Tagebuch

23. Mai 2018

„Ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass Kunstkritiker von allen Menschengattungen am schwersten für solche Gesichtspunkte zu haben sind und lieber die Welt untergehen lassen, als dass sie ein Werk nicht in Grund und Boden kritisieren, wenn es ihren künstlerischen Bestrebungen nicht entspricht.“ Der dies schrieb, bezogen auf politische Gesichtspunkte bei der Kunstbetrachtung, hat heute seinen 150. Geburtstag: Harry Graf Kessler, der Mann, der 10.000 Seiten Tagebuch hinterließ, in denen 12.000 Namen mehr oder minder, oft sehr, bekannter Menschen vorkommen. Sein Vater war nicht Kaiser Wilhelm I., was immer wieder gern betont wird, für NEUES DEUTSCHLAND schreibt, wann immer sich die Gelegenheit ergibt, Klaus Bellin über ihn, lang lebe Klaus Bellin! Und Schütt natürlich auch, denn bei und für Journalisten gilt der alte Klassenkampfspruch „Die Enkel fechten’s besser aus“ wahrscheinlich eher nicht. Der Graf und Weimar: Feuilletonthema.

22. Mai 2018

Der 22. Mai 2018 geht in unsere individuelle Wohn-Geschichte ein. Seit heute haben wir sechs Rauchmelder in unserer Wohnung, nur in der Küche und in den Bädern sind keine an der Decke. Wenn ich also jetzt den Clubabend der Pfeifenraucher-Freunde zu Gast habe, können alle fröhlich vor sich hin schmauchen. Wenn der Grenzwert überschritten wird, geht der Alarm los, den wir, weil die Rauchmelder hochtechnologisch sind, mit einem Knopfdruck abstellen können. Wenn wir das nicht tun, rücken alle verfügbaren Feuerwehren aus oder nicht. Wenn der Hauptlöschangriff über den Balkon erfolgt, können wir vielleicht später eine neue Balkontür einfordern. Ob das Anbraten von Schweinefleisch in der Küche mit den üblichen nebligen Folgen für den nicht isolierten Rest der Wohnung künftig Rauchmelder-Alarm auslöst, wissen wir noch nicht. Auf alle Fälle muss nun wohl jeder eine handhabbare kleine Leiter vorhalten, damit er rasch den Fehlalarm-Knopf erreicht.

21. Mai 2018

Pfingstmontag ohne Kalauer, dafür mit Selbstkritik: den heutigen 80. Geburtstag von Urs Widmer wollte ich einer langfristigen Terminplanung zufolge mit einem Beitrag würdigen, der dem recht umfangreichen Bühnenschaffen des am 2. April 2014 verstorbenen Schweizers gelten sollte, die Vorarbeiten waren angelaufen. Zu viel ist dazwischen gekommen. Dafür macht mir schmerzlich staublangweilige Morgenlektüre bewusst, dass nicht jeder große Gegenstand seine Behandlung zugleich schon adelt. „Über die Ironie bei Goethe“ heißt, was ich las, Verfasser Hans-Egon Hass. Man kann, verblüffend genug, problemlos angespannt über Lockerheit, schwer über Leichtigkeit und ironiefrei über Ironie schreiben, ohne darüber von auch nur von irgendeinem Skrupel befallen zu werden. Da ich mich zeitgleich auch noch mit einem von Redundanzen strotzenden Helmut Koopmann beschäftige, nur in kleinsten Portionen verkraftbar, entfliehe ich jetzt Goethe gen Sauna.

20. Mai 2018

Der Kalauer zum Pfingstsonntag: Mega-Event war gestern, jetzt ist Megan-Event. Wobei Megan nicht die fleischlose oder gar vollkommen tierproduktfreie Form vom Mega ist. Während ich mit anderthalb Augen dem Geschehen auf dem Bildschirm folgte, welches sich in Windsor abspielte, wo ich, wie es der Zufall will, vor ziemlich genau 25 Jahren bei ähnlichem Wetter lustwandelte, nur waren wenig Prominente da, den Erzbischof von Canterbury traf ich nicht einmal in Canterbury, auch beim zweiten Versuch sieben Jahre später nicht, währenddessen also, schrieb ich mit den anderen anderthalb Augen auf meinem Computer-Bildschirm eine Besprechung von „Dantons Tod“ in Meiningen. Dass sie erst heute zu späterer Stunde im Netz erscheint, liegt am Finanzamt. Dieses verhagelte mir mit einem hier unter mühsamster Beherrschung nicht näher charakterisierten Brief den Tag so gründlich, dass mich nicht einmal die Freude über den Pokalsieger Frankfurt ermunterte. 

