Arthur Eloesser: Conrad Ferdinand Meyer (2)
Selten blicken Menschen, wenn sie sich ihrer Lektüre-Erfahrungen in der Schulzeit erinnern, auf ein rundum schönes, nicht wiederholbares, aber auf ewig anregendes Erlebnis zurück. Das Gegenteil scheint überwiegend der Fall. Und dabei spielt die Zeit gar keine Rolle, was auffällt. Die einen wurden mit Schiller gequält, die anderen mit Brecht. Gequält aber sahen sich alle. Auch von Arthur Eloesser fand ich einen eher unauffälligen Hinweis in diese Richtung. „Für mich, der ich als Halbwüchsiger die monumentale Pracht seiner Renaissancekunst mit der damals vorgeschriebenen Bewunderung angestaunt habe, ist dieser Sockel allerdings längst eingefallen.“ Man wird nicht ganz falsch liegen, den halbwüchsigen Eloesser so etwa in die Jahre nach 1882 einzusortieren, jünger als zwölf war auch damals keiner, den man so bezeichnete. Damals, das ist nebenher auch eine biographische Information über die jungen Jahre des Kritikers, war also an Berliner Schulen, sicher an der, die er besuchte, Bewunderung für Conrad Ferdinand Meyer vorgeschrieben. Diese Bewunderung hat keinesfalls angehalten, das ließ sich schon aus meinem ersten Umgang mit dem Thema ablesen. Dem ich aus dem simplen Grund eine Fortsetzung folgen lasse, weil ich neues Material fand, genauer zwei weitere Arbeiten Eloessers zu dem Schweizer. Mit Aussagekraft.
Beide Arbeiten finden sich in „Das literarische Echo“, Untertitel „Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde“, jeweils zum Ersten und zum Fünfzehntes des Monats erscheinend. Das allererste Heft im Verlag F. Fontane & Co., Berlin, trägt das Datum 1. Oktober 1898, Herausgeber war Josef Ettlinger, dem später Ernst Heilborn folgte. Wohl programmatisch darf man deuten, dass der erste Artikel im ersten Heft den Titel „Ueber litterarische Bildung“ trug, Verfasser war der Dramatiker Rudolf von Gottschall (30. September 1823 – 21. März 1909) aus Leipzig. Erich Schmidt, der akademische Lehrer Arthur Eloessers, lieferte ab Seite 6 den zweiten Beitrag: „Cyrano de Bergerac“. Er stand unter dem Rubriken-Titel „Charakteristiken“, dem Titel, den auch zwei der bekanntesten Bücher von Schmidt führen. Die erste für mich neue Arbeit Eloessers dort hieß schlicht „Briefwechsel“ und widmete sich selbigem zwischen Conrad Ferdinand Meyer und Louise von François. Der kam 1905 im Verlag Georg Reimer Berlin erstmals heraus, Herausgeber war Anton Bettelheim (18. November 1851 - 29. März 1930). Die Ausgabe umfasste 280 Seiten. 1920 erschien eine zweite vermehrte Ausgabe mit 309 Seiten bei de Gruyter Berlin. Die Briefe sind nicht enthalten in der zweibändigen Briefausgabe von Adolf Frey. Der Meyer-Freund braucht sie also.
