Tagebuch

11. Oktober 2023

Meine Mutter wurde am 11. Oktober 1958 30 Jahre alt. Das war ein Sonnabend, kein arbeitsfreier, das kam erst später. Johannes R. Becher starb nach einer Krebsoperation an diesem Tag. Unter den Büchern meiner Eltern waren zwei von ihm: „Ausgewählte Dichtung aus der Zeit der Verbannung 1933 – 1945“, 2. Auflage im Aufbau-Verlag GmbH Berlin, versehen mit dem Stempel „Gertrud Steinnagel“ und einer handschriftlichen Widmung „Zur frdl. Erinnerung an Ursula Borchert und Annelies Müller“. Ich kann nicht mehr nachfragen, wer diese Damen waren. Das zweite, deutlich schmalere Buch war „Heimkehr. Neue Gedichte“, ebenfalls Aufbau-Verlag Berlin W 8, ohne GmbH jetzt und mit dem Namenseintrag „Osw. Ullrich“. Beide Bücher sind schon früh in meinen Bestand gewechselt. Becher hatte damals riesige Auflagen, für Lyrik heute unvorstellbar. Die erste Gedenk-Ansprache hielt Walter Ulbricht höchstselbst, es folgten Alexander Abusch und Stephan Hermlin.

10. Oktober 2023

Vor fünfzig Jahren gab es das alles am 10. Oktober noch nicht: Welttag gegen die Todesstrafe, Welttag der seelischen Gesundheit, Welthundetag. Ich schrieb einigermaßen unfröhlich in mein Tagebuch, ärgerte mich, dass ich einfach nie schaffte, was ich wollte. Immerhin blickte ich auf eine Nacht in Berlin zurück: ohne Quartier, von Kneipe zu Kneipe, schließlich in den Wartesaal, um am nächsten Morgen pünktlich vergeblich den Versuch zu unternehmen, mich für Theaterwissenschaft zu bewerben. Die saßen in der Universitätsstraße, wo zwei Jahre später auch meine Philosophie saß. Ich sah an diesem Tag Cox Habbema mit ihrem Eberhard Esche vor der Uni, dann Ekkehard Schall mit Gattin Barbara in der Friedrichstraße, dort auf dem Bahnhof Agnes Kraus und schließlich auf dem Ostbahnhof noch Dietmar Richter-Reinick. Die Welt ist ein Berliner Dorf, dachte ich. Die Freude des Tages: meine Geschichte in der Oktobernummer der Armeerundschau, sogar illustriert.

9. Oktober 2023

Wer hätte das gedacht: Zwei Landtagswahlen im wild gewordenen Westen helfen dem Osten. Dass Journalisten gern ins Wasserglas pusten, etwas zu erzeugen, was sie als Sturm dortselbst verkaufen können, wissen wir. Nun aber ist die Erklärungssülze zum Erfolg der AfD, Unterabteilung Erfolg im Osten, vom Tisch. Für intellektuelle Leser in jenem Westen: das Narrativ ist im Arsch. Wenn eine Partei in den Ländern, die gern Geberländer genannt werden, zweitstärkste Kraft wird, die man so und so nennen darf laut Gerichtsbeschluss, dann ist etwas faul südlich von Dänemark und wenn Nancy tatsächlich von einer SPD-geführten Ampel in Hessen geträumt hat, sollte man sie dezent vorsorglich auf Wahrnehmungsstörungen testen und ihr Teilnahme am Verkehr vorläufig versagen. Falls die Wählerwanderungs-Analysen stimmen, dann wissen wir, dass die West-Linken gemäß dem, Achtung: Hufeisen-Narrativ, schneller überlaufen als ein Topf Dünnmilch auf dem Gasherd.

8. Oktober 2023

Die Mediengesetze sind unerbittlich. Kaum gibt es einen neuen Krieg, nein: kaum gibt es einen neuen Krieg, der uns in jeder Hinsicht näher geht als der in der Ukraine, ein Krieg gegen unseren Erzfreund Israel: schon sind wir, wo wir früher bereits einmal waren: Besorgte Gesichter hoffen vor laufender Kamera, dieser Krieg möge so schnell wie möglich enden. Für den Ukraine-Krieg haben alle Beteiligten längst Waffenlieferungen für die nächsten drei, vier Jahre geplant, nix mit solchen Wünschen nach raschem Ende. Dank zahlreicher Einwanderer aus aller Herrinnen Länder haben wir die ersten Ansätze zum Austrag fremder Konflikte auf unserem Boden. Ist halt so, kommt vor. Israel wartet nicht auf vier Panzer, zwei Geschütze und ein paar Helme aus Deutschland. Das kleine Land hilft sich selbst. Wenn ich Präsident der Ukraine wäre, würden meine Füße kühl: Amerika vor dem Absprung und irgendwann lässt sich nicht mehr verheimlichen, wer da Nordstream sprengte.

