Tagebuch

18. August 2018

Einmal im Jahr schlägt der Kolumnist zu, der auf sich hält in den Blättern hinter den 7 Bergen bei den verbliebenen Restzwergen. Er macht sich über spätsommerliche Pfefferkuchen lustig, die die Regale seines Lieblingssupermarkts füllen, den er in Treue fest immer Kaufhalle nennt. Einmal hat er sich zu der Idee verstiegen, den Geschmack von Pfefferkuchen überhaupt nur akzeptabel zu finden, wenn das Fest der Liebe noch sehr weit weg ist. Ich aß als Kind Weihnachtsstollen zu Ostern und es schadete mir nichts. Deshalb will ich wenig Aufhebens davon machen, dass ich heute gleich 4 Sorten Oktoberfestbier erwarb. Anders als das Oktoberfest, dem ich 65 Jahre erfolgreich fern blieb, blieb ich dem Weihnachtsfest noch nie fern und es kann sein, dass ich im neuen Jahr mir bis dahin unbekannte Weihnachtsbiere bei Ambrosetti erwerbe, wo es gar nicht selten Märzenbier noch im Juni gibt. Und nun auf nach Weimar zu Heiner Müller, William Shakespeare und so weiter.

17. August 2018

Wer selbst 65 ist, darf kein sonderliches Erschrecken darüber zeigen, wenn Robert de Niro 75 wird. Als ich „1900“ zuerst sah von Bernardo Bertolucci mit einem noch ziemlich jungen Robert de Niro und einem noch ziemlich dünnen Gerard Depardieu, galt das allgemeine Interesse eher der nackten Dominique Sandra und der opulenten Stefania Sandrelli, aber langfristig gesehen und überhaupt: niemand außer ihm hat je behauptet, auch ein Schnitzel spielen zu können. Ich hätte ihn gern in dieser Rolle gesehen, paniert oder nature. Draußen heute ein länger anhaltender Regenfall, der in kurzen Phasen sogar heftig genannt werden durfte, wenngleich er nicht ausreichte, den Nachbarn mit Garten auch nur eine einzige Wassertonne zu füllen. Beim Trinken einer Berliner Weisse mit Waldmeister die wiederkehrende Frage, ob das DDR-Gerücht, Waldmeister sei krebserregend, je überprüft wurde. In der DDR galten ja auch heimische Stachelbeeren für nahrhafter als Bananen.

16. August 2018

Kaum ist Mariä Himmelfahrt für dieses Jahr Geschichte, sind wir bei der nächsten Madonna, jener aus Michigan. Sie vollendet heute ihr sechstes Lebensjahrzehnt, was eine Menge Holz ist und keineswegs nur vor der Hütte. Man kann sich angelegentlich noch einmal ihre Spezial-Räkelei vor William Dafoe anschauen, den Film watschte seinerzeit noch der letzte Kritik-Depp ab, als hätte ihn Franz Josef Gottlieb persönlich gedreht. Bei Reiner Kunze halte ich mich nicht länger auf, NEUES DEUTSCHLAND feiert seinen 85. Geburtstag, indem es Maestro Schütt höchstselbst über den ganz neuen Gedichtband sich ergehen lässt. Ich halte mich an „Brief mit blauem Siegel“ und bin eitel genug, mich über die große Leserschar zu freuen, die mein Textlein zu „Der Löwe Leopold“ fand, den ich heute vor genau fünf Jahren ins Netz stellte, wo er immer noch zappelt. Wenngleich ohne Beifang. Durch die Feuilletons geistert der Vergleich der Familie Brasch mit den „Buddenbrooks“.

15. August 2018

Erst meine liebste Reizdarmfamilie aus der Vorabend-Werbung erinnert mich daran, dass es dieses Tagebuch gibt, in dem ich immer noch nicht mitteilte, dass ich über jene Brücke in Genua schon fuhr, die jetzt einstürzte, freilich war das 1992 und der posthume Schauer in mir hält sich deshalb in Grenzen. Vielleicht habe ich einfach zu viele italienische Filme über Beton und Mafia gesehen, um überrascht zu sein, wenn dergleichen passiert. Private Autobahnen, höre ich es raunen und es ist wie mit der privatisierten Post. Auch von unseren Brücken haben wir genug gehört, lange bevor diese fürchterliche Katastrophe geschah. Noch ist keine eingestürzt, würde in diesen Fällen aber die Risiko-Bewertung angewendet, die sich sonst in Deutschland zur Norm erhoben hat, dürften wir uns auf Jahrzehnte des Flößens einstellen, denn ausgeschlossen werden können diese Risiken nicht. Wir aber lernten: nur ausgeschlossene Risiken sind gute Risiken, früher war das mit Indianern so.

