Tagebuch
9. Februar 2024
Im Amtsblatt der Stadt Ilmenau finde ich eine Einwohnerstatistik der Ilmenauer Ortsteile zum 31. Dezember 2023. Aktueller geht kaum, wenn ich mit manchen Zahlen vergleiche, die sonst da und dort kursieren. Aber ich will nicht über das krasse Auseinanderfallen der Demonstranten-Zahlen bei Polizei und Veranstaltern reden. Die professionellen Zähler liegen immer falsch, die Wunschdenker immer richtig, wir haben uns daran gewöhnt. Man nennt es ausgewogenen Journalismus. Gehren, wo ich herstamme, nachdem ich in Arnstadt als Risiko-Geburt das Licht des Wollmarktes erblickte, steht bei 2992 Einwohnern, Langewiesen bei 2977. Ich kenne noch uralte Zahlen aus dem Kreis Ilmenau, ehe das IGI (Industriegelände Ilmenau) und Henneberg errichtet wurden: Langewiesen, Gehren und Großbreitenbach pendelten um die 5000, bisweilen sogar darüber. Danach der Exodus in die Ilmenauer Neubauwohnungen. Und Oberpörlitz liegt jetzt vor Manebach: reiner Wahnsinn.
8. Februar 2024
Wer als gut erzogener Philosophie-Student alter Schule vorm großen Schubkasten-Schrank stand, konnte auf die Existenz eines Kastens vertrauen, auf dem „Junghegelianismus“ stand . Im Falle innerer alphabetischer Sortierung erschien David Friedrich Strauß im hinteren Bereich, ein Reiter sogar auf „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“, denn dies war, aus späterer Sicht, der Hammer, der Spaltpilz. An ihm schieden sich die alten von den jungen Hegelianern, unter den jungen noch im Puppenstadium ein gewisser Karl Marx, der später seinen unmittelbaren Vorgängern emsig und ausdauernd verbal aufs Haupt schlug. Gestorben ist der Ludwigsburger Strauß in Ludwigsburg am 8. Februar 1874. Das Buch „Junghegelianische Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie“ von Ingrid Pepperle las ich als Doktorand bis zur Seite 178. Dort steckt bis heute mein Lesezeichen als Ausdruck des Wunsches nach dem Rest. Am 8. Februar 1944 starb Alfons Paquet: vor 80 Jahren.
7. Februar 2024
Tatsachen haben es schwer im Leben. Immer wieder werden sie gezwungen, nackt für sich zu sprechen, niemand hält ihnen anstandshalber ein Handtuch vor. In der Kunst ist es besonders krass, dort verfallen in gewissen regelmäßigen Abständen ausübende Bürger auf den Gedanken, es sei an der Zeit, auf Kunst zu verzichten und stattdessen, genau, die nackten Tatsachen sprechen zu lassen. Was schon voraussetzt, dass die Tatsachen der Sprache überhaupt mächtig sind und nicht etwa die des Landes gar nicht verstehen. Wenn die Tatsachen gesprochen haben, dürfen sie in die Garderobe gehen und sich anziehen. Denn Tatsachen mit Gänsehaut sehen auch nackt nicht mehr übertrieben schön aus. Letztlich ist alles ohnehin pur sexistisch, denn männliche Tatsachen sind, etwa als der Tatsach im Unterschied zu die Tatsache, nicht vorgesehen im Sprachschöpfungsplan. Womit ich beim Schnee wäre, der heute einfach so vor sich hinfällt, nachdem der Wind zu wehen aufhörte.
6. Februar 2024
Wenn Politiker etwas, das sie eben noch vertraten, nun nicht mehr vertreten, heißt es gern: sie rudern zurück. Rudern scheint folglich ein beliebter Sport unter ihnen und ihninnen. Komisch nur, dass nie jemand vorwärts rudert. Würden sie den Rückwärtsgang einlegen, müssten sie zusätzlich immer noch kuppeln und Gas geben, was mit der Ideologie des E-Autos nicht unter einen Helm zu bringen wäre. Mittlerweile sind auch die öffentlich-rechtlichen Hauptnachrichten nicht mehr frei von saudummen Fehlleistungen: bei Dunja Hayali gestern hieß es „seinen“ statt „ihren“, was meine Mutter als Grundschullehrerin mit sehr viel Rot am Seitenrand markiert hätte, früher, als die Welt noch in Unordnung war. Vermutlich sitzen auch in den Redaktionen mittlerweile Seiteneinsteiger und Fachkräfte aus dem Ausland, denen natürlich niemand die komplizierte Reflexiv-Grammatik zumuten kann, mit der sich bekanntlich auch Bio-Germanen plagen wie Sisyphos am Steilhang.