7. Oktober 2023

Vom Fischerfest sahen wir nur noch den leeren Großen Teich und einige Fischer, die recht kleine Fische aus einem in einen anderen Behälter käscherten. Ein sehr großer Hund bekam Fische zum Fressen geboten, kaute auf zweien auch tapfer herum, am Ende aber trafen sie seinen Geschmack wohl doch nicht. Im Speisezimmer, beinahe hätte ich Esszimmer geschrieben, können wir jetzt ganz unbedenklich unser Licht anlassen, ohne das Rollo zu ziehen. Unsere Balkon-Gegenüber, Franz und Carola, sind plötzlich und unerwartet ausgezogen, am Dienstag sahen wir sie erstmals in mehr als 30 Jahren beide nebeneinander auf dem Balkon auf den frisch gemähten Hang hinabschauen: es war der Abschieds-Blick, wie wir nun wissen. Wenn ich ins Bett gehe, ist es drüben jetzt immer dunkel, wo sonst zu beliebiger Nachtzeit Licht war, niemand raucht mehr auf dem Balkon tagsüber. Sie sind, wie ich neugierig erfragte, nach Wismar gezogen in die alte Heimat. Rentner tun sowas wohl.

6. Oktober 2023

„Meinetwegen Schmetterlinge“ hieß ein Buch, das vor 50 Jahren im Buchverlag Der Morgen Berlin erschien, „Gespräche mit Schriftstellern“ versprach der Untertitel und die Gespräche führte Joachim Walther, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, aber schon am 18. Mai 2020 starb. Ich greife immer noch nach diesem Büchlein, wenn ich mit diesem oder jenem Autor befasst bin. Denn allein der Griff zu Walthers „Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik“ ist zwar unerlässlich, aber niemals ausreichend. Den Moment, da die Tür aufgeht in Stockholm vor der Bekanntgabe des Literatur-Nobelpreises, verpasste ich gestern, aber bald danach wusste auch ich es: mal wieder ein Norweger: Jon Olav Fosse, am 29. September erst 64 Jahre alt geworden. Für Norwegen der vierte Preis nach Bjørnstjerne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920) und Sigrid Undset (1928), 95 Jahre Pause also für das Land der Fjorde und Elche.

5. Oktober 2023

Als die DDR schon heftig kriselte, ihre Implosion aber noch nicht auf Platz 1 der Agenda des Weltgeistes stand, versuchte ich, dem Aufbau-Verlag Berlin und Weimar die Herausgabe eines Buches von Oskar Kanehl schmackhaft zu machen. Meine Vorarbeiten gediehen bis zu einem erstaunlichen Umfang. Dann aber: Peng, Staat weg, Pläne suspekt. Oskar Kanehl ist am 5. Oktober 1888 geboren und vergessener als vergessen. Auch am 5. Oktober ist Stig Dagerman geboren, nur eben ein paar Jahre später: 1923, was den heutigen Donnerstag zu seinem 100. Geburtstag macht. Da er sich jedoch schon am 4. November 1954 sein junges Leben nahm, darf im kommenden Jahr sein 70. Todestag vergessen werden. Ich finde in meinem Archiv zwei begeisterte Seiten Notizen zu Dagermans Erzählung „Der nächtliche Badeort“, noch mit Hand und Kugelschreiber verfasst am 3. Dezember 1980. Lang ist es her, damals lenkte mich Dagerman von H. G. Wells ab, den ich las.

4. Oktober 2023

Sollte mich dereinst der Ehrgeiz plagen zu ermitteln, wie viele Gerichtsberichte ich eigentlich schrieb in meiner aktiven Zeit, dann hilft mir mein Tagebuch-Eintrag vom 4. Oktober 2003: da machte ich die Nummern 79 und 80 fertig. Draußen mähen die Mäher den Hang gegenüber, weshalb unsere Autos ab 7 Uhr verschwunden sein mussten. Sie mähen saftiges Grün, was in den beiden vorangegangen Jahren nicht ging: mangels Grüns. Am 4. Oktober 1998 wallte drei volle Stunden lang der Festumzug des Thüringentages durch Ilmenau, die redaktionelle Arbeit heftig erschwerend wegen zahlreicher Straßensperrungen. Leser interessiert es prinzipiell nicht, wie eine Zeitung voll wird jeden Tag, auch wenn alle Umstände widrig sind. Wer den 4. Oktober 1998 als den Vorabend seines 50. Geburtstages erlebte, hatte ich vergessen, jetzt weiß ich es wieder, aber ich kehre es unter den Teppich des Datenschutzes. Nur so viel: deshalb wird er morgen 75 Jahre alt.

