift.

19. Dezember 2018

Es gibt immer nur zwei Möglichkeiten: entweder der Fahrstuhl ist weg, mit dem ich eben in den Keller gefahren bin oder der Fahrstuhl ist weg, mit dem ich eben in den Keller gefahren bin. Wenn eine dritte Möglichkeit eingetreten ist, bin ich jedes Mal völlig verstört, um im Kritikerton zu reden, an dem ich mich heute wieder leidlich üben durfte. Seit wir den Fahrstuhl haben, zwei Jahre sind es jetzt, geht immer wieder die Rede, wie gesund es sei, zu laufen. Andererseits gibt es Leute, die nur deshalb mit dem Fahrstuhl aus dem Erdgeschoss in den Keller fahren, weil sie ihn ja auch mit bezahlen müssen, ohne ihn zu brauchen. So geht es im Leben. In Coburg war alles, was zuletzt gesperrt war, frei, dafür die Poller nicht gesenkt am Hinterausgang des Schlossplatzes, so dass ich endlich einmal wieder Wenden in sieben Zügen üben konnte, wozu es sonst selten Gelegenheit gibt. Heute feiern wir Geburtstag und überreichen ein Geschenk, für das der Auftrag rund ein Jahr alt ist.

18. Dezember 2018

Bis 2010 muss ich zurückgehen, um ein Jahr zu finden, in dem ich weniger Bühnentexte las als in diesem Jahr 2018. Da ist auch nichts mehr zu retten. Immerhin: „4.48 Psychose“ von Sarah Kane kenne ich nun. Ob mir diese Kenntnis am Abend in der Coburger Reithalle hilft, wage ich kaum zu prognostizieren. Es gibt keine Rolle in diesem Stück, keine Namen, keine Handlungen. Vermutlich kann man es inszenieren, wie man eben so Lust hat, mit zwei bis sieben Darstellern, vielleicht auch mit Stimmen aus dem Off und einigen Video-Installationen. Im kommenden Februar wird Sarah Kane 20 Jahre tot sein und als sie geboren wurde, bereitete ich mich auf die letzten Abiturprüfungen vor. Viele, die über sie schrieben, warnten alle anderen davor, dies oder jenes vorschnell zu denken. Sarah Kane soll sich zwischen 1995 und 1999 immer mehr vom Naturalismus entfernt haben. Das macht mich stutzig. War der nicht schon hundert Jahre tot? Oder entfernt sich jeder, wovon er mag?

17. Dezember 2018

Es geht mir besser, aber noch längst nicht gut. Immerhin reicht es zu einer Ausstellungseröffnung. Wann ich zuletzt zu einer war, weiß ich nicht mehr. Ich ließ bisweilen verlauten, es wundere mich, keine Einladungen mehr zu bekommen. Nun hatte ich also eine und da wäre es mir unangenehm gewesen, nicht hinzugehen. Es ist bei diesen Vernissagen wie immer, also so ähnlich wie bei den Premieren: man kennt sich, fällt sich um die Hälse, klopft sich auf die Schulterblätter, es gibt einen musikalischen Rahmen und eine Laudatio auch. Man umschleicht kennerisch die Objekte oder auch einfach nur ahnungslos. Ich gestehe, dass Textilkunst nicht das ist, worüber ich gern meine zweite Diplomarbeit einreichen würde. Der Ehemann der Künstlerin wird gelobt für das Verständnis, das er dem Tun seiner Gattin entgegenbringt. Das finde ich schön. Fontanes Frau wäre mit Verständnis allein nicht weit gekommen, die musste alle Manuskripte wieder und wieder abschreiben. Per Hand.

