Christine Perthen: Papierliebe
Würde ich Christine Perthens Debüt-Band auf meinen Schreibtisch stellen – so, dass ich ihr Foto sehe, wenn ich mich der Berührung versichern wollte, die mir ausging von diesem Buch – es wäre mir alles gesagt. „Ich sehe ein Bild und kann glücklich sein, sehe eine Radierung, eine Plastik – und es läuft mir ein Schauer über den Rücken, mein Herz kann einen Moment lang stillstehn, weil da etwas ist, das mich berührt“, schreibt sie in „Schreibplatz“. Wohin mit meinem Gleichklang? Soll ich also verschweigen, dass mich der hocherhobene Bohrer in der Hand des republikflüchtigen Zahnarztes am Ende von „Besucher“ mehr als stört? Soll ich verschweigen, dass mir die Modegestalterin Karoline vor dem Spiegel als Repertoire-Stück erscheint („Verlorene Konturen“)? Es sind sieben Texte in dem Buch „Papierliebe“, zwei davon geben Bekenntnisse der Autorin direkt und eines davon hat mich in tiefe Unruhe versetzt: „... doch muss sich heute eine Malerin ihr ebenmäßiges Gesicht mit Messern zerschneiden, damit die Narben ihre Bilder rechtfertigen? Für sein Gesicht kann man nicht – so oder so – und die anderen sollten lernen, die Gesichter zu respektieren, und nichts abzuleiten aus ihren, weder Anspruch noch versagen.“
Ingeborg Bachmanns Bild, Christine Perthens Bild - mein Bild von den Bildern, da gibt es kein Ausweichen. Und dies auch: „Kann man sich Galerien vorstellen, in denen das ursprünglich vom Künstler in seiner Größe Geplante hinge? Wir würden einen neuen Begriff vom Menschen prägen müssen. Vielleicht wäre dieser Zustand sogar unerträglich.“ In Christine Perthens Bekenntnistexten tauchen Namen auf, Franz Kafka vor allem, aber auch Hans Henny Jahnn. Der unauffälliger, vielleicht von mit steigender Wirkung. Zufall, dass der Zahnarzt in Hamburg als einzigen Wunschberuf nur nennen kann: Orgelbauer? Jahnns Name erscheint auf einem Zettel in dem Nachlass Christian Schindelmanns („Der Margarinekarton“) und seltsam, ich mag nicht denken, dass diese Konstellation eine literarische Nachnutzung ist. Immer entscheidet, was geworden ist aus einer Idee. Der Vater Schindelmann, scheinbar mitleidlos der Verachtung preisgegeben, die er auch verdient, fragt sich: „... und so schlimm der Gedanke ist, manchmal könnte ich glauben, er neidete uns diese Schuld.“ Christian Schindelmann war durchaus kein besonderer Sohn. Zu viele Züge, die ihm Christine Perthen mitgegeben hat, machen ihn repräsentativ: sein sich an dem Wort „Sondermeldung“ entzündender moralischer Rigorismus etwa. Oder das, was er sich selbst „Gerechtigkeitssinn“ nennt.
Natürlich kann man ein Wort,das einmal in einem bestimmten Sinn benutzt wurde, später in einem anderen Sinn benutzen. Das ist ein vollkommen normaler Vorgang der Sprachentwicklung, der Rückschlüsse nur dann gestattet, wenn tatsächlich unbemerkt eine alte Gesinnung fortlebt. Christian Schindelmann hat, wie so viele andere junge Leute seines Typus auch, Viktor Klemperers „LTI“ gelesen. Und er will nicht verstehen, sondern verurteilen. Wenn ich Generationsporträts überhaupt finde, dann nicht an der Stelle, die mir der Klappentext einreden will. Sondern in Christian Schindelmann oder in der Kunststudentin Perthen, die Kafka las, „weil es um meinen Ruf als großstädtische Studentin ging, und da auch noch als Kunststudentin. Ein ganz bestimmtes Rollenverhalten wird in so einem Falle beinahe zwingend, glaubt man.“ Und bei noch näherem Hinsehen entpuppt sich, dass es gar nicht um eine Generation, nicht einmal um den intellektuellen Teil einer Generation geht. Es geht um ein Lebensalter, in dem dialektisches Denken mit moralischer Inkonsequenz verwechselt wird. Das sagt Christine Perthen allerdings nicht.
Dafür aber hat sie an einem Tag „Das Spiel“ geschrieben und diese Erzählung ist ein einziges Plädoyer für den Vorzug einer solchen Schreibweise. Da kann sich nichts dazwischendrängen zwischen Tag und Tag. Das ist kompakt, das hat Konsequenz in allen Details und es ist herrlich erfunden. Der Wissenschaftler Kahr weiß eines Morgens, „dass sein eigentliches Leben nur das sein kann, was von ihm allein ausgeht, da kamen die Angst und die Bilder und vielleicht auch der erste Gedanke an das Spiel“. Und eben dieses Spiel führt die Kahtsche Erkenntnis ad absurdum. Für mich. „... dass Kafka auch nackt hinter einem Ball hergehopst sein könnte oder gar mit Säbel und Orden, darf ich gar nicht denken.“ Und weil meine drei Bände Ingeborg Bachmann nicht in einem Schuber stehen und weil ich Bekenntnisse mag, bekenne ich auch – meine „Papierliebe“. Mit ist Wärme ausgegangen von diesem Buch.
Zuerst veröffentlicht im SONNTAG Nr. 9 vom 28. Februar 1988, Seite 4, unter dem Titel
„Ich sehe ein Bild und kann glücklich sein“, nach dem Typoskript