Tagebuch
25. Juli 2018
Zwanzig Jahre her ist heute unsere Ankunft in Soubey im Schweizer Kanton Jura. Wir bezogen eine über drei Etagen gehende Ferienwohnung, verstanden nicht eine Silbe von dem, was unsere Vermieterin zu uns sprach, sie verstand keine Silbe von dem, was wir zu ihr sagten und das war ein sehr guter Auftakt zu einer schönen Woche. Wir sahen Saint-Ursanne, durchquerten barfuß einen Fluss namens Doubs. In La Chaux-de-Fonds erlebten wir den Start einer Etappe der Tour de France mit dem damals noch allseits beliebten Volkshelden Jan Ullrich, zu dem ich gelegentlich Auskunft geben musste, er sei leider nicht mit mir verwandt. Wir standen auch in Biel an Tafeln, die Goethes Anwesenheit bezeugten und in Delemont standen wir nur so und hielten uns nicht allzu lange auf. Als die Woche um war, reisten wir weiter über Belfort nach Frankreich. Bis dahin genossen wir eine Ecke, die wir erst 10 Jahre später erneut sahen: da war die Ferienwohnung nur noch eine Wohnung.
24. Juli 2018
Wenn Fußballer, die bei der Erfindung des Niespulvers in der fünften Reihe standen und das auch noch mit dem Rücken zur Erfindung, einen Berater haben, dann finde ich es angebracht. Wobei wir wissen: Berater können falsch beraten. Sonst hätten nicht so viele geldgierige Oberstudienrätinnen ihr ganzes Geld an geschlossene Schiffsfonds verloren, oder überreiche Sangeskünstlerinnen ihre Fernsehkohle in Schrottimmobilien. Jetzt erfahre ich, dass selbst ein intelligenter und, wie mir schien, selbständiger Kopf wie Jogi Löw seit Jahren auch einen Berater hat, der nicht mit seinem vielköpfigen Team an Vizes und Co’s zu verwechseln ist. Hat der zur Einführung des Steckschals in die gesamtdeutsche Herrenmode geraten? Und nicht zum Aufgeben der Gewohnheit, die Luft durch die Zähne zu ziehen, als wären Zähne Schadstofffilter? Geheimnisse des Beratens? Und welcher Berater riet unseren Medien, tagelang an Mesut Özil zu lutschen, als wäre er ein Langzeitdrops?
23. Juli 2018
Weit muss ich zurückgehen, um zu meinen Chandler-Lektüren zu gelangen. Nicht weniger als 27 Schreibmaschinenseiten zu „Der tiefe Schlaf“ finde ich, beendet am 20. Mai 1981. Hinzu kommen fünf Seiten zu „Das hohe Fenster“ und „Leb wohl, mein Liebling“, zwei Seiten mit Kugelschreiber zu „Playback“ aus dem Züricher Diogenes-Verlag. Woher ich dieses „West“-Buch hatte, weiß ich nicht mehr, vielleicht ausgeliehen von einer Kollegin, die Krimis sammelte und ihre Bestände in der Institutsbibliothek an der TH Ilmenau deponierte. Nie vor und nach 1980/1981 las ich so viele Krimis, war damals sogar geneigt, über den DDR-Krimi eine größere Arbeit zu verfassen. Raymond Chandler aber, dessen 130. Geburtstag heute ist, gehört zu den unerreichten Ur-Mustern. Zu meinen eigenen Aufzeichnungen sammelten sich im Lauf der Jahre solide Archivbestände, deren Umfang mich eben selbst verblüfft. Die beginnenden Hundstage verbringe ich mit Literatur über Katzen.
22. Juli 2018
Es gab Autos ohne Radio, es gab Autos mit Autoradio, es gab Autos mit Kassettendeck, Autos mit CD-Player und CD-Wechsler. Es soll Fahrer gegeben haben, die ihren Kofferraum fast komplett für eine Soundanlage missbrauchten, die ihre Bässe beim Abbiegen am Hermsdorfer Kreuz bis Bad Klosterlausnitz hörbar machten. Unser neuer C-HR hat ein Radio, mit dem man auch Sender hören kann, die man früher nicht hören konnte, im Volksmund nennt man es Internet-Radio. Für CDs aber ist kein Schlitz mehr da, man muss deren Inhalte auf einen Stick ziehen, was den Vorteil hat, dass auf einem einzigen kleinen Scheißteil mehr Musik ist als sämtliche Antenne-Sender zusammen im Verlauf eines Jahres in den Äther jagen. Was wiederum keine besondere Menge wäre, denn diese Sender befriedigen ihre Kunden mit Endlosschleifen. Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich seit gestern ununterbrochen CDs auf Stick ziehe, es bleibt keine Zeit für profane Tagebücher und so.
