Tagebuch

28. Januar 2024

Hätte nicht vor vielen Jahren, 1978, als die Tränen über die Biermann-Ausbürgerung längst aus den nass geweinten Taschentüchern gespült und gebügelt waren, man nahm noch Stofftaschentücher in der leidgeprüften DDR, der Aufbau-Verlag den fast immer zu kurz kommenden Hermann-Hesse-Freunden einen Happen hingeworfen, „Briefwechsel mit Heinrich Wiegand“, dann wäre dieser Wiegand mir sicher nie ein Begriff geworden. So las ich das komplette Buch, wenn auch erst ein paar Jahre später (2002) und nun war dieser Leipziger mir ein Begriff. Als dann, weitere zehn Jahre später (2012), der Leipziger Verlag Lehmstedt „Am schmalen Rande eines wüsten Abgrunds“ mit gesammelter Publizistik Wiegands aus den Jahren 1924 – 1933 herausbrachte, hatte ich schon gute Kaufgründe. Zumal Lehmstedt ein Verlag ist, der mustergültig das macht, was ich auch machen würde, wenn ich ein Leipziger Verleger wäre. Am 28. Januar 1934 starb Wiegand im Exil in Lerici.

27. Januar 2024

Mit meinen Notizen zu „Der Tor und der Tod“ bin ich gestern noch fertig geworden, mit Arthur Eloesser und Hugo von Hofmannsthal fing ich an. Ich registriere die mediale Euphorie über die Mitte Deutschlands, die tagein, tagaus auf die Straße geht, um gegen Rechts zu demonstrieren. Bis zu 900.000 Menschen, sagen die Nachrichtensprecher und die Reporter führen fürs Kurzinterview eine stimmige Auswahl von Gesprächspartnern vor, die die Aufgabe haben, das gewünschte Bild eingängig zu vermitteln. Das klappt recht gut. Das Dumme an der Zeichen setzenden Mitte, in der noch vor kurzem rechtes Gedankengut sich erschreckend breit machte, was den entsprechenden Politologen Sorgenfalten auf die gepuderte Stirn trieb: 83,7 Millionen Menschen, nach jüngster Volkszählung, sind nicht auf der Straße, darunter auch die 25 Millionen, denen Ausweisung droht. Gut, dass nun Sahra Wagenknecht kommt: für wen eigentlich? Für Vielparteienkoalitionen sicher.

26. Januar 2024

MRT, sprich Magnetresonanztomographie, ist nicht die ideale Diagnosetechnik für Menschen mit Klaustrophobie. Ideal ist sie auch nicht für Menschen mit einer kaputten linken Schulter, falls die Diagnostiker raten, beide Arme nach oben auszustrecken. Meine erste Runde in der engen Röhre bereitete mir mangels Platzangst, die eigentlich Raumangst ist, keinerlei Probleme bis auf die mit der Schulter: ich war nahe daran, das Notsignal auszulösen. Heute nun, mit der Erfahrung aus Erfurt von 2022, musste ich nur die Hände über der Brust zusammenfalten, ich schloss die Augen und ließ die Prozedur über mich ergehen. In Halle, nach der OP am Spinalkanal am 2. Dezember 2022, hörte  ich zusätzlich Zeitangaben, wie lange alles noch dauert. Das ist dann fast schon wieder Luxus. Den heutigen 100. Geburtstag von Armand Gatti muss ich leider vergessen: keinerlei Zeit für „Kleines Handbuch der Stadtguerilla“, für „Stücke“ bei Henschel ebenfalls nicht. Vielleicht später einmal.

25. Januar 2024

Heute können alle, die keine Berührungsangst vor unterhaltsamen Romanen haben, die niemals hochgelehrte Literaturgeschichten lesen, in denen unterhaltsame Romane allenfalls erwähnt, meist aber einfach ignoriert werden, eines Mannes gedenken, der mit Literatur ein reicher Mann wurde. Er hieß William Somerset Maugham, geboren am 25. Januar 1874 in Paris, verstorben am 16. Dezember 1965 in Nizza, was ihn freilich nicht zu einem lupenrein geborenen Engländer macht. Zu seinem 50. Todestag schrieb ich schon einmal über ihn, hier in JAHRESTAGE leicht findbar, zum heutigen 150. Geburtstag warf ich einige Blicke in sein Buch „Books and You“, das mir heftiges Lesevergnügen bereitete. Zum Maugham-Kenner werde ich mich in diesem Leben nicht mehr aufschwingen, es könnte aber sein, dass mich der 60. Todestag noch einmal in die Tastatur hauen lässt. Weil ich unbedingt noch zitieren muss, was er über Henry David Thoreaus „Walden“ schrieb.

