Peter Bichsel 90

Dass Peter Bichsel in einem Pflegeheim starb, hat mich seltsamerweise angenehm berührt. Nicht, dass ich ein Fan von Pflegeheimen wäre, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Gepflegtwerden in der, nun ja, nicht direkt armen Schweiz eine andere Sache ist als andernorts. Möglicherweise sprechen die Pflegerinnen und Pfleger dort sogar die Sprache der Gepflegten, die in der finalen Phase durchaus auch ungepflegt aussehen dürfen. Ich hatte mich, um das nicht lange vor mir her zu schieben, auf den 90. Geburtstag von Peter Bichsel langfristig vorbereitet. Was nur heißen will, dass ich aus der namhaften Menge meiner Bichsel-Bücher eines herausgriff, das hinreichend dünn ist, um auch in Zeitnot rasch lesbar zu sein. Es trägt den Titel „Möchten Sie Mozart gewesen sein?“ Es erschien 1999 im Stuttgarter Radius Verlag, mein Exemplar entstammt der dritten Auflage 2000, da hatte entgegen dem verbreitetsten Irrtum des Jahres das neue Jahrtausend noch nicht begonnen, das alte, was ja immerhin auch etwas war, dagegen schied in der üblichen Geschwindigkeit, die Jahre so an sich haben, dahin. Mein Exemplar hat außerdem den schätzbaren Vorteil, unschätzbar will ich ihn angesichts realer Marktlagen nicht nennen, vorn ein Autogramm von Peter Bichsel zu zeigen.

Zweiundzwanzig Bücher von Bichsel besitze ich, zwei über ihn, ich schäme mich nicht, das eine gute Ausstattung zu nennen. Als ich einem befreundeten Verleger eines Tages von meiner nicht zu brechenden Vorliebe für Peter Bichsel erzählte, als könnte einer, der viele Jahre Kolumnen schreibt, einen, der noch viel länger Kolumnen schreibt, nicht mögen, da sagte mir der Verleger etwas, was ich leider nicht mehr wörtlich parat habe. Es klang wie: Ja, der war mal berühmt. Nun bin ich von Hause aus eher bei denen, die mal berühmt waren, als bei denen, die eben gerade berühmt gejubelt werden im Interesse der Verleger und Verlage, die natürlich Geld verdienen wollen. Im Felde der Kunst und Literatur geistert der Begriff des Brotberufes, als hätten Künstler und Literaten, die den Namen wirklich verdienen, dem Brote zu entsagen. Luft und Liebe, wir kennen das. Die kleine Schweiz hat den Vorteil, dass sie den Schriftsteller wegen der schieren inländischen Marktgröße, die eine Marktkleine ist, in Berufe drängt, die durchaus ehrenhaft und mit dem Wort Brotberuf nie gut charakterisiert sind. Man könnte die Zahl der Lehrer ermitteln, die Autoren waren oder wurden. Andere waren Architekt und Redakteure gab es natürlich immer, seltener Meliorationsingenieure.

Wenn also Autoren hartnäckig kleine Formen pflegen, die Zeitungshonorare einbringen, doch niemals eine Chance, auf der Longlist eines namhaften Buchpreises zu landen, die nur aufnimmt, was als Roman daherkommt, dann haben solche Autoren bei mir einen Sympathiebonus, der mir innerhalb eines Fernsehkrimis den ernsten Vorwurf der Befangenheit eintragen würde. Wobei die Privatlogik, Kolumnisten seien Kollegen gegenüber von Hause aus befangen, nicht zu hundert Prozent zieht. Man müsste das überprüfen: Gehen Essayisten mit anderen Essayisten milder um als etwa mit Theaterkritikern, sind solche wiederum unbefangen, wenn ihnen Aphorismen in die Finger geschoben werden? Ein weites Feld, sagte einst einer, der alles schrieb, sogar Bücher, die als solche Brotbücher waren und Theaterkritiken auch. Damals saßen sie noch alle in einer Reihe und es gab so viele von ihnen, dass einzelne sich ganz auf ein einziges Theater konzentrieren konnten. Später begegneten sich Namhafte in den Luft selbst, wie einst Außenminister Dietrich Genscher: eben noch die Burg in Wien und schon das Thalia in Hamburg. Nun scheint Bichsel Theaterkritiken nicht geschrieben zu haben, mir sind jedenfalls noch keine über den Weg gelaufen, was wenig besagt.