16. Dezember 2018

Die Zahl der Rotweinkuchen-Verzehrer hat sich nach einer gestrigen Absage um zwei Erwachsene verringert, Kinder waren ohnehin nicht geladen. So muss der Eigenverzehranteil erhöht werden. Meine Blicke in den Text von Sarah Kane, den ich als letzten in diesem Jahr auf einer Bühne meiner Wahl sehen werde, hat mir blankes Entsetzen eingeflößt. Da stehen gleich auf der ersten Seite Sätze, die nur dem Wahnsinn entsprungen sein können, jedenfalls einem nicht rational arbeitenden Gehirn. Dergleichen ist pure Intellektuellen-Belustigung. Liest man dann noch ein paar Kritiken hinzu, sieht man rasch: die Herrschaften haben geradezu verzweifelt versucht, ihrer Ratlosigkeit sprachliche Gestalt zu geben. So liest sich das auch. Im kommenden Jahr muss alles besser werden. Sarah Kane hat sich in sehr jungen Jahren umgebracht, das hilft dem Nachruhm meist bestens, weil jeglicher Spekulation jegliche Tür geöffnet ist. Allerdings sind Kaisers neue Kleider meistens keine.

15. Dezember 2018

Alfred Kosing wird heute 90 Jahre alt. Wie schön das für ihn ist, kann ich aus der Distanz nicht beurteilen. Er schreibt immer noch Bücher. Ob sie jemand liest, kann ich aus der Distanz nicht einschätzen. Meine Suche nach Titeln, die ich von ihm gelesen habe, blieb zu meiner eigenen Überraschung erfolglos, was nur bedeutet: nie habe ich etwas von ihm zu Ende gelesen, nicht einmal „Nation in Geschichte und Gegenwart“, was mich doch überraschte. Die Dialektik des Sozialismus, an der er gern herumdachte, hat sich leider noch vor seinem Renteneintritt als leicht inkonsistenter Gegenstand erwiesen. Ihre Vordenker litten, wie sich herausstellte, unter einer nicht therapierbaren Verkürzung der revolutionären Perspektive. Man könnte auch von akuten Störungen des Wahrnehmungsvermögens sprechen. Ich habe den Tag für Archivarbeit verschleudert, etliche neue Häufchen aus einem alten Haufen gebildet, nun muss alles nur noch in die wartenden Ordner.

14. Dezember 2018

Könnte ich den gestrigen Tag einfach streichen, müsste ich es tun: eine Todesnachricht, eine Nachricht von schwerster Erkrankung ohne viel mehr Horizont als 24 Stunden. Im Auto nach Meiningen alle Gedanken verbannt in diese Richtungen, in einer Wolke aus Husten-Hals-Brust-Mitteln sitzend, dann aber freundlich begrüßt: Pressesprecherin in den Kammerspielen, die sonst immer nur im Großen Haus wartete, ein Kollege reicht mir die Hand, obwohl ich bisweilen lästerliche Sätze über ihn zu Papier bringe, ohne ihn zu nennen. Ich überstehe zwei Stunden mit Pause ohne einen einzigen nennenswerten Hustenanfall, neben mir sitzt der Schauspieldirektor, zwei Reihen hinter mir die schönste Kritikerin westlich der Bleilochtalsperre und südlich von Spitzbergen. Heute brauche ich als Rekonvaleszent fast doppelt so lange wie sonst, bis mein Theatergang zu, beinahe hätte ich: Papier geschrieben, gebracht ist. Was auf die Länge schlägt.

13. Dezember 2018

Berlin arm, aber sexy? NEUES DEUTSCHLAND weiß es besser und sich vor Freude fast nicht zu halten: „Berlin kann sich vor Steuereinnahmen derzeit kaum retten.“ Was macht man da ohne jede Rettungsweste am gescheitesten? Flüchten vor der Geldflut? Der Steuerwelle? Aber wir wissen ja, Flut und Welle sind Pfuiwörter. Darf man nicht sagen. Diskriminiert die Steuereinnahmen. Schulden abbauen? Weniger am Länderfinanzausgleich lutschen? Nein, besser: Schulessen und Schülerticket kostenlos. Weil das den Eltern hilft. Knapp sechzig Euro im Monat mehr, mehr als 700 Euro im Jahr, da tanzt der Konjunkturbär ohne Nasenring auf seinem linken Bein. Nun soll es aber in Berlin laut ND sogar Menschen geben, die fragen nach der Qualität des kostenlosen Schulessens. Das geht gar nicht, streng gesehen. Was nichts kostet, kann nicht außerdem auch noch etwas taugen. Deshalb wird die Bahn ja immer teurer: weil sie mich 2018 neun- von zehnmal pünktlich nach Berlin fuhr. 