24. Januar 2024

Auf meinem Arbeitstisch steht eine zweckentfremdete Schachtel, die in ihrem ersten Leben ein 4-CD-Set von den Dooby Brothers enthielt, „Long Train Running“ betitelt. Ich vermute, dass ich dieses Set ein einziges Mal komplett abhörte, weil es am Ende doch gar nicht meine Musik war. Aber in den frühen 90er Jahren schüttelte mich der Nachholebedarf, zumal meine qualitativ sehr miserablen Kassetten für den relativ miserablen Kassetten-Recorder einfach nicht mehr taugen wollten. CD's brauchen keine Schachtel, sie stehen auch so sehr gut im Regal. Und so sammelte ich eines schönen Tages meine Gerichtsberichte für die Thüringer Allgemeine darin. Sie passten alle gut hinein, oft fünfspaltig quer, bisweilen zweispaltig hoch. Und als mich nun die Neugier packte, wie fleißig ich damals eigentlich schrieb, zählte ich durch: Vom 23. September 2011 bis zum 15. Oktober 2013 241 Gerichtsberichte, einer wurde doppelt gedruckt, also 242 Zeitungsausschnitte.

23. Januar 2024

Es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum ausgerechnet Ratten und Würmer von gedankenlosen Bürgern und Bürgerinnen gern in Zusammenhang mit Lesen und Büchern gebracht werden: die Leseratte, der Bücherwurm. Bei William Somerset Maugham ist der Bücherwurm wenigstens einer, um den man sich, was seine Lektüre betrifft, keine Sorgen machen muss. „Ich wende mich nicht an den Bücherwurm. Der findet sich schon allein zurecht. Seine Neugier führt ihn auf viele einsame Pfade, und es bereitet ihm Genuss, halbvergessene Schätze zu entdecken.“ Ganz in diesem Sinne entdeckte ich vor vielen Jahren Emanuel von Bodman, dessen heutiger 150. Geburtstag mir zum Anlass wurde, etwas ausführlicher an ihn zu denken. Ihn unter die Schätze zu reihen, ist vielleicht übertrieben, aber was ein Schatz ist, entscheidet ja letztlich allein der, für den es ein Schatz ist. Das kann ein Kronkorken von der Insel Nauru sein oder eine Käthe-Kruse-Puppe von Oma Gertrud.

22. Januar 2024

Am 22. Januar 1974 grübelte ich über Schreibpläne, an die ich mich heute mühsam erinnern muss. Ich hatte zu tun mit den jungen Damen in der TH-Bibliothek, von denen mir eine jeweils über die anderen etwas erzählte, was ich gar nicht unbedingt wissen wollte. Sogar, wer vorsorglich die Pille nahm, wusste ich nun. Ich arbeitete mich voran in „Meinetwegen Schmetterlinge. Gespräche mit Schriftstellern“, geführt von Joachim Walther. Das Gespräch mit Günter Kunert hatte er am 4. Juli 1972, da war ich noch ein tapferer NVA-Soldat. Dreißig Jahre später, beginnend am 1. Januar 2004, las ich 27 Bücher von Kunert in unmittelbarer Folge, allein im Januar 16. Bis zum Jahresende kamen weitere 14 Titel hinzu, ich wurde Kunert-Experte. Lothar Trolle dagegen gehörte nie in mein Beuteschema, weshalb es mich auch nicht berührte, dass Frank Castorf, der Dekonstruktions-Guru, ihm einen Insider-Theatererfolg verschaffte. Trolle ist heute 80 Jahre alt und hoffentlich gesund.

21. Januar 2024

Mit dem heutigen Tag ist Lenin einhundert Jahre tot. Ich gebe zu, dass ich sehr viel von ihm gelesen habe. Direkt aus der vierzig-bändigen Ausgabe seinerzeit, die ich bis heute nicht dem Altpapier zu übergeben übers Herz brachte. Zum Beispiel beendete ich am 23. Januar 1976 „Materialismus und Empiriokritizismus“, nachdem ich am 19. Januar eine broschierte Einführung dazu gelesen hatte. Ich erholte mich von Lenin, indem ich anschließend „Ansichten eines Clowns“ und „Das Brot der frühen Jahre“ von Heinrich Böll las. Am 19. September 1976 brachte ich „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ zu Ende und hatte Freunde aus Dresden und Berlin, die nichts Schöneres kannten, als sich mit linkem Radikalismus zu befassen. Bis Ende 1976 ließ ich noch „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ und „Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“ folgen. Bereut habe ich das nie.