5. Februar 2024
Das schöne an Paketdiensten ist ihre Mitteilsamkeit: Sie bekommen ihr Paket mit Sendungsnummer Soundso am Montag, 5. Februar 2024, zwischen 10. 30 und 14. 30 Uhr. Was eine solide Spanne ist, während der es nicht ratsam ist, einkaufen zu gehen, zum Glascontainer zu laufen. Wenn das Paket 18. 30 Uhr immer noch nicht da ist, meldet die Sendungsverfolgung eine Verzögerung, was nicht ganz überraschend ist. Der Mann von bofrost kommt ausgleichend zehn Minuten früher, was kein Problem darstellt, weil man ja auf das Paket wartet, das nicht kommt. Immerhin schloss ich mich der Bewegung „Gesicht zeigen“ an: ich schaute etwa vierzehnmal zwischen 11 Uhr und 19 Uhr aus dem Speisezimmerfenster, beobachtete einen Nachbarn gleich dreimal beim schlechten Einparken, ehe ich mein Gesicht wieder vor der Öffentlichkeit verbarg. Morgen werde ich es wieder zeigen. Ansonsten lobe ich heute einmal die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, eine hochschlaue Bübin.
4. Februar 2024
Medienkunst ist es zu lügen, ohne die Unwahrheit zu sagen. Man reißt einen Satz, woher auch sonst, aus dem Zusammenhang, in dem er steht, um ihn als Aufputschmittel zu verwenden. Im Tierreich (Triggerwarnung: Tiervergleich!) gibt es Spezies, deren Nachwuchs pure Nahrung nicht aufnehmen kann, weshalb die Eltern es vorverdauen, dann hoch- und rauswürgen, was uns als Ekelbrei erscheinen würde. In der alten schlechten DDR (Triggerwarnung DDR-Vergleich!) zitierte Neues Deutschland 1976 mit dem Satz „Ich bin zu jeder Schandtat bereit“ den schlimmen Wolf Biermann, was den Leitartikler zu Triumphgeheul anregte. Haben wir es nicht immer gesagt? Und jetzt also wollen die ganz Schlimmen, die Oberbösen, den „Parteienstaat“ abschaffen. Was ja nun wirklich das letzte wäre, was uns zahlreichen Parteimitgliedern aller Farben, aller Verlogenheiten recht wäre. Die Vorverdauer kennen die Sätze davor, aber sie teilen sie uns vorsorglich nicht mit.
3. Februar 2024
Auch Richard Vallentin hat heute seinen 150. Geburtstag, geboren in Berlin, gestorben im damals noch nicht eingemeindeten Wilmersdorf am 14. Januar 1908. An Krebs. Über seine Zeit in Wien schrieb 1907 Willi Handl in der „Schaubühne“ (ich besitze den vollständigen Nachdruck aller Ausgaben und bin darüber immer wieder froh: immer, wenn ich sie brauche, oft, wenn ich einfach nur blättere, weil ich neugierig bin). Nachrufe gab es von Alfred Kerr, von Julius Bab, von Fritz Engel, alle gehören zu meinem häufigen Umgang in Theaterdingen. Zuletzt stieß ich auf Vallentin, weil er der Regisseur von Maxim Gorkis „Nachtasyl“ war, 516 Vorstellungen im Kleinen Theater errreichte seine Inszenierung und war so der größte Erfolg in seinem kurzen Leben. Julius Bab erlebte ihn bei Proben und schrieb: „... ohne sie wüsste ich nicht, was Regie ist – oder doch sein kann.“ Sohn Maxim Vallentin war später viele Jahre Intendant des Maxim-Gorki-Theaters Berlin.
2. Februar 2024
Die heimlich erwartete Lieferung einer neu entdeckten Vinothek für ausschließlich österreichische Weine ist heute noch nicht gekommen. Gar nichts kam heute mit der Post oder anderen Diensten. Auch ein schlechtes Gewissen kam nicht wegen IM Günther, von dem ich drei Bücher besitze und manches las. Franz Fühmann war ein Jahr tot, da druckte „Sinn und Form“ Günther Rückers „Gruß an Hans Marquardt“, den anderen IM, der sich mit Fühmann zu befassen hatte, obwohl er eigentlich mit dem Reclam-Verlag Leipzig, den er leitete, genug zu tun hatte. Noch gestern schob ich den Ordner mit meinen Rücker-Beständen wieder an seinen Platz im Regal, las heute Korrektur und stellte ins Netz. Kleine Freude, kleine Genugtuung: meine Planwirtschaft erlaubt Übererfüllungen. Mit Blick auf ihren morgigen 150. Geburtstag holte ich Gertrude Stein aus dem Regal, wo sie mit 7 Titeln zwischen Theodor Dreiser und Jack London steht. Schreiblust wollte einfach keine kommen.
