Arthur Eloesser: Ada Negris "Tempeste"
Der zweite Gedichtband einer jungen Italienerin bot dem Jungakademiker Arthur Eloesser die Gelegenheit, in einem Blatt zu debütieren, das damals an jedem Donnerstag neu erschien. Es trug den Titel „Das Magazin für Litteratur“, mit Doppel-t wohlgemerkt. Und kostete als Einzelausgabe 40 Pfennig. Vorn war zu lesen: 1832 begründet von Joseph Lehmann. Lehmann (28. Februar 1801 – 19. Februar 1873) hatte noch bei Hegel Vorlesungen gehört und in Berlin Heine getroffen. Die Redaktion fand sich in der Carmerstraße in Charlottenburg, die diesen Namen erst seit dem 30. Mai 1892 trug und die es heute immer noch unter diesem Namen gibt. Sie verbindet den Savignyplatz mit dem Steinplatz. Verantwortlicher Redakteur war seit 1890 Otto Neumann-Hofer (4. Februar 1857 – 14. April 1941), seit 1891 zugleich Herausgeber. Von 1897 bis 1905 war er Direktor des Lessingtheaters. Arthur Eloesser besprach in der Ausgabe Nummer 24 vom 13. Juni 1896 den Gedichtband „Tempeste“ von Ada Negri. Der Kritiker war nur wenige Wochen jünger als die am 3. Februar 1870 geborene Negri, der heutige 20. März ist sein 155. Geburtstag. Negri starb am 11. Januar 1945 in Mailand, wo sie nach dem Erfolg ihres ersten Gedichtbands „Fatalità“ (1892) eine Stelle als Lehrerin an der Scuola Normale Gaetana Agnesi gefunden hatte, nachdem sie zuerst in der Nähe von Pavia in einer Volksschule 80 Kinder in einer einzigen Klasse zu unterrichten hatte.
Schon 1894 erschien eine deutschsprachige Ausgabe der „Fatalità“, übertragen von Hedwig Jahn, 127 Seiten stark. Sechs Jahre später war das Buch bereits bei der fünften Auflage angelangt und die Übersetzerin schrieb dazu: „Man weiß, welchen Eindruck dieses kleine Buch in Italien machte und wie Ada Negri dadurch mit einem Schlag in die Reihe der ersten lebenden Dichter ihres Vaterlandes trat.“ Nachzulesen im Wikipedia-Beitrag, am 12. Februar 2025 zuletzt aktualisiert. Weiter steht dort: „Eine Wendung ihres Geschickes bereitete sich vor. Auf Veranlassung einer edlen, für alles Hohe begeisterten Frau, Emilia Peruzzi in Florenz, bekam Ada Negri den Ehrensold, den vor ihr die neapolitanische Dichterin Giannina Milli erhalten hatte, d. h. auf zehn Jahre die Summe von 1700 Lire jährlich.“ Wer sich der Zeiten noch erinnert, als man für eine einzige D-Mark 1000 Lire im Umtausch erhielt, kann sich vorstellen, welch unfassbare Abwertung die Lira innerhalb von nur 100 Jahren erfuhr. An biografischen Details standen Arthur Eloesser offenbar nicht viele zur Verfügung. Den Ehrensold nennt er ohne Angabe der Höhe. Darüber hinaus steht bei ihm nur: „Ihre Mutter arbeitete am Webstuhl, ihr Vater ist im Hospital gestorben. Sie ist das Kind einer aufsteigenden, zukunftsgläubigen Klasse, die an die befreiende Macht der Wissenschaft glaubt“. Dafür lobt er die Übersetzung von Hedwig Jahn ausdrücklich, das war damals und ist heute nicht selbstverständlich.
Es ist aber weniger auffallend, wenn man weiß, dass Eloessers Doktorarbeit Übersetzungen galt, genauer: den frühesten deutschen Moliére-Übertragungen. Von Hedwig Jahn (28. Januar 1845 – 23. Mai 1919) wissen wir, ich berufe mich dabei auf die informative Arbeit „Hedwig Jahn (1845 - 1919) – Übersetzerin in stürmischer Zeit“ von Hermann Behrens, dass sie mindestens vier Sprachen fließend beherrschte. Sie wohnte in Schöneberg, nicht in Wilmersdorf, wie Behrens schrieb, zunächst in der Neuen Winterfeldtstraße, später, vermutlich ab 1906, in der Fasanenstraße, wo sie schließlich auch starb. Neben den beiden ersten Gedichtbänden von Ada Negri, die jeweils mehrere Auflagen erlebten und 1908 noch einmal zusammen in einem Buch erschienen, übertrug sie die „Steine von Venedig“ von John Ruskin, die drei Bände sind heute eine teure Rarität auf dem Markt, sie übertrug Rousseau, Elisabeth Gaskell und auch Charles Dickens. Hermann Behrens widmete auch Ada Negri ein paar Zeilen: „ Ada Negri entstammte ärmlichen Verhältnissen, der Vater war Hilfsarbeiter, die Mutter Textilarbeiterin. Ada konnte trotzdem studieren und Volksschullehrerin werden. In ihren Gedichten, die später von italienischen Komponisten hundertfach vertont wurden, setzte sie sich mit den bedrückenden Lebensverhältnissen der Armen und Benachteiligten auseinander.“ Das ist immer noch mehr, als man in neueren Literaturgeschichten Italiens findet.
