Tagebuch

15. November 2023

Am 15. November 1973 diskutierten die Arbeitsgruppen innerhalb des Schriftstellerkongresses, es gab deren vier. Geleitet wurden sie von den Herren Gerhard Holtz-Baumert, Max Walter Schulz, Günter Görlich und Rainer Kerndl (wie unbelastet alle vier waren, kann man bei Joachim Walther nachlesen). Sie hießen „Literatur und Wirklichkeit“, „Literatur und Geschichtsbewusstsein“, „Literatur und Leser“ sowie „Literatur und Kritik“. Bei Max Walter Schulz diskutierte Gabriele Eckart mit, damals eine junge Philosophie-Studentin, die kürzlich ihr neues Buch „Schrappel“ mit Geschichten und Gedichten herausgebracht hat, die sehr autobiografisch in die damalige Zeit zurückleuchten. „Wir müssen unsere eigenen Widersprüche gewissermaßen lieben“, sagte sie 1973, was wohl in kaum einem Ohr erhofften Klang erzeugte. Wer liebte schon Widersprüche, nur weil sie die Entwicklung angeblich vorantrieben? Man erfand eigens nichtantagonistische Widersprüche.

14. November 2023

Vor 50 Jahren, am 14. November 1973, las ich den allerersten Leserbrief zu einem Gedicht, das von mir gedruckt worden war. Aus Budapest kam ein Brief, abgestempelt am 10. November, in dem Ildi meine Geschichte aus der „Armeerundschau“ lobte, die ich ihr stolz wie ein Kleinspanier geschickt hatte. Ich begann in einer Dissertation zu lesen, die ein Horst Oswald verfasst hatte, Titel „Literatur, Kritik und Leser. Eine literatursoziologische Untersuchung“. Der Leserbriefschreiber hieß Hans-Peter Rietz. Am 14. November 1973 begann in Berlin auch der VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, von dem ich mir später das zweibändige Protokoll kaufte. Die beiden Vorgänger-Kongresse waren noch als Deutsche Schriftstellerkongresse ausgewiesen, der VI. mit dem unsäglichen Hauptreferat von Max Walter Schulz, das ich Anfang Januar 1977 mit Entsetzen las. 1973 referierte dann Hermann Kant, meine Randglossen fielen weniger üppig aus.

13. November 2023

Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen einem entsetzten Konditormeister und einem entsetzten Fontane-Forscher, falls der Gegenstand des Entsetzens derselbe ist, etwa die Schließung eines Museums, das Besucher von fern und nah anzog? Der Fontane-Forscher wird eher zitiert, nur in einer Reportage der Lokalzeitung kommt vielleicht auch der Konditor zu Wort. Der Fontane-Mann ist in seinen Wurzeln erschüttert, der Konditor hat den vielen Besuchern immer gut Torte und Kaffee verkauft, denn Museumsbesucher sind in aller Regel in dem Alter, in dem Torte mehr lockt als der Halbakt einer verschleierten Performance-Künstlerin im Kampf gegen Putin und Donald Trump. Vor 20 Jahren hatte ich eine belanglose Besprechung in Suhl, zu der sich der Chefredakteur sich entschuldigen ließ wegen eines anderen Termins. Den absolvierte er zu Hause im Jogging-Anzug, wie ich aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen mit Quellenschutz umgehend erfuhr.

12. November 2023

Heute wäre Loriot 100 Jahre alt geworden, was ihm leider nicht gelang. Vielleicht wäre alles besser gelaufen, wenn von den Kosakenzipfeln nicht nur einer übrig gewesen wäre. Die ganze Woche tobt das öffentlich-rechtliche Fernsehen bereits vor im Feiern des heutigen Jubiläums. Nur nie zu spät kommen, heißt das Motto, weil sonst, wir erinnern uns, das Leben kommt und straft. Wer wissen will, welche Übergroßen in den kommenden vier Jahren 100, 200, 300 oder gar 400 werden, ahnt, an welchen Biographien eins bis vier Verlage bereits emsig basteln, obwohl in aller Regel bereits genügend einschlägige Biografien vorliegen. Das nennt man Markt und der regelt zwar nicht alles, aber nach wie vor so viel, dass man zweifeln könnte, ob am versauten Sozialismus, abgesehen von seiner realen Existenz, doch nicht alles schlecht und falsch war. Wie auch immer, Loriot war der Größte, was von vollständig unabhängigen Instituten vollständig unabhängig x-fach bestätigt wird.