Was auffällt, und zwar an beiden Arbeiten Eloessers, die erste erreichte ihre Leser unterm Datum des 1. März 1907, die zweite gut zehn Jahre später, am 15. Oktober 1917, ist etwas, was ich ich erzählerische Meidbewegung nennen möchte. Der Kritiker schreibt, wann immer es geht, gerade nicht von Conrad Ferdinand Meyer, sondern eben von Louise von François, von Gottfried Keller, sogar von Otto Ludwig. Es tauchen schon bekannte Stichworte auf, Marmor vor allem, sofort ergänzt, dass es mehr und eher der Schein von Marmor ist als Marmor selbst, der wirkt. Während der bekannteste Roman der Louise von François, „Die letzte Reckenburgerin“ als „einer der besten Romane, die je geschrieben worden sind“ bezeichnet wird, kommen die Novellen Meyers deutlich weniger gut weg, soweit sie überhaupt noch einzeln erwähnt werden. Das ist nur 1917 der Fall, 1907 geht es ausschließlich um die beiden Briefpartner und ihr unterm Strich doch eher seltsames Verhältnis zueinander. Zu Ostern und am 21. April 1881 schrieb Meyer erstmals an das „Verehrte Fräulein“, am 1. Mai 1881 schrieb Louise von François ihrerseits zum ersten Male an Meyer und zwar aus Weißenfels. Geboren am 27. Juni 1817, war sie reichlich acht Jahre älter als der Schweizer, sie starb fünf Jahre vor ihm am 25. September 1893. 1881 war sie also fast 64 Jahre alt.
Eloesser nennt sie „das alte Fräulein“, heute würden sich Damen zwischen 60 und 65 dergleichen verbitten, sie starten beim Halbmarathon, lassen sich letztmalig nackt für irgendeinen Playboy belichten und nehmen sich ein Vierteljahrhundert jüngere Männer, und das selbstbewusst und stolz in einem. Das alte Fräulein in Weißenfels aber hatte von Meyer nie etwas gehört, ehe er sich brieflich an sie wandte. Dann aber verklärt sie ihn. Eloesser zitiert: „Ihre Helden können, was sie wollen. Ihr Problem ist nicht die halbe Kraft, sondern die doppelte.“ Und kommentiert: „Mit dieser Anerkennung setzte sie ihn über alle modernen Erzähler, die sie mit ihrer Zornnatur recht wacker zu schelten wusste … Zweifellos hat die François Meyers poetische Konstitution überschätzt, wenn sie an dem Lyriker und Novellisten eine shakespearesche Ader entdeckte … Unbestechlich in ihrer Aufrichtigkeit, bewunderte sie alles, was er schrieb“. Dass Meyer davon nicht nur geschmeichelt war, sondern die überhöhten Erwartungen ablehnte, die die Ältere von ihm hegte, wird natürlich nicht verschwiegen, auch nicht, dass er ihr Keller ans Herz zu legen suchte. Weitgehend erfolglos, ihr ging, so der Kritiker, „die eigentliche Bedeutung der modernen Kunst, auch die ethische ihrer unerschrockenen Entdeckerkunst, verloren.“ Wobei er ihr das nicht anlastet: wegen ihres Alters.
Ihr musste, so Eloesser, „Meyer wie eine Bestätigung der hochragenden Edelmenschen erscheinen, die er, abgewandt von dem formlos Rohen und Nahen der Gegenwart, in Historie und Legende suchte.“ Und „so wurde ihrem lauteren Interesse der seltene Erfolg, sogar einen Meyer zum Plaudern zu bringen.“ „Der so genügsam Scheinende … ergab sich freiwillig dieser Freundin in der Ferne, die er nur zweimal bei sich in Kilchberg sah.