14. August 2018

Vor 20 Jahren war unser Urlaub im Elsass schon wieder zu Ende, ich löste Etiketten von meinen Bierflaschen, wir fuhren ohne Kinder nochmals nach Riquewihr, um Wein für zu Hause zu kaufen. Beim Bezahlen der Schlussrechnung verriet mir die Concierge, dass sie Holländer nicht besonders mag, auch Engländer nicht und dass Ostdeutsche freundlicher und netter sind als Westdeutsche, die Sachsen meist schon freitags abreisen. Zu Hause in Ilmenau eröffnete Helmut Kohl an diesem Freitag den Wahlkampf in Thüringen. Als wir am Sonnabend wieder in der Keplerstraße anlangten, war alles vorbei. Schröder hätte später wohl auch gewonnen, wenn wir in Ilmenau die Fähnchen geschwenkt hätten: es war Wechselstimmung. 20 Jahre später profitiert eine Krankenkasse, in der ich erst neuerdings bin, von meiner damaligen Altersvorsorge, denn die neue rot-grüne Regierung wollte in ihren Gesetzesinitiativen nicht den rechtsstaatlich üblichen Vertrauensschutz einbeziehen.

13. August 2018

Vor 20 Jahren starb Julien Green. Von ihm stehen „Die Dramen“ in meinem Frankreich-Regal, „Englische Suite“ und „Leviathan“. Dennoch weiß ich von ihm fast nichts. Was ich recht gut weiß: dass man als Panzersoldat nicht zwingend Dirk-Nowitzki-Maße haben sollte. Die Bundeswehr, mein alter Klassenfeind, der jetzt mein Bruder ist und mich vor Putin schützt, weiß es nicht, weshalb neue Schützenpanzer „Puma“, eh schon fünf Jahre zu spät in der Auslieferung, in dieser Zeit haben wir früher ganze Weltkriege verloren, sich plötzlich als zu eng für große Panzersoldaten erweisen. Angeblich sind es Experten, die nun darüber beraten, ob man die Innenräume noch weiten könne. Wie wäre es mit aufblasbaren Schützenpanzern, die schwimmen gut, hätten sehr variables Gesamtvolumen, ehe sie platzen natürlich, nur und sie verbrauchen auch wenig Stahl. Ich denke, Panzer werden weithin überschätzt, man kann Kanonen auch gut auf Kasten-Toyota schrauben.

12. August 2018

Ich weiß nicht, ob ich den Satz: „Mein Freund Pedro Hertel ist tot.“ gern geschrieben hätte. Er war nicht mein Freund, nie. Aber wir verstanden uns im Lauf der Jahre immer besser, nachdem wir uns 1990 im neu gebildeten Kreistagsausschuss zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption kennenlernten. Er repräsentierte Neues Forum, ich den Kulturbund. Ich war ihm verdächtig, wie ihm zunächst alle verdächtig waren, mit wenigen Ausnahmen, die in seinen Augen das alte Regime verkörperten. Ich habe das Regime nicht verkörpert, es sah im Gegenteil in mir eine Verkörperung, weshalb es mich unter Beobachtung stellte. Pedro aber landete für mich verblüffend nahtlos bei einer Bausparkasse, Versicherung, beidem? Aufarbeitung, ein Wort aus der Änderungsschneiderei, von regionaler DDR-Geschichte war seine Sache. Zuletzt gemeinsam mit Pfarrer Gerhard Sammet die Christenfeindlichkeit der SED. Der wenigstens gedenkt seiner, wenn auch nur mittels Anzeige.

11. August 2018

Festlich gestimmte Verwandte verschiedener Grade schreiten auf dem Bürgersteig mit Zuckertüten und weiteren geschenkähnlichen Gegenständen dahin, das nunmehrige Schulkind ist modellhaft frisiert und schnicki-schnacki eingekleidet. Schon am Montag wird es mit einem Schulrucksack auf dem Rücken den neuen Lebensabschnitt beginnen, diese Rucksäcke haben ein Volumen, mit dem früher Sowjetsoldaten auf dem Weg nach Berlin durch die Wolga und ihre Nebenflüsse kraulten, um am anderen Ufer die Faschisten aufs Haupt zu schlagen, falls die dort geduldig genug warteten. Wir haben noch vierzehn Tage bis zum entsprechenden Event, werden auch nicht gen Berlin kraulen wie unsere Lernpaten von einst, sondern über die Schienenstränge schlagen. Auch in Berlin, falschen Eindrücken vorzubeugen, produzieren Heimat-Journalisten Schönes: Unter drei Porträts mit Namen von links nach rechts: „steht eine BU, steht eine BU“. Das ist Blindtext und heißt Bildunterschrift.