3. Oktober 2023

Mehr Lametta war früher nicht immer. Aber mehr Einladung. Jahraus, jahrein flatterten sie ins Haus, bisweilen von echten Oberbürgermeistern oder Sparkassenchefs unterschrieben, auch von Landräten. Inzwischen vergessen und vergangen. Während wir uns früher mehr oder minder launige Reden anhörten und die stets unvermeidlichen Grußworte der stets unvermeidlichen Granden des regionalen Politikgeschäfts, sitzen wir am Vorabend des Staatsfeiertags nun vor dem nicht mehr taufrischen Fernseher, schauen uns „Babylon Berlin“ an und mitten in Episode 8 verabreden sich zwei im Scheunenviertel Mulack-/Ecke Gormannstraße. Da habe ich vier komplette Jahre gewohnt und erkenne natürlich nichts. Meine Ecke war ja die Ecke nach den Bomben, die jetzige Ecke sieht völlig anders aus als meine und wieder noch völliger als die frühere. Immerhin: heute sind wir 33 Jahre eingemeindet, unter den Nachwendekindern sind bereits die ersten Großmütter: Let‘s dance!

2. Oktober 2023

Melodramatisch gesagt: Am 2. Oktober 1973 starb mein Traum vom Journalismus. Ich erlebte in Leipzig den aktiven Totschlag einer Hoffnung, die noch am 25. September ebenda genährt worden war. Auf der Basis schriftlicher Spitzelberichte eines Kollegen, der den stellvertretenden Leiter der Abteilung spielte während meines Volontariats in Suhl, kegelte mich eine Dame, die in meinem alten Tagebuch als „Phrase in Person“ gekennzeichnet ist, aus meiner beruflichen Perspektive. Sie war die Gattin eines damals und später noch vor sich hin dozierenden Professors für innenpolitische Journalistik, später Theorie und Praxis des Journalismus. Seine Predigten hätte ich wohl über mich ergehen lassen müssen, andere auch. So aber, heutigen Phrasenschwafel anwendend, machte ich aus der Sauerei eine Chance, bewarb mich vergeblich neu, um schon 14 Tage später einen wunderbaren Job als technische Hilfskraft an der Technischen Hochschule Ilmenau anzutreten: in der Bibliothek.

 

1. Oktober 2023

Das Schöne an unserer Straße ist ihre Geräusche verstärkende Wirkung. Man hört alle auf ihren Balkonen lauthals telefonierenden Mitmenschinnen sehr deutlich. Man hört die Müllabfuhr als Ersatzwecker. Man hört, wie etwa heute vor zwanzig Jahren, die eiskratzenden Frühaufsteher an ihren Autoscheiben. Und weil wir den lieben Klimawandel haben, kratzt heute zu Monatsbeginn niemand Eis. Viele gehen in kurzen Hosen, ich nur im Hemd mit kurzen Ärmeln, die Hose lang bis auf die Schuhe. Unser Ziel ist das Gabelbach-Hotel, wo wir erstmals zum Sonntags-Lunch gemeldet sind. Nur die Kellnerin behauptet uns zu kennen, sonst keine mir Bekannten. Spaziergang bis zum Jagdhaus Gabelbach, wo ein Tourist sagt: Ach, das ist der Kickelhahn. Er merkt es noch selbst. Eine Schautafel im Hotel-Foyer hat mein alter Lateinlehrer getextet. Der langjährige Besitzer, der nach der Wende wie ein Einmann-Heuschreckenschwarm eingefallen war, wird nur sehr knapp erwähnt.

30. September 2023

Als der Kritiker Arthur Eloesser im Juni 1901 neben anderen das Buch „Camera obscura. Fünf Geschichten“ besprach, im Verlag Georg Weiß Heidelberg erschienen, lebte sein Verfasser noch: Ferdinand von Saar, ein Österreicher, am 30. September 1833 geboren. Fünf Jahre später, am 23. Juli 1906, erschoss er sich vor seinem Handspiegel nach erfolgloser Krebsoperation. 1908 erschien eine zwölfbändige Werkausgabe von ihm, der sich vor allem mit einigen seiner 32 Novellen etwas Nachruhm sicherte. Als Dramatiker sah er sich am Anfang, scheiterte aber damit gründlich. „Saar war immer zwischen zwei Zeiten, Mensch des Untergangs und des Übergangs“, schrieb Eloesser später in seiner zweibändigen Literaturgeschichte. DDR-Leser lernten ihn mit „Leutnant Burda“ (bb-Buch) kennen, mit „Die Steinklopfer“ (Insel-Bücherei), mit „Requiem der Liebe“ (Sammlung Dieterich“ und zuletzt noch mit „Novellen aus Österreich“ in der „Österreichischen Bibliothek“.


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