Tagebuch

9. April 2024

Wenn man in Meßkirch geboren ist, hat man unvermeidlich Martin Heidegger an der Backe. Der ist eben auch da geboren, 1959 wurde er zum Ehrenbürger ernannt, 26 Jahre nach Adolf Hitler, dem man die Würde dann später wieder wegnahm. Womit bewiesen ist, dass Würde eben doch antastbar ist. Auf alle Fälle die Ehrenbürgerwürde. Auch Arnold Stadler ist in Meßkirch geboren, heute vor genau 70 Jahren. Warum ich ihn für einen Österreicher hielt und seine Bücher auch dort aufstellte, wo man als Österreicher des Jahrgangs 1954 bei mir zu stehen hat, ist mir ein Rätsel. Eins hat eine Bauchbinde, auf der steht: Georg-Büchner-Preis 1999. Das ist also schon eine Weile her. Eins trägt den Titel „Erbarmen mit dem Seziermesser“ und hat ein Nachwort von Peter Hamm, der am 27. Februar geboren wurde, wie ich. So schreibt man hinkende Überleitungen. „Gehversuche auf Heideggers Feldweg“ heißt einer der Texte darin, womit die zehn Zeilen für heute gefüllt wären.

8. April 2024

Das geht Schlag auf Schlag. Die alte Regel, wie viele Tote es geben muss, damit BILD anspringt, bestätigte sich am Wochenende: drei Tote zwischen Gräfinau-Angstedt und Pennewitz, schon ist der Ilm-Kreis im Blatt. Und dann stirbt auch noch Peter Sodann mit 87 Jahren. Oft erlebte ich heftiges Fremdschämen, wenn er als Kommissar Ehrlicher in Aktion trat. Gab es jemals einen schlechteren Mimen in solcher Rolle? Der immer versuchte, im Gesicht auszudrücken, was ihn bewegte? Für Halle war er wichtiger und als Literatur-Retter sowieso. Da er DDR-Bücher nicht nur sammelte, aus reichen Beständen auch gern welche verkaufte, besitze ich ein paar Bücher und Rechnungen aus dem Hause Sodann. Christoph Hein ist nun tatsächlich 80 Jahre alt und sogar der Bundespräsident gratulierte. Sogar. Man wagt sich kaum auszumalen, wer noch hätte gratulieren können. „Als Kind habe ich Stalin gesehen“ heißt eins seiner Bücher. Ich sah als Jungspund Leonid Iljitsch Breshnew.

7. April 2024

So geht es: ich lese eine alte Theaterkritik von Ferdinand Hardekopf, der vor Begeisterung schwelgt über Helene Fehdmer. Den Namen kenne ich wohl, aber er sagt mir nicht viel. Also schaue ich und sehe: sie war die Ehefrau von Friedrich Kayssler und offenbar eine begnadete Schauspielerin. Mit  „Friedrich Kayssler“ wiederum eröffnete dereinst Julius Bab die Reihe „Der Schauspieler“ im Erich Reiss Verlag Berlin, aus der ich immerhin sieben Bände besitze, alle ein wenig vom Alter gebeugt. Kayssler hinwiederum hat heute seinen 150. Geburtstag. In Kleinmachnow gibt es ein Ehrengrab für ihn. Das Grab von Golo Mann, der vor 30 Jahren in Leverkusen starb, sah ich auffallend weit weg vom Grab seines Vaters Thomas Mann in Kilchberg. Das war im Mai 2000 und ist auch schon wieder fürchterlich lange her. „Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann“, fast 1300 Seiten stark, muss sich aus Platzgründen inzwischen in der zweiten Reihe verstecken, vorn drei andere.

6. April 2024

Übermorgen ist Christoph Heins 80. Geburtstag. Darauf wollte ich heute vorbereiten, indem ich die drei alten Texte, die ich 1989 zu seiner Erzählung „Der Tangospieler“ schrieb, zwei veröffentlicht, einer unveröffentlicht, neu zu meinen ALTEN SACHEN zu stellen beabsichtigte, frisch Korrektur gelesen. Und siehe: es klappte nicht. Es klappte aus dem einfachen Grund nicht, weil ich just dies schon vor zehn Jahren anlässlich des 70. Geburtstages getan hatte, rund 5000 Leser schauten sich das seither sogar schon an. So bleibt mir der Hinweis auf die erste dicke Fliege, die heute fröhlich in meinem Arbeitszimmer brummte. Noch gibt es gute Aussichten, eine neue Arbeit zu beenden, die sich einen Bühnentext von Hein vornimmt. Meine Archivbestände sind ergiebig, meine Vorarbeiten auch. Ich besitze sogar zeitgenössische Theaterkritiken, was für die DDR-Jahre gar nicht so normal ist wie bei anderen Themen. Und erinnere mich an manchen Namen, der längst vergessen schien.