Aber er hat ein Büchlein verzapft, welches den Titel „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ erhielt. Es wurde, wie allseits bezeugt ist, ein Sensationserfolg. Otto F. Walter (5. Juni 1928 – 24. September 1994), der sich den Entdecker Bichsels nennen darf, hat die Geschichte erzählt. Er schrieb ein Nachwort zum Büchlein und weil Marcel Reich-Ranicki eben gerade in der Schweiz ein paar erholsame Tage genießen wollte, meldete er sich bei Walter mit der Frage, ob man sich nicht in Interlaken treffen könne. Man aß etwas zusammen, man fuhr mit einer Kutsche durch den Park, was man, als ich erstmals Interlaken besuchte, schon nicht mehr tun konnte, und dann fing, draußen regnete es, Walter von Bichsel zu schwärmen an. Noch ehe das Buch gedruckt war, kannte Reich-Ranicki den Text und dann schrieb er zunächst für die Hamburger ZEIT eine Kritik, die dann hie und da nachgedruckt wurde. „Kritiker waren damals noch Autoritären ...“ schrieb Walter rückblickend in „Wie ich Peter Bichsel kennenlernte“. Alle nicht, müsste man ergänzen, aber einige schon. Peter Bichsel hatte also Glück mit seinem Marcel Reich-Ranicki, was sich nicht unfreundlicher ausdrücken lässt. Und die Kritik liest sich 60 Jahre später, als wäre sie von eben.

Es gab damals solche Buchtitel wie „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“ oder „Der Schatten des Körpers des Kutschers“, heute heißen die Bücher „Die Hundertvierjährige, die aus dem Kellerfenster stürzte und sich das linke Schlüsselbein brach“. Ich will froh sein, dass ich nicht vor irgendeiner Buchmesse in irgendeine Jury gezerrt werde, die am Ende eine Liste der hundert obergeilsten Buchtiteln aufstellen muss. Noch immer bin ich übrigens der Meinung, dass Frau Blum ja an einem Tag ihres Lebens den Wecker hätte so stellen können, dass sie dem Milchmann hinter der Haustür aufzulauern in der Lage gewesen wäre. Der Milchmann hat seine Runde, Frau Blum ist entschieden flexibler, wenn man es nüchtern betrachtet. Wer gern einen Sonnenaufgang am Meer sehen will, muss zum Wasser, denn in aller Regel kommt das Wasser nicht zu ihm, wobei die Milchmänner nicht mit Wasser verglichen werden sollen, denn sie sind Milchmänner und keine Wassermänner. Mein Vater erzählte, als er noch lebte, bisweilen von den Bäckerjungen in Erfurt, die als einzige schon unterwegs waren, Brötchenbestellungen auszuliefern, die damals noch an die Türklinken gehängt wurden. Was Bichsel keinerlei Rückwärtsgewandtheit unterstellen will, nein.

Man muss natürlich zu Reich-Ranicki sofort eine Ergänzung nachreichen. Seiner Lobeshymne zur Frau Blum ließ er einen Verriss zu „Die Jahreszeiten“ folgen, den er für gut genug hielt, in seine spätere Sammlung „Lauter Verrisse“ aufgenommen zu werden. Dort hat er übrigens auch Günter Kunerts ersten und lange Zeit einzigen Roman „Im Namen der Hüte“ geschlachtet, was ich auf Nachfrage stets gern als eine der gravierenderen Fehlleistungen des Meisters mit dem rollenden R und der Thomas-Mann-Manie bezeichne. „Aus der rühmlichen Diskretion in Bichsels erstem Buch ist hier ein läppisches und ermüdendes Versteckspiel geworden, aus der Zurückhaltung eine kindische Geheimnistuerei, deren literarische Unergiebigkeit auf der Hand liegt.“ Auf Reich-Ranickis Hand, ist gemeint. Denn Peter von Matt etwa, den man lieben darf, auch wenn sein deutscher Verlag, dtv München, seine Bücher mit lieblos winzigen Buchstaben druckt, die man nur unter einem Rasterelektronenmikroskop lesen kann, wer aber tut das schon, Peter von Matt also hat gleich zweimal in Lobreden bei Preisverleihungen an Peter Bichsel auf eben „Die Jahreszeiten“ verwiesen, sie „warten immer noch darauf, dass man sie zwischen Stuhl und Bank hervorholt.“

„In der Komposition, im freien Spiel der Sprachstücke und Erzählpartikel, hat das Buch etwas hinreißend Musikalisches.“ Ich werde zwei, drei Sätze des Lobredners zitieren. „Das Wesen von Bichsels Schreiben liegt in einer Einfachheit, die sich vor unseren Augen ungestüm erweitert, vertieft und vervielfacht.“ „Das Unerhörte an Bichsels Werk aber besteht darin, dass er die ästhetische Krise der Moderne gespiegelt sieht im Reden der Leute, die sagen möchten, wie es war, und es doch nicht sagen können, und dass er uns dies hören und sehen lässt.“ „Peter Bichsel erzählt nach dem Ende des alten Erzählens, und all sein Erzählen ist Erinnerung daran, ist Erzählen als Gedenken an das alte Erzählen.“ Was man in hundert Jahren sagen wird, wenn man Bichsels Bücher liest, hat Peter von Matt auch gesagt am 13. November 1999, als die Martin-Bodmer-Stiftung ihren Gottfried-Keller-Preis an Bichsel verlieh: „So waren die also“. Ich würde keine Wette darauf abschließen, ob man 2099 den 2025 Gestorbenen noch lesen, ja, noch kennen wird. Wir wissen ja heute schon nicht mehr, dass Hitlers Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und nicht etwa die Ukraine. Seinem Verriss ließ Reich-Ranicki noch ein Lob folgen, dann schwieg er.

