Berliner Biographien: Kurt Tucholsky

Am Neujahrstag des Jahres 1928 veröffentlichte die „Vossische Zeitung“ des Ullstein-Verlages ein Bekenntnis. Ein Mann gab kund, was er haßte: das Militär, die Vereinsmeierei, Rosenkohl, den Mann, der immer in der Bahn die Zeitung mitliest, Lärm und Geräusch und „Deutschland“. Daneben stand aber auch, was er liebte: Knut Hamsun, die Haarfarbe der Frau, die er gerade liebt und – Deutschland. Kurt Tucholsky – wer sonst hätte diese Antworten so geben können – bekannte Liebe und Haß zugleich zu Deutschland. Einmal jedoch in Anführungszeichen: schon ein Jahr später war in komprimierter Form anzuschauen, warum. „Deutschland, Deutschland, über alles“ wurde zum Titel eines Buches, welches Tucholsky gemeinsam mit John Heartfield, der Text und Bilder montierte, der Öffentlichkeit präsentierte.

Die „von allen guten Geistern verlassene Republik“, Nährboden und immer wieder erschreckend ergiebiger Gegenstand seines Lebenswerkes, unterzog Tucholsky einer satirischen Bilanz. Was er seit dem Ende des I. Weltkrieges immer wieder an augenfälligsten und auch an höchst unscheinbaren Symptomen abgelesen hatte: die verhängnisvolle Halbheit der neuen Zeit, die hartnäckigen Überlebensbeweise der finstersten Kräfte der deutschen Geschichte, Schwäche und letztendliche Machtlosigkeit ihrer Hoffnungsträger – in diesem Buch kulminiert es: anklagend, erschütternd, beißend bitter. Und dennoch erwies sich die radikale Bestandsaufnahme nur allzubald als noch nicht radikal genug. Am 30. Januar 1933 traf ein, was Tucholkys schlimmste Ahnungen und Voraussagen bestätigte und zugleich übertraf.

In seiner Stadt Berlin tobten die Anhänger der „Machtergreifung“ und als im Mai dann auf dem Opernplatz die Bücher brannten, waren seine dabei. Zu diesem Zeitpunkt war Tucholskys Vorrat an Hoffnung fast verbraucht, seine Lebenskraft war auf eine Probe gestellt, die sie nicht bestehen konnte. Arnold Zweig, der einen der letzten Briefe Tucholskys aus dem schwedischen Exil empfing, benannte in seiner Antwort, die zum Nachruf wurde, den tiefsten Grund: „Sie hatten eine übertriebene Hochachtung und Erwartung für das, was dem Geist möglich ist...“. Zweig war in seiner Einsicht weiter gekommen: der Geist allein, so tapfer er kämpft, so aufopferungsvoll er auch immer sich einsetzt, vermag wenig: im entscheidenden Augenblick nichts. Die Kräfte aber, denen sich der Geist hätte verbünden müssen, waren für Kurt Tucholsky höchstens zeitweilig zu wirklichen Bündnispartnern geworden.

Schließlich war Kurt Tucholsky am 9. Januar 1890 als Bürgersohn geboren worden, die Prägung durch seine Herkunft erwies sich als stärker als bei manch anderem: den letzten Schritt, den endgültigen über die eigenen Klassenschranken hinaus, vermochte er nicht zu gehen. So wurde er zwar zu einem unversöhnlichen Kritiker schon des Kaiserreiches und dann vor allem der Weimarer Republik – er brachte es in der kleinen Form, die seine unübertroffene Domäne blieb, zu einem beispiellosen Nuancenreichtum – im Zeigen von realisierbaren Alternativen jedoch versagte er schließlich. Nicht zuletzt das nahm ihm, der das sehr wohl wußte, am Ende den Lebenswillen.

Bezogen auf Literatur, die er auf unnachahmliche Weise besprach, schrieb er: „Man hat vielmehr einzusehen: Leben ist aussuchen. Und man suche sich das aus, was einem erreichbar und adäquat ist, und an allem andern gehe man vorüber.“ Bis 1924 in Berlin, dann in Paris, schließlich im schwedischen Hindas hat Kurt Tucholsky in mehr als zweieinhalbtausend Beiträgen dies zu verwirklichen versucht. Am engsten ist sein Name mit der „Weltbühne“ verbunden, er hat das Berliner Chanson auf eine norme Höhe gebracht, Liebenswertes wie Betroffenheit Auslösendes in seinem exemplarischen Stil aufgeschrieben. Und dem alten Berlin hat er nachgesagt: „Man kann siebzig Jahre in dieser Stadt leben, ohne den geringsten Vorteil für seine unsterbliche Seele.“ Auch das war eine Liebeserklärung.
 Zuerst veröffentlicht in: Berliner Zeitung 120, Seite 11, 23./24. Mai 1987, unter   derÜberschrift: Unübertroffen in kleiner Form; nach dem Typoskript


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