So ist sie bei Manfred Hardt 1996 lediglich als Autorin eines Vorworts erwähnt. Kindler Kompakt kennt Negri gar nicht, allerdings auch Maria Messina nicht, für die sie das Vorwort schrieb. Nur wenige Zeilen opfert Giuseppe Petronio in seiner dreibändigen Geschichte der italienischen Literatur: „Gegen Ende des Jahrhunderts erlangte Ada Negri (1870 – 1945) aus Lodi große Berühmtheit. Sie stammte aus bescheidenen Verhältnissen und unterrichtete in einer Grundschule. Bekannt wurde sie mit den Gedichtsammlungen Fatalità (Verhängnis, 1892) und Tempeste (Stürme, 1895), in denen sie sozialistische Ideen zur Sprache bringt.“ Das ist schon alles. Giovanni Carsaniga kennt in seiner bei Kohlhammer in Stuttgart erschienenen Geschichte Negri gar nicht und als 1988 Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse war, verzichtete der von Viktoria von Schirach herausgegebene „Almanach zur italienischen Literatur der Gegenwart“ (Hanser) ebenfalls auf Ada Negri. Da nimmt es nicht Wunder, dass die durchaus informative Wikipedia-Seite zu ihr den Beitrag von Arthur Eloesser nicht kennt, dafür aber die Kritik, die Herman Grimm zu Negris erstem Gedichtband „Fatalità“ veröffentlichte. Sie nennt allerdings nicht die Originalquelle, sondern nur den Grimm-Sammelband „Fragmente, Band 1“, 1900 bei W. Spemann, Berlin und Stuttgart erschienen, 624 Seiten stark. Ob Arthur Eloesser Grimms Arbeit kannte, ist nicht ersichtlich.
Fast lyrisch begann Eloesser seine Besprechung: „Als Ada Negri wie eine Lerche aufstieg, um alles, was männliche und weibliche Spatzen, Zeisige, Nachtigallen in den letzten Jahren gezwitschert und geflötet haben, hellschmetternd zu übertönen, da gab es einen Knalleffekt in der europäischen Literatur, einen zujauchzenden Beifall, in dem sich Alte und Junge, Zielbewusste und Feinsinnige mit seltener Übereinstimmung vereinigten.“ Zur Übersetzung von Hedwig Jahn, deren Namen er allerdings gar nicht nennt, äußerte er sich so: „Dem deutschen Publikum erschien Ada Negri in einer sehr gewandten, sogar schwungvollen Übersetzung, die jedoch zuweilen allzu gewandt und allzu schwungvoll die herbe Kraft der Italienerin in weichen Wohllaut auflöste und ihre wild stürzende Leidenschaft in die Bäche sanfterer Empfindung leitete.“ Und gestand ihr dennoch alle Wirkung zu: „Jedenfalls war die Übersetzung eine tüchtige Leistung, die zu dem Erfolge von Fatalità in Deutschland das Beste beigetragen hat. Aber der Beifall konnte einem bang machen; denn er entsprang viel mehr einem sentimentalen Anteil an der in romantischer Beleuchtung erscheinenden jungen Dichterin als einer rein ästhetischen Würdigung ihrer hohen und einfachen Kunst, die sich gleich beim ersten Schritte mit einer merkwürdigen Reife und Sicherheit offenbarte.“ Für den zweiten Band „Tempeste“ erkannte Eloesser daraus eine Nebenwirkung.