20. Januar 2024

Ein Karpfen von guten zwei Kilo kostet mittlerweile mehr als einst meine zwölfbändige Goethe-Ausgabe aus der „Bibliothek deutscher Klassiker“. Fortschritt würde ich das nicht nennen. Aber die Fischer verkaufen ihre Fänge zu ihren Preisen, die Milchbauern für ihre Milch nie erzielen, obwohl selten Fischer mit Netzen und Käschern vorm Brandenburger Tor demonstrieren. Bisweilen geraten den Karpfen-Fischern Hechte ins Netz, die auch zu ihren Preisen verkauft werden an Menschen, die eine vage Vorstellung davon haben, was so ein Hecht für einen Wert hat. Der Preiskampf zwischen großen Einzelhandels-Unternehmen und großen Lebensmittelproduzenten führt, um keine Namen zu nennen, zur Abwesenheit von Waren in den Regalen. Leere Regale, die weder auf Corona noch auf sozialistische Planwirtschaft zurückgeführt werden können, fördern dennoch Systemzweifel. Man kann nur hoffen, dass die AfD das nicht zum Thema macht. Was sagt „Correktiv“ denn dazu?

19. Januar 2024

August Heinrich Hoffmann, der sich auf elegante Weise selbst adelte, indem er sich Hoffmann von Fallersleben nannte, war, ohne dass er es ahnte, ein Pechvogel. „Von der historischen Rolle des Proletariats wusste er nichts, obwohl sein Leben sich bis in das Jahr 1874 erstreckte.“ So ein real-sozialistisches Bildungsbuch der DDR, von dem ich eine Auflage aus dem Jahr 1977 besitze. Es gab, wissen wir rückblickend, ganze Völkerschaften, Heerscharen, Legionen, jedenfalls Massen aller Art, deren Leben sich erstreckte, ohne dass sie je von der Rolle des Proletariats erfuhren und wenn sie etwas hörten, erwies es sich auf längere Strecken als blanker Blödsinn. Hoffmann von Fallersleben schrieb „Maikäfer flieg“ und „Ein Männlein steht im Walde“, Kinderlieder, von denen sämtliche Strophen gesungen werden dürfen. „Deutsche Frauen, deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang“ darf nicht mehr gesungen werden. Heute vor 150 Jahren starb der Sänger.

18. Januar 2024

Tatsächlich hat es anständig geschneit. Das Unwetter, von Tief Gertrud verursacht, hat uns dennoch nicht erwischt, meine Mutter hätte sich im Grabe umgedreht, wofür ihr guter Name herhalten muss. Vor 25 Jahren versuchte ich, von meinem Bungalow 250 im Landal Green Park Aelderholt aus den Tierpark in Emmen zu finden. Es misslang mir. Damals kostete der Liter Benzin vor der Grenze zu den Niederlanden noch zwischen 1,49 und 1,52: Mark. Gut, dass ich solche Dinge aufgeschrieben habe, die Nachwelt würde es kaum glauben. Der Preis hat sich also alles in allem fast verdreifacht seither. Die unnötigen Fahrkilometer allerdings, die mir ohne Navi damals fast jede unerwartete Umleitung eintrug, die würde ich heute nicht mehr fahren. Dass meine letzten Übernachtungen in Holland jetzt schon fast 15 Jahre zurückliegen, ist eine schwer verdauliche Tatsache. Die Zeit rast, sagt das Phrasenschwein, im Alter schneller und schneller. Ich verlange keinerlei Richtigstellung.

17. Januar 2024

„Was tun?“ fragte 1902 Lenin, dessen 100. Todestag immer näher rutscht, was selbst völlig Lenin-ferne Medien in milde Unruhe versetzt. Ich gehöre zu denen, die das Buch als Student komplett zu Ende lasen, Wikipedia kennt heute noch nicht einmal die Ausgabe innerhalb der 40 braunen Bände, sich damit auf dem üblichen West-Niveau haltend, das zwar sonst jeden Furz nur aus einer, falls vorhanden, Historisch-Kritischen Gesamtausgabe zitiert, hier aber mit albernen Editionen arbeitet. Die Frage „Was tun?“ bewegt mich heute keineswegs als Frage an die Avantgarde des Proletariats, sondern als Frage an die nicht vorhandenen Fachkräfte innerhalb desselben. Fachkräftemangel, das Faktum, mit dem manche auf sittenwidrige Weise die Frage unkontrollierter Zuwanderung koppeln, hat uns eben knapp neben das Herz getroffen. Unser Autohaus schließt, es hat zu wenig Fachkräfte, das geforderte Niveau zu halten. Also wird es Kunden verlieren. Uns erst einmal noch nicht gleich.


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