5. April 2024

Erstmals das Castello Aragonese am 5. April 1994, wir essen bei „Mamma Rosa“ in Casamicciola, ich komme später allein zurück, um mir den Friedhof anzusehen, danach noch Lacco Ameno. Fünf Jahre später Ostermontag mit Arbeit in der Redaktion, zusätzlicher Seite. Fünf Jahre später, am 5. April 2004, ist das Manuskript für mein erstes Buch fertig: „Aus Ecken und Kanten ein Kreis“, der Verleger holt es sich selbst bei mir ab, nachdem wir noch telefoniert hatten vorher. Fürs Jubiläum 30 Jahre Ilm-Kreis wären beide Bücher noch immer ein Gastgeschenk, aber ich verspüre wenig Lust, Handelsvertreter zu spielen. Nicht einmal Lust zu erfahren, wie viele Kollegen außer mir zehn lange Jahre lang eine lokale Kolumne durchhielten. Gelegentlich freue ich mich, nie eine doppelte Überschrift gehabt zu haben, obwohl ich niemals nachschaute. Heute bei schönem und warmem Wetter die große Freitagsrunde. Die Sperrung der Ziolkowskistraße ist schon überall ausgeschildert.

4. April 2024

Vor 250 Jahren starb in London Oliver Goldsmith, von dem Wikipedia behauptet, er sei am 10. November 1728 geboren. Ich widmete ihm 3457 Wörter, was für einen, den heutigen, Schreibtag eine anständige Leistung darstellt. Nebenbei bin ich wieder einmal zu Goethe gedrängt worden, was sich bei Goldsmith in Deutschland einfach nicht vermeiden lässt. Sogar meinen guten alten Francis Bacon nahm ich wieder einmal zur Hand, der mich im Studium fast mehr mit Beschlag belegte als René Descartes. Sie stehen da alle bei mir, diese alten Kameraden: John Locke und John Milton, Thomas Hobbes und John Toland, Shaftesbury und David Hume, Samuel Johnson natürlich und Boswell. Wann war ich in Sesenheim auf Goethes vermeintlichen Goldsmith-Spuren? Es muss 2008 gewesen sein, als wir einen Tag zu spät in Kutzenhausen anreisten. Und Spuren des Krieges von 1870/71 besichtigten. Vielleicht lese ich meinen Helmut Koopmann zu Friederike Brion doch noch.

3. April 2024

In der Post Honorarabrechnungen für Bücherverkäufe. Das geschieht immer nach der Buchmesse in Leipzig, ich habe zuverlässige Verleger und sehe: selbst mein guter alter „Kulturschock NVA“, als Buch längst vergriffen, geht immer noch als e-book über die virtuellen Ladentische. Und „Ilmenau von A bis Z“ ist ein braver Longseller, hätte ich zwölf davon oder neunzehn, könnte ich den Haien vom Finanzamt entspannter ins Auge schauen. So aber sehe ich im April mit Trauer rund drei Monatsrenten in die Aufrüstung fließen oder in Bürgergeldfässer ohne Boden. In der Post auch zwei Bücher zur nicht mehr vorhandenen DDR. „Literatur und Literaturtheorie in der DDR“ heißt das eine, „Dramatik der DDR“ das andere. Beide aus dem Westen natürlich, würde ich sagen, wenn es früher wäre, heute sage ich nur: Suhrkamp. Einen Weinkatalog entsorge ich umgehend, auch den freundlichen Brief eines Reisebüros, das mit seinen Preisen nur noch abschreckend wirkt, leider.

2. April 2024

Eigentlich müssten die gelben Tonnen jetzt zügiger geleert werden, weil es die öffentlichen nicht mehr gibt. Es dauert dennoch bis zum frühen Nachmittag, bis die gelben Deckel nicht mehr nach oben stehen. Es waren zwei Entsorgungstage hinfällig, das wollen wir, großzügig wie wir sind, nicht vergessen. Vergessen ist auch nicht, dass ich seit gestern nur noch zwei Theaterkritiken pro Tag lese, um Luft zu schaffen für anderes. Oder eben Vorlauf, wenn Zeiten kommen, da ich nur ein Buch mit auf Reisen nehmen will. Die nächste kommt zwar erst Mitte Mai, aber immerhin. Mein PC zeigt fünf gleichzeitig geöffnete Dateien, an denen ich arbeite. Eine gilt Ferdinand Hardekopf, eine Oliver Goldsmith, zwei Christoph Hein. Daneben sammle ich Stimmen zu Immanuel Kant. Bildnachrichten erreichen uns aus Potsdam und Malta. Blauen Himmel gibt es immer anderswo, April nur bei uns. Und die ersten 10.000 Schritte trotz Feuchtigkeit von oben. Zum 31. Mal 2024.