11. November 2023

Am Martinstag werden, wenn ich in meinem Staatsbürgerkundeunterricht richtig aufgepasst habe, Mäntel geteilt, was dazu führt, dass in der Regel anschließend zwei frieren, wo vorher nur einer fror. Früher hätte ich das kaum Fortschritt genannt, aber das war mein Promotionsthema, wie ich mich dunkel erinnere. Heute habe ich drei Seiten von Theodor Heuß gelesen und 31 Seiten von Peter Pütz. Der eine war Bundespräsident, obwohl er eine freundschaftliche Beziehung zu Hermann Hesse pflegte, der andere war ein Professor in Bonn, was in der Regel nicht zu freundschaftlichen Beziehung zu Hermann Hesse führte. Eigentlich hat alles mit Arthur Eloesser zu tun, der Heuß zitierte, weil der über Wieland geschrieben hatte, was 1933 auch Walter Benjamin tat in der einst überaus wichtigen Frankfurter Zeitung, für die eben auch Eloesser schrieb. In den Hochburgen des Karnevals hatten heute die steppenden Bären ihre ersten Auftritte, aus den Flachburgen kam nichts.

10. November 2023

Die historische Ereignisdichte gestern verdrängte innerhalb der verfassungsrechtlich gesicherten Zeilengrenze dieses Tagebuches den 70. Todestag von Dylan Thomas, der unter die Iren fällt und in meiner anglophilen Bibliotheksabteilung mit zwei bescheidenen Bänden vertreten ist, „Die Krumen von eines Mannes Jahr“ heißt der eine, „Arbeit am Wortwerk“ der andere. Und heute liegt schon wieder der 60. Todestag von Otto Flake an. Man starb halt gern im November. Flake ist deutlich stärker präsent bei mir und er war ein knarziger Bursche. In seiner dicken Autobiographie „Es wird Abend“ blättere ich mehr als gelegentlich und erschauere vor der hinten abgedruckten ellenlangen Werkliste. „Freiheitsbaum und Guillotine“ heißt eine Essay-Sammlung von ihm, zu der Herr Rolf Hochhuth eigens ein Nachwort verfasste, welches ich am 11. 11. 2013 mit Bleistift und Textmarker las. Ein Lesezeichen finde ich vor einem Beitrag für den Südwestfunk zu Hugo von Hofmannsthal.

9. November 2023

Einmal im Jahr, wenn dieser Tag da ist, gedenken wir pflichtschuldigst der mit ihm verbundenen historischen Ereignisse. Platz 1 der Gedenk-Hitparade: der Mauerfall, der eher eine Öffnung war. Platz 2 die Pogromnacht, die selbst von ausgebufften Nachrichtensprechern gern mit einem r zu viel ausgesprochen wird. Platz 3, schon fast vergessen, weil verglichen mit Platz 1 erfolglos und eben auch nicht sonderlich friedlich, die Novemberrevolution, die immer auf sehr runde Jubiläen warten muss, ehe mal wieder Döblin ausgegraben wird oder wer auch immer oder Florian Illies ein Buch vollschrieb. Platz 4 das Pfuiteufelchen aus München, der Putsch des Herrn aus Braunau am Inn. Der das Datum natürlich absichtlich wählte, was man von Schabowski nicht sagen kann. Voll tiefstem Symbolgehalt seit 1989 die Bebilderung des Ereignisses: immer die bunte Seite der Mauer, immer die hüpfenden Wessis, denn im Osten hüpfte erst einmal keiner am und auf dem Beton, nur Sieger.

8. November 2023

Diesen Mittwoch darf ich ins Goldene Buch der starken Überraschungen eintragen. Meine wahrhaft uralte Neigung zu Maxim Gorki hat eine vollkommen und absolut unerwartete Stärkung erhalten. Ich verdanke sie meiner fortgesetzten Orientierung auf literarische Jubiläen, wie klein sie auch immer seien. Heute ist es der 70. Todestag von Iwan Bunin, dem die unbedarfte Elke Heidenreich in ihrer literarischen Werbeverkaufsschau im Fernsehen als in der DDR verboten zu neuen Umsätzen verhelfen wollte. In der DDR ist mehr Bunin erschienen als ihm Westen je und das in sehr guten Übersetzungen. Beim Nachprüfen nicht belegter Zitate, beim Suchen eventueller Aussagen zu Bunin stieß ich auf eine Arbeit von Gorki aus dem Jahr 1922, betitelt „Vom russischen Bauern“. Fritz Mierau hat sie in die DDR eingeschmuggelt, im Original eine Broschur von 40 Seiten, damals Russisch und Deutsch zeitgleich, bei Reclam Leipzig 1987 („Russen in Berlin“) eine Zeitbombe.