“ Sogar Humor fand Eloesser in den erzählenden Briefen des Schweizers, freilich in den Grenzen, die der sich selbst setzte. Für Eloesser „gehört Meyer nicht zu den großen deutschen Briefschreibern“, die François dagegen sehr wohl. „Die pathologischen Gefahren seiner Natur gab er allerdings auch ihr nicht preis. Sie wusste nichts von Wahnsinn und Selbstmord der Mutter, wusste nicht, wie nahe Meyer selbst in aufreibend langen und bangen Entwicklungsjahren solchen Katastrophen gestanden hatte. Erst aus Bluntschlis Memoiren erfuhr sie von dem tragischen Ende der Mutter … und das Erlöschen von Meyers geistiger Kraft meldete ihr die Zeitung.“ Die Rede ist von Johann Caspar Bluntschli (7. März 1808 -21. Oktober 1881), dem Schweizer Rechtswissenschaftler und Politiker. Louise von François wagte nicht, „sich mit fragenden oder nur tröstenden Worten an die Familie zu wenden.“
Während die Besprechung dieses Briefwechsels eher eine Charakteristik der Louise von François im Sinne Erich Schmidts darstellt, nimmt Eloesser in seiner Sichtung der Nachlass-Edition Meyers einen anderen Blickwinkel, um weniger über den Schweizer und dafür mehr über die eigene Zunft zu reden. Prinzipiell ist er zweifellos der Meinung, dass die natürlich verdienstvolle Arbeit von Adolf Frey dem Bild Conrad Ferdinand Meyers kaum positive neue Züge hinzufügt. Wohl aber glaubt er, dass diese und ähnliche Editionen einen Spezialnutzen für die Zunft der Philologen erbringen. Sie könnte, so Eloesser vielleicht etwas zu optimistisch, mehreren Generationen von Germanisten „ein wahres Festessen“ sein, „die den Seminaren vorstehenden Professoren werden auf Jahre hinaus in der Lage sein, den um Stoffe immer verlegenen Doktoranden von dem großen Braten Dissertationen abschneiden zu können.“ Schon die Wortwahl will sicher despektierlich sein, wie spätere Formulierungen in „C. F. Meyers literarische Beisetzung“ belegen. Denn, und das muss niemandem eigens bewiesen werden, Schriftsteller, Dichter schreiben natürlich nicht, um diversen Doktoranden und ihren Professoren Stoff zu liefern, sie schreiben für Leser. Für Eloesser hat Frey Meyers Werkstatt „nun vollständig ausgeräumt und der philologischen Hausindustrie eingeräumt.“
Vorarbeiten dafür lieferte August Langmesser (16. Juli 1866 Basel – 15. Oktober 1918 Bern). Er veröffentlichte bei Wiegandt & Grieben Berlin das Buch „Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben, seine Werke und sein Nachlass“, 536 Seiten, 3. Auflage 1905; später im Verlag der Brüder Paetel 1918 „Conrad Ferdinand Meyer und Julius Rodenberg. Ein Briefwechsel“, 322 Seiten stark. „Nun ist Conrad Ferdinand Meyer keine verunglückte Figur in der deutschen Literaturgeschichte, wenigstens nach außen hin, da er seine dramatischen Versuche so gut wie Gottfried Keller als eine mehr geheime Passion hinter seine erzählenden Werke verstecken konnte. Seine Figur steht sogar recht stattlich auf einem Sockel von fertigen, sehr fertigen Kunstprodukten, die man für große Schöpfungen einer zeugenden Phantasie und für Bewährungen eines hohen stilistischen Gefühls hält oder hielt.“ Durchgehende Relativierung ist hier leicht ablesbar. Eloesser kennt natürlich „die Henkersarbeit des jungen Ästhetikers Franz Ferdinand Baumgarten“. Der veröffentlichte 1917 bei C. H. Beck in München das Buch „Das Werk Conrad Ferdinand Meyers. Renaissance-Empfinden und Stilkunst“, 280 Seiten stark. Baumgarten (6. November 1880 – 18. Januar 1927) war Ungar und hat ein prächtiges Grab in Budapest. Adolf Frey dagegen behielt seine Hochschätzung Meyers bei.