10. August 2018

Der Ober-Grüne Robert Habeck reist durch die Gegend, um in den Arbeitsgemeinschaften junger Heimatfeinde das Wort Heimat heimischer zu machen. Unsereiner kommt aus der Fremde nach Hause, wo er einen Packen Heimatzeitungen vorfindet. In einer steht etwas über einen Mann, der in einer blauen Uniform ausländische Jugendliche in einem Schwimmbad befragte und sie auch nach Drogen untersuchte. Folgt Originaltext Heimatzeitung: „Den alarmierten Polizisten sagte der Mann, dass er annahm, die hoheitlichen Rechte von der Polizei übertragen bekommen zu haben. Er zweifelte zu keiner Zeit an der Unrechtmäßigkeit seines Auftretens“. Kann man wahrscheinlich so herrlich nur in meiner Heimatzeitung finden. Wie oft hörte ich bei Gericht von Unrechtsbewusstsein in mangelhafter Ausprägung: hier aber in Hildburghausen, wo sonst, zu keiner Zeit Zweifel. Was für ein literaturreif seltsamer Mann war das, der annahm, ihm wären Hoheitsrechte übertragen worden?

9. August 2018

Der Donnerstag mit kurzen Wegen: Jim-Knopf-Spielplatz, Spielplätze auf dem Karl-August-Platz, Eierkuchen und Apfelmus. Enkelmägen haben ein erstaunliches Fassungsvermögen für Eierkuchen. Die Etiketten der neuen Biere abgeweicht, getrocknet und gepresst, nur eine volle Flasche muss mit in den ICE. Dort eine blonde Dame mit deutlichen Überforderungserscheinungen, erstmals mussten wir unsere Fahrkarten nicht vorzeigen, ebenso natürlich auch unsere BahnCard nicht. Wohltuend unsere Pünktlichkeit bei gleichzeitigen Nachrichten über Horror-Verspätungen via Frankfurt/Main, von bis zu 190 Minuten dort ist die Rede, dazu Umwege und ähnlich feine Bahn-Überraschungen. Warum fahren die ICE-Züge eigentlich nie in der Wagenreihung ein, die auf dem Bahnsteig auf Tafeln angezeigt wird? Pünktlich Erfurt, pünktlich Ilmenau, es ist windig und etwas kühler als in den vergangenen Tagen. Die Hitze-Verluste unter unseren Orchideen-Blüten im grünen Bereich.

8. August 2018

Der Betrieb eines privaten Theaters führt unter Umständen dazu, dass die Vorstellung 20 Minuten später beginnt, weil Menschen ohne Karten noch eingelassen werden sollen, wenn da und dort ein Plätzlein unbesetzt blieb. „Die Zähmung der Widerspenstigen!“ läuft seit 2009 und ist immer noch ein Publikumsmagnet. Ende August sehe ich „Verlorene Liebesmühe!“, das hatte Premiere erst im Juni. Die Domäne Dahlem war heute eher ein Reinfall, die Gluthitze sorgte dafür, dass die Tiere unsichtbar blieben bis auf ein paar von Fliegen geplagte Jungrinder und einige Pferdchen. Zum Ausgleich war die Gastronomie geschlossen wegen Ausfall der Klimatisierung der Küche. Beim Dahlemer Italiener nebenan schmeckte die Enkel-Pizza umso besser. Die Hinfahrt im Bus mit Buggy eher unbequem, die Rücktour per U-Bahn bequem und nur acht Stationen. Ich sah das Grab von Helmut Gollwitzer. Abends Ambrosetti-Biere und „El Coto“-Rioja auf gleich zwei Balkonen.

7. August 2018

Der am 3. Oktober 1969 der Öffentlichkeit übergebene Fernsehturm, welch herrlicher Zufall, hat im kommenden Jahr zum nunmehrigen Geburtstag der Republik passgenau seinen fünfzigsten. Das Warten ist jetzt sehr perfekt organisiert, man hat eine Nummer, weiß, wann die Nummer in den Fahrstuhl steigen darf und kann also noch ruhig ein solides Eis verputzen bis zur Auffahrt. Das Enkel-Eis trägt den Namen Gletscher und schmeckt wie früher die Eisbonbons. Geänderte Zeiten: ich schaute fast nur auf Ostberlin, um linksweg von der postrevolutionären Volksbühne mein altes Viertel nicht mehr wiederzuerkennen. Bei meiner Erstbesteigung 1972 starrte ich in den Westen, der längst unser Berlin geworden ist. Erstmals haben wir ein Zimmer mit Balkon auf den Innenhof. Nach dem Turm das Sea Life mit AquaDom mit zwei Enkelmedaillen am Ende nach Erfüllung aller Aufgaben, die einen Stempel einbringen. Abends „Die Zähmung der Widerspenstigen!“ im Freien.


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