7. November 2023

Das Jahr 2024 wirft keineswegs seine Schatten voraus. Es wirft mit Sonnenseiten, die sich freilich auch als Regenseiten erweisen könnten, wie das langsam dahinsiechende Jahr 2023 vorführte. Der bereits vorhandenen Buchungsbestätigung für Quedlinburg schließen sich mit Posteingang aktuell vier weitere an, sie bringen uns immerhin reichlich 300 Euro Frühbucherrabatt, womit sich schon eine Anzahlung bestreiten lässt. Weil wir zu DDR-Zeiten ausschließlich Ungarn sahen und nichts als Ungarn jenseits eigener Ostgrenzen, holen wir jetzt nach. Auf Tschechien, Slowakei, Polen und Baltikum in diesem Jahr folgen im kommenden Ungarn, Polen, Tschechien und Slowenien. Wir wollen wieder in Marienbad sein, wir wollen nach mehr als dreißig Jahren wieder einmal in Ungarn übernachten, nach 48 Jahren gar am Balaton. Budapest sahen wir am 18. Mai zuletzt nach einem fürchterlichen Stau von Bratislava her fast nur aus dem Bus, der Tagesausflug war ein Ofenschuss.

6. November 2023

In öffentlich-rechtlichen Krimis wohnen alleinstehende Täter, Opfer, Ermittler und natürlich auch Ermittlerinnen in riesigen Wohnungen oder komfortablen Häusern. Wie nötig das ist, weiß ich, seit ich vier Stunden ein zweiköpfiges MDR-Team in der Wohnung hatte: Beleuchtung, Kamera, Kabel, die Teammitglieder selbst natürlich auch. Und ich war dabei der einzige Darsteller. In meinem Arbeitszimmer würde nichts gedreht werden können. Nun denn. In diesen Filmen finden die Ermittler und natürlich auch die Ermittlerinnen immer einen Parkplatz, egal, wohin sie fahren. Wenn Gefahr im Verzug ist, dringen viele einfach ein, manche nicht. In meinem Briefkasten auch heute keine Sonntagszeitung, die schon am Sonnabend fehlte, der Vertriebsmann hat also gelogen. Was schon am dritten Sonnabend geschieht, also viel zu früh für Wohlwollen meinerseits. Die Zeitung, wegen der ich anrief, fehlt immer noch, dafür fand sich noch eine aktuelle im Rücklauf.

5. November 2023

Vor 50 Jahren verdoppelte die DDR den Mindestumtauschsatz für Besucher aus nichtsozialistischen Ländern, wie das damals hieß, während meine Bibliothekskolleginnen die Ladehemmung hatten, die Montage nach anstrengenden Tagen davor somit sich bringen. Wir waren in Berlin, wohnten im Hospiz am Bahnhof Friedrichstraße, ich kaufte mir Günter Kunerts „Die geheime Bibliothek“, ich hätte „die Kipper“ sehen können, sah sie aber nicht. Am Freitag Besuch des ML-Lesesaales in der „Kommode“, später eine Führung mit Einführung in der Berliner Stadtbibliothek, in der ich drei Jahre später Biermann sah, ohne ihn zu sehen. Nach der Staatsoper das Albrechtseck als Schauplatz meines ersten Berliner Gruppenausgangs im April 1972. Am Abend hier Großauftrieb mit Blaulicht in der Keplerstraße: zweimal Feuerwehr, einmal Rettungswagen, einmal Polizei, vom Fenster aus nicht zu erkennen, wo genau. Kleine Recherche zum Rumänen Eugen Barbu nebst etwas Umfeld.

4. November 2023

Klassentreffen in Unterpörlitz beim Griechen. Der Ansturm hält sich in Grenzen. Die ersten von uns sind 71 Jahre alt, der Rest trabt mit 70 hinterher. Wir haben Probleme mit Hüften, Knien, Ohren, wir warten auf eine Operation oder wir haben eine hinter uns. Manche haben sich entschuldigt. Sie sind in London, in Berlin oder augenblicklich unbekannten Aufenthaltes. Einige haben abgesagt, andere sich gar nicht erst gemeldet, von einigen stimmen womöglich die e-mail-Adressen nicht mehr. Was uns, die da sind, nicht davon abhält, erst einmal einen Ouzo zu trinken. Alsdann trinken wir Bier, welches aus Griechenland kommt und schmeckt. Wir hätten auch deutsches Bier haben können, falls wir das hätten haben wollen. Wir essen aber aus Gewohnheit und guter Erziehung nicht Fisch im Steak-House. Ich entscheide mich für eine Vorsuppe mit weißen Bohnen und danach gebackene Champignons. Dazu gibt es keine großen Zwiebelringe. Nächstes Jahr kommen wir wieder hierher.


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