1. April 2024

Als Aprilscherz ist es nicht gedacht: die Stadt Ilmenau hat die gelben Tonnen von den öffentlichen Standplätzen abgezogen. Wegen Ostern waren sie in der Abbé-Straße schon am Gründonnerstag weg, mit der Folge, dass die Plastiktüten mit Füllung schon mal in die blauen Tonnen übersiedelten. Wegen Rassismus- und Populismusgefahr stehen Aussagen über Verursacher des seit wenigen Jahren ausufernden Müllchaos mitten im Dosenpfandparadies auf dem Index. Wir wissen also von nichts. Es werden dann wohl die blauen Tonnen verschwinden müssen, denn auch in die lässt sich alles werfen, was der Haushalt nicht mehr braucht, keineswegs nur Riesenkartons mit komplettem Adressaufkleber. Die gelben Tonnen für uns, die nur mit Schlüssel zugänglich sind, bleiben uns erhalten. Wir müssen nicht erst auf die Autobahn, um unsere Säcke in Haltebuchten zu entsorgen. Wir schleichen nachts mit unserm alten Bürostuhl und dem Wäschekorb still hinter die Biotonne.

31. März 2024

Das wäre der 74. Hochzeitstag meiner Eltern gewesen, so lange haben es nicht einmal Helmut und Loki Schmidt geschafft und die haben vom Sandkasten an gemeinsam geraucht. Meine Mutter rauchte nie, mein Vater hörte 1961 auf, nach elf Ehejahren blieben die Gardinen weiß. Ich folgte 1991 nach und sehe noch heute, wie sich das Wasser in der Neubaubadewanne quittengelb färbte, wenn unsere Gardinen zum Einweichen hineingelegt wurden. Bis ins 91. Lebensjahr fragte meine Mutter alljährlich, ob ich wüsste und ich wusste ausdauernd. Hochzeitstage vergessen ist etwas für  Lustspiele. Wir beispielsweise werden am 1. Juni knapp zwei Jahre vor der Goldenen Hochzeit 50 Jahre HmmHmmHmm feiern, das war im Unrechtsstaat und wir schämen uns heute noch, dass wir damals das System nicht genug hassten. Wir feierten 1974 sogar 25 Jahre DDR in Berlin, hörten Manfred Krug auf dem Alexanderplatz und City nicht weit davon, die hießen da noch gar nicht City.

30. März 2024

Aus sechs Ausgaben der „Berliner Zeitung“, immer vom Donnerstag, schnitt ich für mein Archiv drei Beiträge aus, zwei sehr kurze Einspalter, einen langen Einspalter. Ich will nicht kategorisch die Tatsachenbehauptung aufstellen, dass früher alles besser war, da schnitt ich wohl aus einer einzigen Ausgabe vom Donnerstag, als das noch eine Literaturseite, später nur noch eine Bücherseite war, mehr aus, aber so ist das Leben eben. Qualitätsjournalismus, lese ich täglich bis wöchentlich, kostet Geld, und wenn kein Geld da ist, gibt es keinen Qualitätsjournalismus, so einfach ist das. Nur nicht jedem Journalisten ist das bisher klar geworden. Viele glauben immer noch, für Qualitätszeitungen zu arbeiten, was sie nicht tun. Die Würde der Journalistin ist unantastbar, steht in der Charta der vereinten Redaktionen oder war es im Knackstumsentschleunigungsgesetz? Nur Deppen wie ich wollen über Literatur in Zeitungen lesen und ich wandere nachweislich dem Aussterben entgegen.

29. März 2024

Am 8. April wird Christoph Hein 80 Jahre alt. Vermutlich wird ihn das weder auf die Titelseite des Cicero noch des Spiegel bringen. Ich zog gestern vorsorglich einige meiner zahlreichen Hein-Bücher aus dem Regal, griff nach jenem Archivordner, in dem zur knappen Hälfte DDR-Autoren der Jahrgänge 1942 und 1943 sowie zur reichlichen Hälfte Christoph Hein allein versammelt sind. Ich fand meine drei 1989 veröffentlichen Artikel zu ihm sorgsam aufgeklebt, für den dritten waren seinerzeit zwei Fassungen nötig, denn die erste wollte die Redakteurin partout nicht nehmen. Am „Tangospieler“ würgte die offizielle DDR 1989 noch heftig. „Christoph Hein 1989“ wäre ein nettes Thema, zu dem mir Zeit fehlen wird. Immerhin: Mein Archivbestand kann locker eine vollwertige Dissertation fundieren. Heute ist Karfreitag. Vor 30 Jahren war einfach Dienstag und wir erlebten die Amalfi-Küste völlig begeistert. In Ravello sahen wir Richard Wagners Domizil mit Andacht.


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