21. Juli 2018
Dass ausgerechnet Hans Fallada einen halbwegs gerundeten Geburtstag hat (125), wenn mein ganz offizieller Rentenbescheid eintrudelt mit der stillen Post und dieser wiederum im Briefkasten liegt, als wir eben aus unserem Autohaus heimkehren mit unserem wirklich neuen Hochtechnologie-Auto mit dem etwas poesiefernen Namen C-HR, könnte man als freundlichen Zufall zu den Akten geben. Wir tun es. Würde ich ein Arbeitsjournal führen wie einst Bert Brecht, der am 20. Juli 1938 seine ersten Erwägungen eintrug, am 21. Juli nichts, am 22. Juli die nächsten Tiefsinnigkeiten, würde ich über Technik philosophieren. Das nächste vielleicht noch nicht, sicher aber das übernächste Auto wird schon auf dem Mietparkplatz anzeigen, dass das Bier im heimischen Kühlschrank noch nicht die nötige Trinkfrische erreicht hat. Christine Perthen wäre heute 70 Jahre alt geworden, wenn sie nicht schon 2004 gestorben wäre. Ihr Debüt „Papierliebe“ entlockte mir 1988 dickes Kritikerlob.
20. Juli 2018
Postbank und Post-Punk sind unterschiedliche Dinge, einige und mehrere offenbar auch. Über den in die Jahre gekommenen Billy Idol las ich gestern: „… für einige Jahre schaltete er sich durch Drogenkonsum für mehrere Jahre aus.“ Während man dies aus der BERLINER ZEITUNG noch für leicht irritierenden Feuilleton-Journalismus halten kann, ist jenes aus NEUES DEUTSCHLAND der reine und vollständige Blödsinn, es geht um einen Brand im Asylheim Neuruppin: „Das Feuer habe sich aber das Zimmer des 19-jährigen betroffen gewesen.“ Heimbewohner dürfen solche Sätze nach den ersten Sprachstunden vielleicht bilden, eine überregionale Tageszeitung sollte den für die Seite Verantwortlichen einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeit zuführen, Arbeitskräfte werden überall gesucht. In meinem Haushalt ereignet sich heute eine feierliche Verabschiedung, der morgen eine ebenso feierliche Begrüßung nahtlos folgt. Wir fertigen dazu eine Fotodokumentation.
19. Juli 2018
Am 13. Juli 1919 veröffentlichte die VOSSISCHE ZEITUNG in Berlin einen Beitrag von Hermann Hesse zum 100. Geburtstag von Gottfried Keller: „Zu Kellers hundertstem Geburtstag wird viel geschrieben werden. Es wird sich viel Wissen, viel Liebe, viel Dankbarkeit, viel Verehrung äußern, und die unglaubliche Reinheit und abgeschlossene kristallene Schönheit eines Lebenswerkes, in welchem es kaum schwache Stellen gibt, wird aufs neue die verdiente Bewunderung verdienen.“ Heute ist vorerst der 199. Geburtstag von Keller und wir werden sehen, wie es zum 200. Geburtstag zugeht. Unsereiner hat „Kleider machen Leute“ in der Schule gelesen und keinen Dauerschaden davongetragen: im Gegenteil. Zum 50. Geburtstag bekam Keller von der Universität Zürich den Ehrendoktor verliehen, 20 Jahre später hielt er sich in Seelisberg auf, um den Jubelfeiern zum 70. zu entgehen. Durchfahren wir künftig den endlos langen Seelisbergtunnel, denken wir an Keller.
18. Juli 2018
Unter Apothekern, versichert mir eine Apothekerin, gehen zwei Stichworte um: Der Valsartan-Skandal und der Ibuprofen-Engpass. Auf Skandale sind wir hinreichend vorbereitet, Engpässe kennen ehemalige DDR-Bürger deutlich besser als die verehrten Brüder und Schwestern im nahen Westen. Im fernen Osten, nämlich in China, ist mit einem neuen Syntheseverfahren ein Stoff ins Valsartan geraten, der dort nicht hineingehört, Seit vermutlich sechs Jahren verspeisen wir alten Valsartan-Freunde also möglicherweise schon Stoffe, die die Freunde apokalyptischer Botschaften auf der Basis von Tierversuchen als potentiell krebserregend einstufen. Hinter vorgehaltener Hand verraten ahnungsvollere Apokalyptiker, der Stoff gehöre zu jeder dunkler gebratenen Bratwurst und wir erinnern uns sofort der Panik-Attacken rund um die Coburger Wurst. Unser Vorbereitsein auf Skandale hilft allerdings wenig, wenn wir verschrieben bekommen, was es mittelfristig nicht gibt.
