Tschingis Aitmatow, ein ISWI-Gast

Schriftsteller, die große Säle füllen, sind nicht eben das Normale in unserem Alltag, und auch wenn sie Tschingis Aitmatow heißen, will die Neugier erst einmal geweckt sein. Den 1928 geborenen Kirgisen in die Ilmenauer Festhalle gebracht zu haben, ist ein Verdienst der ISWI-Organisatoren, wobei sicher der Umstand eine Rolle spielte, daß der Autor ohnehin gewissermaßen in der Gegend war, nämlich in Marburg und Eisenach an den Vortagen. Auch dort sprach er vor vollen Sälen und vergaß am Sonntagabend nicht, dies in Ilmenau eigens zu erwähnen. Und ehe er gemeinsam mit seinem Übersetzer Friedrich Hitzer den nicht ganz einfach zu bestreitenden Abend in Angriff nahm, gab es eine weitere nicht eben übliche Besonderheit.

Fast huldigend begrüßte der Leiter der Thüringer Staatskanzlei, Dr. Michael Krapp, den Gast, erinnerte an jene literarischen Grunderlebnisse, die DDR-Bürger mit einer kritischen Weltsicht aus den in der DDR allerdings mit großer Sorgfalt und in guten Auflagen verbreiteten Werkes des Mannes aus dem fernen Osten der Sowjetunion gewannen. Manch damalige Debatte ist aus heutiger Sicht und vor allem für heute junge Leute kaum nachzuvollziehen: etwa die nicht nur in der damaligen Sowjetunion mit größter Heftigkeit geführte Diskussion um „Der weiße Dampfer“, in der das zeittypische Totschlagargument vom Geschichtspessimismus die Runde machte. Damals Aitmatow zu verteidigen, selbst um den Preis einer überzogenen Gegendeutung, war mehr als nur eine Demonstration bewährten eigenständigen Denkens. Und Männer, die dies taten, wurden selbst beinahe zu Kultfiguren. Erinnert sei hier an Ralf Schröder, der ebenfalls in Ilmenau ein mehr als nur interessiertes Publikum fand.

Als „Stargast“ der International Student Week Ilmenau bot Tschingis Aitmatow keine Lesung im herkömmlichen Sinne. Sein Übersetzer Friedrich Hitzer mußte den Part des Dolmetschers aus dem Russischen in gleich zwei Sprachen übernehmen. Hitzer gab jeweils die deutsche und die englische Übertragung dessen, was Aitmatow gerade sagte und sprang damit für Aitmatows Tochter Shirin ein, die entgegen der Ankündigung nicht nach Ilmenau kommen konnte. Aitmatow sprach vor allem über sein Buch „Das Kassandramal“, in dem ein genialer russischer Genetiker, der an einer langdauernden Weltraummission teilnimmt, sich kategorisch weigert, auf die Erde zurückzukehren. Auch eine tragische Liebesgeschichte kommt vor, die den Autor „viel Qual gekostet hat“. Aitmatow stellte sein Buch vor allem als ein problembehandelndes und teilweise auch problemlösendes vor. Von den literarischen Qualitäten vermochte er, den Umständen der dreisprachigen Darstellung entsprechend, kaum eine Vorstellung zu vermitteln.

Er stellte die Bezüge her zum vorangegangenen „Die weiße Wolke des Tschinggis Chan“ und zog von diesem wiederum Parallelen zu einer realen Geschichte aus der ausgehenden Stalinzeit, als die Schauspielerin Soja Fjodorowna sich in den Moskauer Militärattaché der USA verliebte und am Ende dafür im Gulag landete. Immer wieder berief sich Aitmatow zustimmend auf Aussagen von Kritikern über ihn. Selbst die Meinung, „Das Kassandramal“ sei gar kein Aitmatow, lehnte er nicht rundweg ab, nannte das Werk sogar „eine neue Erscheinung in meinem Schaffen“. Wer freilich „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ gelesen hat, weiß, daß es dort nicht nur eigenwillige Kosmonauten schon einmal gegeben hat. Das freilich spricht nicht gegen das neuere Buch, das vor zwei Jahren in Deutschland sogar schon vor der russischen Originalausgabe erschien. Aitmatow meint heute angesichts zweifelhafter wissenschaftlicher Erfolge mit dem Klonen von Lebewesen seine Überzeugungen bestätigt zu sehen. Die Menschheit steht, so der große Kirgise, vor einer neuen Apokalypse, es werde eine Apokalypse in uns selbst sein. Und ganz am Ende der zweistündigen Podiumsveranstaltung gab es doch noch puren Aitmatow-Text: Er las, was er sein Manifest nannte, die „Beschwörung des Sämanns.“
  Zuerst veröffentlicht in: FREIES WORT, Feuilleton, 6. Mai 1997
  Überschrift: Vor der „Apokalypse in uns selbst...“

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