Die Nachsicht Eloessers ist tückisch, er nennt Beispiele von bedeutenden Germanisten, die höchste Achtung vor unbedeutenden Schriftsteller bekundeten. „Forschen und Bewerten ist eben nicht dasselbe, und wenn ein Gelehrter sich einem Dichter mit der fortgesetzten Anhänglichkeit sehr eingehender Studien hingegeben hat, so pflegt er den Standpunkt, von dem nur noch ein respektvolles Aufsehen möglich ist, überhaupt nicht mehr aufzugeben. Das ist schöne Vasallentreue, und wir sind darauf vorbereitet, dass unsere Söhne und Enkel manchen frommen Glauben, den wir ihnen hinterlassen wollen, als Aberglauben recht überlegen ablehnen werden.“ Ich wage zu behaupten, dass ausübende Philologen diesen Blick in ihre Nähkästchen sicher reihenweise wenig amüsiert zur Kenntnis nahmen, falls sie es denn überhaupt zur Kenntnis nahmen. Ich nehme mir diese Sicht umgehend zum Vorbild: mir geht es wohl mit Eloesser jetzt schon oder bald einmal wie Frey mit Meyer, meine Söhne und Enkel lasse ich einmal außen vor. „Die Philologen haben ihre besonderen Anhänglichkeiten, müssen sie schuldigerweise an diejenigen Dichter haben, die ihnen Arbeit und Brot geben und die die Literaturgeschichten dick machen helfen.“ Deshalb, so der Kritiker wissend, lieben sie eher Meyer als Keller, deshalb fremdeln sie ausdauernd mit Jean Paul.
„Solange der philologische Betrieb sich nicht die Organe angeschafft hat, um die aus der Luft oder, sagen wir rein aus dem inneren Leben geholten Motive zu erriechen und zu erschmecken, wird er seine methodische Anstrengung lieber den Schriftstellern zuwenden, die sich durch Quellennachweise, durch Vergleiche und Parallelen haftbar machen lassen.“ Das gilt bis heute ohne alle Einschränkung, Vergleiche und Parallelen sind das tägliche Brot fast aller Kritiker. Arthur Eloesser versucht zuerst sich, dann seinen Lesern nachvollziehbar zu machen, wieso Meyer hohe Wertschätzung immer neu auf sich zieht, obwohl doch nicht wenig dagegen spricht. Er schreibt eine wichtige Wirkung einer „vornehmen Berliner Zeitschrift“ zu, deren Titel er nicht nennt. Es handelt sich um die Deutsche Rundschau, 1874 von Julius Rodenberg (26. Juni 1831 – 11. Juli 1914) ins Leben gerufen. Sie hatte Meyer immer wieder als Publikationsort gedient, sie setzte nach seinem Tod die Arbeit an seinem guten Ruf unermüdlich fort, indem sie beispielsweise die Erinnerungen von Betsy Meyer druckte und anderen Publikationen zu Meyer Raum gab. „So begann der Ruhm Meyers, aufgepflanzt auf den von Keller, den er heute von einer Seite fast zu beschatten scheint.“ Für Eloesser ist der fortgesetzte Erfolg Meyers sein Sieg bei der so genannten reiferen Jugend.
„Die Anhänglichkeit der lesenden Jugend und die der studierenden Jugend, der Adolf Frey mit dem Nachlassprachtbande ersprießliche philologische Übungen verheißt – das ist nicht wenig. Mir aber, der ich C. F. Meyer mit seiner ersten Generation von Lesern als den anderen schweizer Klassiker bewillkommnet und bewundert habe, ist doch auch ein wenig zumute, als ob ihm mit dieser verschwenderischen philologischen Huldigung oder Beisetzung die allerletzten literarischen Ehren erwiesen worden seien.“ So schließt Eloesser im Oktober 1917. Es sind also doch keine dreißig Jahre vergangen, wie ich 2024 behaupten musste, weil mir „Das literarische Echo“ noch nicht zugänglich war. Ich danke Volker Wetzel (Berlin), der mich mit Kopien versorgte, ich muss inzwischen auch der Universität Innsbruck danken, die ihren Bestand digitalisiert hat. Es ist noch nicht sehr lange her, dass mir von dort freundliche Unterstützung bei Einzelanfragen zugesagt wurde. 1917 durfte Arthur Eloesser durchaus süffisant festhalten, dass C. F. Meyer jener reiferen Jugend „heute unter Billigung von Eltern und Erziehern als Geschenkliteratur in Geburtstags- und Einsegungsgaben zukommt.“ Wir wissen, dass die jüngere Jugend deutlich lieber zu der Literatur greift, vor der Erzieher und Eltern nicht eifrig genug warnen können, was gegen Meyer spräche.