19. Mai 2018

„Am 19. Mai abends halb zehn Uhr traf Schiller in Rudolstadt ein und stieg im Gasthof „Zur Güldenen Gabel“ in der Neuen Gasse ab. Am folgenden Tag siedelte er, nicht ohne Lengefelds einen ersten Besuch gemacht zu haben, in das bereitstehende Quartier in Volkstedt über.“ So steht es bei Fritz Kühnlenz, der zwar kaum noch genannt oder gar gewürdigt wird, aber dennoch im rein Faktischen immer eine solide Quelle bietet, nicht nur mit seinem „Schiller in Thüringen“, auch mit  beiden Bänden seiner „Weimarer Porträts“, dem einen mit den „Eisenacher Porträts“. „Eine kleine Stunde von Rudolstadt“ fand sich Schiller, wie er das seinem Freund Körner beschrieb. 1788 war das und wir können inzwischen über Liebe, Doppelliebe, heimliche Liebe fast mehr nachlesen als uns interessiert. In Meiningen fehlte gestern Thüringens Haupt- und Staatskritiker aller Blätter, ihm entging ein fordernder Büchner, ein splitternackter Marion-Monolog, ein sehr starker Robespierre.

18. Mai 2018

Am 24. April 1981 sahen die Berliner Premierengäste erstmals Büchners Drama „Dantons Tod“ in einer Spielfassung, in der Regisseur Alexander Lang sowohl den Danton als auch den Robespierre von ein und demselben Darsteller spielen ließ: von Christian Grashof. Heute sehe ich in Meiningen „Dantons Tod“ mit Anja Lenßen als Danton, es gibt nicht annähernd so viele Doppel- und Dreifach-Rollen wie seinerzeit am Deutschen Theater. Am 18. Mai 1993, das Vierteljahrhundert ist um, sah ich mit meinem Vater schon auf der Heimreise erstmals Stift Melk, wo ich später mit viel mehr Zeit und Ruhe erneut der Pracht erlag. Mein Foto von der Raststätte Jura Ost scheint unwirklich nach all den Jahren, sie war damals wohl noch nicht Sammelplatz bestimmter Großfamilien aus Ländern des europäischen Südostens vor der Weiterreise. Einen versiffteren Rastplatz voller Müll und ungeniert neben ihre Autos pinkelnder Männer wenige Jahre später sahen wir nie, wir meiden den Ort seither.

17. Mai 2018

Das letzte Foto vom 16. Mai 1993 ist aus der Gondel des alten Riesenrades geschossen, das erste vom 17. Mai zeigt einen Blick auf Schloss Esterhazy in Eisenstadt, das wir dann auch von innen sahen. Im Juni 2012 verbrachten wir eine ganze Woche am Rand von Eisenstadt in einer hübschen Ferienwohnung, die uns spät, aber für immer an das österreichische Institut des Buschenschanks band, da lebte mein Vater allerdings schon fast acht Jahre nicht mehr. Per Schiff der Mörbischer Schifffahrt Weiss befuhren wir den Neusiedler See, mitten im Wasser der runde Grenzpunkt zu Ungarn. Dann der Römersteinbruch St. Margarethen, in dem ich die erste Smaragdeidechse meines Lebens vor die Linse bekam. In Gumpoldskirchen die touristische Massenabfertigung mit sehr viel Schweinshaxn und noch mehr Sauerkraut und natürlich großen Bieren für uns Ostgermanen, die mit Weinkultur noch nichts am Hut hatten, weil ihnen „trocken“ Synonym für „sauer“ war. Arme Ossis.

16. Mai 2018

Die Stadtrundfahrt am 16. Mai 1993 führte Vater und Sohn zuerst zum Schloss Schönbrunn, dann zum Hundertwasser-Haus. Die Busreisen-Abfütterung gab es am Prater, der Futterplatz hieß „Zum Walfisch“, was mich an einen Schulfreund aus Gehrener Grundschul-Jahren erinnerte, der es sich mit der Heimatkunde-Lehrerin verdarb, weil er sie darauf aufmerksam machte, dass Wale eben keine Fische sind. Natürlich gab es Wiener Schnitzel. Dann Schloss Belvedere. Ich belichtete eine Gedenktafel für Jan Sobieski an der Augustiner-Kirche und ein Schild für Fiaker-Rundfahrten, auf dem die Preise unkenntlich gemacht worden waren. Auf einem Foto am Maria-Theresien-Denkmal sehe ich aus wie jemand, der nicht sehr gesund ist, ob das schon die Andeutung des Infarkts war fünf Monate später, weiß ich natürlich nicht. Hunderte von Überstunden seit April 1990 forderten einfach ihren Preis. Im Burgtheater war ich bis heute nicht, damals hätten wir gar keine Zeit gehabt.