„Ich glaube, Bichsel schreibt hundert Seiten, bevor er fünf drucken lässt.“ Behauptete er unter der Überschrift „Ist die Erde wirklich rund?“ zu den „Kindergeschichten“ und Herbert Hoven nahm diese Kritik nicht in seine Sammlung „Peter Bichsel: Auskunft für Leser“ auf. Auch in den Bänden Reich-Ranickis fand ich keinen Nachdruck, was natürlich nichts bedeuten muss. Bedeutsam ist dagegen bisweilen, als wäre es eben gesagt, was in Bichsels Büchlein „Der Schweizers Schweiz“ zu lesen ist. Am 31. Mai 2006 etwa strich ich mir dies an: „Man fürchtet sich bei uns viel mehr vor einer möglichen Unbrauchbarkeit der Armee als vor einem Krieg.“ Warum kommt mir das bekannt vor, der ich oft genug selbst in kleinsten Schweizer Ortschaften an irgendwelchen Wänden oder Toren die Aufforderung zur nächsten Schießübung fand? „Wir sind zwar nicht alle reich, aber wir denken bereits alle wie die Reichen.“ Auch das war Peter Bichsel und das: „Der innere Feind der Schweiz heißt pervertierter Bürgersinn.“ Und ganz vorn in „Der Schweizers Schweiz“: „Für uns hat das Wort Ausland immer noch den Klang von Elend.“ Manche von uns erinnern sich: Die alten Griechen, im Schnitt deutlich jünger als die neuen Griechen, hielten alle anderen für Barbaren.

Und nun endlich zur Frage „Möchten Sie Mozart gewesen sein?“ Denn ich legte mir das Büchlein nicht nur vorsorglich in Griffweite, ich las es auch an einem einzigen Tag in dem Bewusstsein, dass Elke Heidenreich in ihren besten Zeiten mindestens acht solche Büchlein las an einem einzigen Tag. Was mich früher an mir selbst zweifeln ließ. Heute bin ich sehr zufrieden mit mir, wenn ich sieben Bücher in einem Monat zu Ende bringe, da dürfen auch dünne darunter sein. Also Mozart kommt auf den 58 Seiten streng genommen seltener vor als Anneli, wobei seine Menschwerdung für den jungen Peter Bichsel mit den säuischen Briefen an das Bäsle zusammenhing. Die Eingeweihten, wissen was gemeint ist, die Uneingeweihten sollen dagegen nicht an der falschen Stelle auf diesen Mozart neugierig gemacht werden. Uns interessiert ja auch nicht, ob Homer bisweilen seiner Haushälterin von hinten unter den Chiton griff, aus dem die Römer dann die ebenfalls griffgünstige Tunika machten. Von Anneli, die nie eine Anna war, heißt es: „Sie hatte eine Neigung, darüber nachzudenken, warum sie hier ist. (Andere Leute studieren das auf der Universität und nennen es Philosophie.)“ Und auch: „Heilig waren ihr alle, weil alle über ihr standen und niemand unter ihr.“

Von sich selbst schreibt Bichsel: „Ich hatte das Glück, ein schlechter Fußballer zu sein.“ Sonst wäre aus ihm, kann man seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen „Der Leser. Das Erzählen“ entnehmen, wohl gar nicht der schreibende Bichsel geworden, sondern der kickende. Das allein macht ihn schon merkwürdig: diesen Gedanken zugelassen zu haben. Und unter den Geschichten, die über ihn erzählt werden, ist auch die, wie er einen Freund am Bahnhof mit Karten für ein Ligaspiel mit dem FC Solothurn erwartete. Der Club ist heute drittklassig, falls ich das Schweizer System richtig verstanden habe mit Super League und Challenge League. Es war ein Spiel gegen den FC Basel und damals hieß das noch Nationalliga B, ich verzichte auf die Einzelheiten. Jedenfalls freute sich Peter Bichsel am Ende über den Nichtaufstieg der Solothurner. In der zweiten seiner Vorlesungen sagte er: „Es gibt über Autoren Biographien, die den Eindruck erwecken, dass jemand nur und ausschließlich und nichts anderes als ein Autor war.“ Und vorher in der ersten: „Das kleine bisschen Fantasie, das ich besitze, kann nur am Gewöhnlichen funktionieren, am Außergewöhnlichen nicht.“ Seinen heutigen 90. Geburtstag hat er knapp verfehlt: Friede ihm, Zählebigkeit seinem Werk.


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