17. Juli 2018
Wenn am 17. Juli 1952 nicht David Hasselhoff das Licht der Welt erblickt hätte, sähe unsere brave neue Welt sehr viel anders aus. Er sang, wie wir wissen, den Fall der Mauer herbei, während seine Baywatch-Badehose gerade in der Waschmaschine war. Was an diesem Tag Frank Castorf zu seinem ersten Geburtstag geschenkt bekam, wissen wir nicht, vermutlich ein kleines Hämmerchen, damit er etwas zertrümmern konnte. Die Pastorentochter Angela Merkel erblickte am 17. Juli 1954 das Licht der Uckermark, da hatte Castorf wohl schon sein zweites oder drittes Hämmerchen in Arbeit. Da er Mauern nicht mehr zertrümmern konnte, dies erledigten Spechte, verlegte er sich auf das Zertrümmern von Stücken, was ihm so viel Ruhm einbrachte im Verlauf endloser Jahre, dass seine Fans zu seinen Gunsten den größten organisierten Mobbing-Block gegen seinen Nachfolger gründeten, den es je gab. Und Angela errichtete auf Trümmern und Ruinen ihre Kanzlerschaft.
16. Juli 2018
Das Gefühl vor dem Aufstehen täuschte: nach dem Aufstehen befand sich der Schmerz an seiner angestammten Stelle. Ich zahlte einige Rechnungen, schichtete einige Millionen um, hängte das Badetuch auf den Balkon. Vielleicht würde etwas Schlangengift als Einreibung helfen, immerhin ist heute der Weltschlangentag. Ich werde meine Ärztin, ehe sie in den wohlverdienten Urlaub geht, konsultieren, auch mein Zahnarzt geht in seinen wohlverdienten Urlaub, den konsultiere ich auch, allerdings nicht wegen der Schmerzen. Ich pendle ein wenig zwischen Theodor Fontane und Gottfried Keller, bin also nicht auf der Höhe der Zeiten. Vielleicht gibt heute Donald Trump ja Alaska an Russland zurück oder er kauft die Nordtrasse, damit wir von ihm und nicht von Putin abhängig sind. Vorsorglich wurde gestern schon mal Honecker gezeigt beim Unterzeichnen der Schlussakte von Helsinki. Das waren Zeiten: alle erkannten uns an, obwohl wir fast niemand waren.
15. Juli 2018
Nachtrag: Fronkraisch ist Weltmeister: Fronkraisch, Fronkraisch! Dergleichen Weltmeisterschaften konfrontieren friedliche Drittstrophen-Sänger immer wieder mit Nationalhymnen-Texten, gegen die die Hoffmann von Fallerslebens apostolische Baghvan-Gesänge sind. Nun denn: mit Asche auf dem Haupt singt es sich nicht inbrünstiger als mit der Faust links des Brustbeines. Vor allem ist es jetzt vorbei und wir wissen, wer in Katar in der Vorrunde ausscheidet. Für die Länge meines gestrigen Paustowski-Textes bitte ich mich selbst um Verzeihung: wer seltener schreibt, schreibt mehr. Die Strafe: ich bin in einen sonntäglichen Schmerzpatienten verwandelt, etwas ist mir kräftig ins Gebälk gefahren, was mich weder sitzen noch liegen lässt. Das Alter, Alter! Wäre noch nachträglich der Prozession zu gedenken, die wir in Vierzehnheiligen sahen. Da haben die Nothelfer stramm zu tun, immerhin drei Frauen unter ihnen. Zu mehr als zwei alten Krimis am Abend fehlte die Kondition.
14. Juli 2018
Nachtrag: Wer Bad Staffelstein sagt, muss auch Kloster Banz sagen und Basilika Vierzehnheiligen. Zirka 112 Prozent aller Menschen, die ich meine Mitbürger nennen würde, waren zehn Minuten bis eine Dreiviertelstunde nach der Maueröffnung im Kloster Banz und in Vierzehnheiligen, später reisten Busse voller in den Ruhestand versetzter Funktionäre des dahingegangenen Arbeiter- und Bauernstaates mit dem Pressesprecher ihres Vereines hin, um vor Ort Gruppenfotos für die örtliche Lokalpresse zu verfertigen, die zweispaltig quer gedruckt wurden, damit man einzelne Gesichter nicht erkennen konnte. Unsereiner belichtete sich mit 28 Jahren Verspätung vor Ort per Selfie-Stick. Vorher aber ein Beutezug in einem REWE-Markt: 26 neue Biersorten, dazu das neue Wissen, das Bad Staffelstein über 10 (in Worten: zehn) Brauereien verfügt. Da werde ich sicher noch einmal zuschlagen müssen. Belgien schlägt England in Abwesenheit britischer Offizieller: selber schuld.