15. Mai 2018

Das war eine Vatertagsreise, die schon zwei Tage vor dem Vatertag endete und mit dem Vatertag nichts zu tun hatte in ihrem Programm. Der Thüringer Reisedienst seligen Angedenkens lud für den 15. Mai 1993 zu einer Fahrt nach Wien und ins Burgenland. Einem längeren Zwischenhalt in Passau folgte ein kürzerer am Zisterzienserstift Wilhering, wo wir Zeugen einer Hochzeit wurden, ehe wir dann unser Zimmer im Hotel Stockinger in Tullnerbach bezogen. Es war die erste Reise, die ich allein mit meinem Vater unternahm, nur eine weitere folgte noch nach. Die führte zur Mosel. 1993 musste man noch DM in Schilling tauschen, der Kurs war etwa eins zu sieben, weshalb wir buchstäblich Tausende mit uns führten. Vor den Schaufenstern von Orsay und Pimkie belichtete ich in Passau letztmalig eine chilenische Folklore-Gruppe, nicht ahnend, dass es solche in jeder Stadt des Westens gab damals, nicht ahnend auch, dass jede Fußgängerzone dort  Orsay und Pimkie hatte.

14. Mai 2018

Dass mich eines Tages das Thema „Literarisches Rokoko“ beschäftigen würde, hätte ich niemals gedacht, auf dem Umweg über unseren Nationalheiligen und seine studentischen Ruhmestaten in Leipzig und später in Straßburg bin ich quasi an den Speck gezwungen worden. Gleichzeitig muss ich Mails beantworten, die mich in Verlegenheit bringen, weil sie in mir einen Experten sehen an Stellen, wo ich mich nie selbst so sehe. Offenbar recherchiere ich für meine Texte so, dass Leser zu der Auffassung gelangen, ich wüsste nun alles, was sie nicht wissen. Ich freue mich über jede Reaktion, die mir zeigt, dass meine Seite gelesen wird, zumal es morgen genau sieben Jahre her ist, dass sie freigeschaltet wurde. Manche meiner Rubriken bediene ich nicht mehr oder kaum noch, andere dafür umso intensiver, doch ist mit diesem Jahr in meiner privaten Prioritätenliste das eigene Buch vor das Internet gerückt, das wird auch so bleiben. Zwei kommen noch in diesem Jahr hinzu.

13. Mai 2018

Einer problemlosen Anreise gestern folgte eine staubasierte Heimfahrt heute. Eben noch hörten wir den Langebrücker Hauskuckuck rufen, der vermutlich um einen Platz im Guinessbuch der Rekorde kämpft, und schon klebten wir am hinteren Ende des Staus auf der A 4. In der Reihe neben uns ein röhrender Porsche, die mittlerweile gut erzogenen Kraftfahrer bildeten eine Rettungsgasse, obwohl es nichts zu retten gab. Zwei der sehr hübschen neuen Toyota C-HR sahen wir unterwegs, einer mit Züricher Kennzeichen ZH. Der erinnerte uns überflüssigerweise an den angenehmen Theaterabend im Staatsschauspiel, Gastspiel des Schauspielhauses Zürich. Neben vielem, was man lernend und genießend sehen konnte, war besonders eindrucksvoll, wie Regisseurin Barbara Frey eine stringente Strichfassung gelang, in der nichts fehlte, obwohl vieles fehlte. Am Ende waren alle vier Darsteller und drei Darstellerinnen nackt, für den Schlussbeifall in Bademäntel gehüllt. Bitte wiederkommen!

12. Mai 2018

Zu Rudolstadt wird heute als ein Höhepunkt der Spielzeit Goethes „Iphigenie“ gegeben, ich werde, weil es die Premiere ist, nicht dort sein. Ich würde, wenn es die Premiere nicht wäre, allerdings auch nicht dort sein, denn ich habe mich wegen „Der zerbrochne Krug“ in der Inszenierung des Schauspielhauses Zürich, Regie Barbara Frey, für einen Betriebsausflug nach Dresden entschieden, wo man mit Gastspielen neuerdings ein außerordentlich glücklichen Händchen beweist. Da die beiden nächsten Aufführungen der „Iphigenie“ in der auslaufenden Spielzeit auf Tage fallen, die mich von einer Dienstreise ins Weichbild der Heidecksburg abhalten, kann es schlimmstenfalls gar geschehen, dass ich das Werk überhaupt nicht sehe, es sei, man schleppt es als Wiederaufnahme in die kommende Saison. Meinen allgemeinen Iphigenien-Bedarf deckte ich in den zurückliegenden Wochen immerhin auf Lektürewegen, weil mich die schöne „Crone“, Corona Schröter, beschäftigte.


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