12. Dezember 2018

Natürlich hätte ich gestern wie jetzt wiederholen können, was ich für Montag schrieb: ich las heute  nichts, schrieb nichts, wollte nichts, aß (fast) nichts, trank eimerweise und hustete und hustete und hustete. Hätte ich ein empfindsames Mikrofon, hätte ich die lustigen Melodien aufnehmen können, die sich im Liegen meinen für die Atmung zuständigen Organen entrangen. Ich sah viel fern, das geht verbunden mit vollkommener Trägheit. Ohne diese fast antriebslose Apathie hätte ich meine Meininger Lieblingsschauspielerin nie gesehen in ihrer Nebenrolle als Schwester mit Häubchen und Rosenkranz zwischen den Fingern. Meine Neigung zur Arztserien ist fast noch geringer als die zu fuchtelnden Hiphop-Gestalten. Und die ist von Null schon nicht zu unterscheiden. Ich sehe sie im Theater lieber, logisch, verstehe aber, dass selbst fest engagierten Mimen hierzulande die Tauben nur als fleischarme Skelette ins Maul fliegen, da muss her, was kommt, wenn es nicht peinlich ist.

11. Dezember 2018

Natürlich enthält mein alter Literaturkalender den Geburtstag von Alexander Solshenizyn nicht. Als er erschien, war die Welt zwar nicht mehr in Ordnung, aber das reichte nicht aus. Zu den hektischen Final-Bewegungen der untergehenden DDR gehörten einige Buchausgaben, die während der 40 Jahre davor als undenkbar galten, so auch eine Taschenbuch-Ausgabe von „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“. Solshenizyn ist in Kislowodsk geboren, wo 60 Jahre später zufällig mein Vater eine mehrwöchige Kur absolvieren durfte mitten unter im Kern gesunden DDR-Funktionären und betreut von unfassbar toleranten Sowjetärzten, und nie erfuhr, welchen Umständen er das verdankte. Meine DDR-Solshenizyn-Ausgabe hat im Lauf der Jahre an verschiedenen Regalorten gestanden, der Preis von 4,80 ist mit Kugelschreiber auf den Titel geschrieben, nur mein Interesse an Gulag-Enthüllungen hat im Lauf der Jahre so stark abgenommen, dass ich sie wohl nie mehr lesen werde.

10. Dezember 2018

Was mich gestern am zweiten Teil meiner normalen Oma-Transportmission hinderte, hindert mich heute an allem, selbst das Schlafen will nicht halbwegs gelingen. Las ich gestern immerhin noch 30 Seiten Gottfried Keller mit einem sympathischen Einstieg, der dann aber in einer analytischen Orgie deutenden Beschreibens verfloss, was Keller, das Schlitzohr, selbst bemerkte, und deshalb Zuhörer des geschriebenen Monologes einschlafen ließ, las ich heute gar nichts, schrieb nichts, wollte nichts, aß (fast) nichts, trank eimerweise und hustete und hustete und hustete. In deutlich jüngeren Jahren nahm ich in solcher Situation einmal Codein, was mich fast umbrachte, seither habe ich rezeptpflichtigen Medikamenten in dieser Sache abgeschworen. Ich nehme ohnehin viel zu viel Zeug, das mit seinen Nebenwirkungen nur darauf wartete, bis ich das Rentenalter erreichte. Ein Kurzausflug zum Bäcker, der montags geschlossen hat, führt mich alternativ zum Geldautomaten.


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