1. Februar 2024
Mein Hugo von Hofmannsthal steht nun im Netz, ich fand doch noch den einen oder anderen Satz, an dem ich, ja was eigentlich? Feilte? Feilen war die widerlichste Tätigkeit im Traumfach UTP (Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion). Dafür, Abschweifung, gab es in der Kantine in Gehren schon Bier für 14jährige, was zwar gesetzwidrig, aber dennoch tatsächlich war. „Brigade Schluck“ hieß unser Trüpplein, eine freundliche Übertreibung, dem einstigen UTP-Lehrer nahm ich später manches Foto für meine Lokalseiten ab, als ich deren Verantwortlicher war. Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen, meist fröhlich. Mein Buch „Hermann Hesse und Theodor Heuss“ hielt ich am gestrigen 140. Geburtstag des Bundespräsidenten wenigstens in den Händen, blätterte ein wenig. Es steht in der langen Reihe meiner Hesse-Briefwechsel neben dem mit Stefan Zweig. Günther Rücker steht zwar im Kalender für morgen, nicht aber im Schreibplan. Dennoch schrieb ich, ganz spontan.
31. Januar 2024
Sage niemand, man habe in Deutschland freie Arztwahl. Sage niemand, man habe in Deutschland das Recht auf eine zweite Meinung bei einer Diagnose. Der Arzt hat freie Patientenwahl, er hebt oder senkt den Daumen und jeder Hausmeister verweist einen an den Hausarzt, bei dem man eben erst war, von dem man eben erst unbefriedigt wieder ging. Ich sah die Ärztin gar nicht erst, die mich nicht sehen wollte und muss nun auf meine Selbstheilungskräfte vertrauen oder zum Homöopathen gehen, der in seinem früheren Leben Wissenschaftlichen Kommunismus unterrichtete. Klar, warum wir das „Lied der Deutschen“ nicht singen, bei dem Hofmann von Fallersleben natürlich in der ersten Zeile nicht an das deutsche Gesundheitswesen dachte. Früher gab es Länder, in denen Arme und Schwarze, ganz besonders aber arme Schwarze nicht behandelt wurden, heute wird jeder nicht behandelt, wenn der Arzt beschloss, keine neuen Patienten aufzunehmen. Deutschland Traumland.
30. Januar 2024
Einen schneelosen Januar registrierte ich 1974. Auch heute weit und breit kein Schnee, aber der endgültige Entschluss, morgen in der Lindenstraße die Notsprechstunde zu besuchen. Es wird nicht besser mit meiner Atmung, doch widerstrebt es mir, einfach nach Suhl zur Notaufnahme zu fahren und dann rein zufällig eine gepackte Tasche mit meinen Sachen bei mir zu haben. Meinen fertigen Hofmannsthal stelle ich nun doch nicht vordatiert ins Netz, morgen erscheint zunächst meine alte Kritik von 1987, in der ich Thomas Fritz lobe, den Nachwort-Autor. Nebenher wird meine Liste mit Hofmannsthal-Literatur immer länger, ich bin selbst erstaunt, was ich alles finde, keineswegs vor allem Theaterkritiken. Morgen wäre an Erwin Strittmatter zu denken, der dann 30 Jahre tot ist, ich werde es nicht schaffen und gar nicht erst versuchen. Kaum anders geht es mir mit Theodor Heuß, dem einzigen Bundespräsidenten, von dem ich Bücher besitze, auch der wäre ein Wunschkandidat.
29. Januar 2024
Die Lokführer steigen vorzeitig aus ihrem Streik aus, wegen der Friedenspflicht sind wir in der Situation, mit dem Zug nach Berlin fahren zu dürfen, um dort einen Familiengeburtstag nachfeiern zu können. Grauslige Hotelpreise zwingen uns, auch weiterhin auf unsere einstigen Stammhäuser zu verzichten. Ihre Frühstückspreise sind mittlerweile im Bereich, in dem wir vor zwanzig Jahren in Frankreich ein Vier-Gänge-Menü (ohne Wein) genossen. Vor 50 Jahren brachte mein Vater mir das Buch „Bittere Stories“, Autor Ambrose Bierce war mir erst kurz ein vertrauter Name. Bald liebte ich seine Geschichten. Mein Job in der Bibliothek brachte Dienst in der bereits dritten Zweigstelle, der zweiten für mich ganz allein. Man war damals ohne Probleme bereit, einer Hilfskraft die ganze Verantwortung zu übertragen, heute schwer vorstellbar. Per Telefon 30 Jahre später alle rechtlichen Details meines Abgangs von Freies Wort Suhl: Freistellung bei vollen Bezügen plus Abfindung.