Berliner Biographien: Johannes R. Becher

„Mich ausgiebig in der Gegend der Warschauer Brücke aufgehalten: dort, in der Memeler Straße, war 1911 der Ausgangspunkt meiner Entdeckung Berlins. Das hochstöckige Mietshaus, worin ich ein dürftig möbliertes Zimmer bewohntes, ragte wie ein dreikantiger Fels in die Großstadtbrandung vor, im ersten Stock befand sich das Café Komet, dessen Musikkapelle immer mein zauberhaftes Schlaflied wurde, sofern ich, was selten vorkam, zu Hause nächtigte. Denn Tag und Nacht war ich kreuz und quer durch Berlin auf Entdeckungsreisen.“

Am 30. September 1950 trug Johannes R. Becher dies in sein Tagebuch ein, fast vierzig Jahre also nach seiner ersten Begegnung mit jener Stadt, die ihn als zwanzigjährigen Studenten zum ersten Mal aufgenommen hatte, damals aus seiner Vaterstadt München kommend und auf dem Wege, Furore zu machen mit unerhörten Dichtungen. Berlin wurde die Gründungsstadt des Verlages Bachmair. Heinrich F. Bachmair, der Freund aus München und ebenfalls zu Studienzwecken nach Berlin gekommen, gründete ihn, um Bechers Kleist-Hymne „Der Ringende“ herauszubringen, die dann zum 100. Todestag Kleists auch erschien.

In kurzer Zeit entwickelte sich Becher zu einem der führenden Expressionisten, mit einer unglaublichen Produktivität ließ er Werk auf Werk folgen, Dichtungen, deren Sprache vielfach mit Eruptionen und Ekstasen verglichen worden ist: „Berlin Scharlachkürbis zerbeulte Frucht ins Netz der Himmel schlagend.“ (An Berlin). Ab 1920 lebte Johannes R. Becher überwiegend in der Hauptstadt, kehrte dem Expressionismus den Rücken: „Ich übersehe heute klar: Der Expressionismus hat abgewirtschaftet.“ (An Katharina Kippenberg). Der Dichter trieb den Bruch mit seiner bürgerlichen Herkunft immer konsequenter voran: Mitgliedschaft im Spartakus-Bund, in der KPD, Studium von Marx, Engels und Lenin.

Berlin wurde der Ort für Bechers Wirken in der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung: Er selbst stellte sein Werk mit der ihm eigenen Tendenz zur Ausschließlichkeit in den Dienst der Arbeiterklasse, er förderte junge Autoren, die gerade begannen, zu dieser Bewegung zu stoßen, Karl Grünberg etwa oder Hans Lorbeer. In der Nacht nach dem Reichstagsbrand hausen die braunen SA-Horden auch in Bechers Wohnung in Berlin-Zehlendorf, ihn selbst bekommen sie jedoch nicht zu fassen. Er entkommt über Leipzig nach Prag. Die Vorbereitung auf den Internationalen Kongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 nimmt bald einen großen Teil seiner Kräfte in Anspruch.

Die neuen Aufgaben und das für ihn äußerst schmerzhafte Erlebnis des Abgetrenntseins von der Heimat fördern eine neue Wende in seinem Werk: Die Exil-Dichtung zeigt ihn formenstreng – er entdeckt das Sonett für sich – und in tief vertrautem Umgang mit dem nationalen Erbe. Johannes R. Becher wird endgültig auch zum bedeutsamen Theoretiker und Kulturpolitiker: Seine spätere Tätigkeit als Kulturminister der DDR und als Gründer des Kulturbundes haben hier schon ihre Basis. In den letzten Jahren schrieb Becher in Berlin an einer Fortsetzung seines Romans „Abschied“, mit dem Titel „Wiederanders“. Dieser Titel könnte auch über seinem Leben stehen. Kontinuität des Wandels war es und vor allem Werk in einer unermesslichen Fülle.

Der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin ist 1958 seine letzte Ruhestätte geworden, Gedenkstätte und Archiv sein Wohnhaus in Niederschönhausen.
Zuerst veröffentlicht in BERLINER ZEITUNG, Nr. 181, Seite 7, 4. August 1987,
in der Artikelserie „Berliner Biographien“, Titel: Dichtung in einer unermessnen Fülle


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