„Der sensationelle Erfolg eines Erstlingswerkes birgt immer eine Gefahr für die Aufnahme der späteren Schöpfungen“. Daran hat sich, möchte ich argwöhnen, bis heute wenig geändert, denn es sind die Kritiker selbst, die sich zu große Euphorie schwer verzeihen können im Rückblick. Der Kritiker hat eine Erklärung: „Die Aufnahme war bisher lau, zögernd, und in die ursprüngliche Bewunderung, die man ja so schnell nicht verleugnen konnte, mischten sich bedenkliche Zweifel und vor allem ein großer, schwerer Vorwurf. Ada Negri war noch immer Sozialistin.“ Heute wundern sich Journalisten, wenn im so genannten Osten trotz Großinvestitionen die Wähler ihre Stimme der AfD geben, damals wunderten sich andere, dass Negri alten Überzeugungen treu blieb trotz Ehrensold. Eloesser ging so weit sogar, ihr zwischen dem ersten und dem zweiten Band eine Entwicklung vom Gefühlssozialismus zum wissenschaftlichen Sozialismus zuzugestehen. Wobei alles, was er dann im Detail an fast euphorischen Beschreibungen der Gedichte vorbringt, mit wissenschaftlichem, sprich marxistischem Sozialismus eher weniger zu tun hat. Auffällig für mich dabei, dass er die wenigen Zitate nicht in der deutschen Fassung vorträgt, sondern im italienischen Original. „Ihre Dichtung ist reifer, gefasster geworden, ihre Technik leichter und sicherer, die Wirkungen sind weniger stürmisch, aber sie gehen tiefer.“ Eloesser nennt das einen Fortschritt.
„Wenn die Dichterin auch keine völlig neuen Seiten offenbart, wenn sie auch in Liebe und Hass wieder als dieselbe erscheint, so tritt sie doch innerhalb dieses Rahmens mit größerer, mit souveräner Meisterschaft auf.“ Und: „Im Kampfe empfindet sie die höchste Wollust des Lebens; darum ist ihr Dichten auch im höchsten Grade dramatisch.“ Dagegen aber: „Doch Ada Negri hat niemals einen rhythmischen Leitartikel mit politischen Spitzen geschrieben, jede Zeile ist der unmittelbare, echt poetische Ausdruck der leidenschaftlichsten Anteilnahme ihres Herzens. Der Sozialismus ist ihr kein Parteiprogramm, sondern die naturgemäße Lebensauffassung.“ Dann ein Bezug, der nur ganz verständlich wird, wenn man den nächsten Beitrag Eloessers für „Das Magazin für Litteratur“ schon kennen würde, was 1896 gar nicht möglich war. „Ada Negri hat dem Leben eines hohes Lied gesungen zu einer Zeit, da die Poesie, die schwere moralische Krisis der Bourgeoisie widerspiegelnd, sich in die mystische symbolische Nebelwelt geflüchtet hat.“ Es wird sich nicht nachweisen lassen, dass Eloesser da bereits an seiner dreiteiligen Artikelfolge „Die jüngste litterarische Entwicklung in Frankreich“ arbeitete, aber der Satz über Negri klingt passend zu den Eingangs-Sätzen über französischen „Neu-Hellenismus“, zu lesen aber eben erst am 8. August 1896. Nach jetzigem Kenntnisstand schrieb Arthur Eloesser später nicht mehr über Negri.
In den insgesamt elf Beiträgen für „Das Magazin für Litteratur“, die in den beiden Jahren 1896 und 1897 erschienen, fünf 1896, sechs 1897, kam der Kritiker einmal noch auf einen Vertreter der italienischen Literatur. Am 28. November 1896 erschien „Von der Rose zur Lilie“, Gabriele d'Annunzio betreffend. Auch „Soziale Kräfte in der deutschen Literatur“ (28. Januar 1897 in der Nummer 4 des 66. Jahrgangs) gelten einem Buch, das nicht in Deutschland erschien. Sein Verfasser war der Deutsch-Amerikaner Kuno Francke (27. September 1855 – 25. Juni 1930), sein Hauptwerk „Social Forces in German Literature“ erschien 1896 in New York, der Berliner Eloesser war also auffallend aktuell mit seiner Kritik. Acht der elf genannten Arbeiten galten jedoch Frankreich und seiner Literatur, eine davon war dem 200. Geburtstag des berühmten Abbé Prévost am 1. April 1897 gewidmet. Seinen Debüt-Aufsatz zu Ada Negri schloss er, in dem er an seinen poetischen Einstieg anknüpfte: „Der Sturm ist ihr Element, weil er das Toben in ihrem Innern übertönt und wenn die Vögel niederen Fluges angstvoll ihr Nest suchen, schmettert die Lerche auch im Sturme ihr Lied.“ Rainer Maria Rilke, dessen 150. Geburtstag Ende des Jahres zu begehen sein wird, hat dreimal Ada Negri übersetzt: Storia breve; Te solo; Bacio morto. Doch hat der von Ernst Zinn und Karin Wais edierte Band seiner „Übertragungen“ (Insel Verlag) nicht eine einzige Probe davon aufgenommen.