Stephan Hermlin: Drei Erzählungen

Man könnte boshaft beginnen: Viel mehr hat er nicht geschrieben.  Das aber wäre mehr als ungerecht. Auch wenn nicht geleugnet werden kann, dass kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller seines Ruhms mit weniger Text mehr Bücher publiziert hat als er: Stephan Hermlin. Er ist, soweit ich sehe, auch deshalb der einzige, dem das Glück widerfuhr, aus drei alten Bänden der legendären Insel-Bücherei, bis heute Sammelgegenstand vieler Bücherfreunde, einen neuen vierten zugeteilt bekommen zu haben, in dem nicht eine einzige neue Zeile stand. Aus „Die Zeit der Einsamkeit“ (Band 118), „Reise eines Malers in Paris“ (Band 464) und „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“ (Band 585) wurde umstandslos „Drei Erzählungen“ (Band 1094). Freilich ordnet sich diese Ausgabe in jenes traurig-tragische Bücherjahr 1990 ein, in dem die letzten Mühen aller DDR-Verlage schon keine Aufmerksamkeit mehr fanden, in dem selbst löblichste Neu- und Erstausgaben für den verschwindenden DDR-Markt missachtet wurden.

Heute scheint es unumgänglich, auf Stephan Hermlin eher als Autor seiner eigenen Lebenslügen denn als Autor seiner Gedichte, Erzählungen, Essays und Erinnerungen zu blicken. Er, der zu der eher kleinen Autorengruppe gehört, die zu Ruhm, Ehre, Achtung und Exponiertheit gelangten, obwohl sie nie einen Roman veröffentlichten, nie auch nur ein einziges Buch von spektakulärer oder gar skandalöser Wirkung, wenn man mit entsprechenden Einschränkungen von „Abendlicht“ absieht, er ist im fortgeschrittenen Alter ein Opfer seiner selbst geworden. Vergessen fast seine Initiative zur berühmten Biermann-Petition im November 1976, vergessen seine in allen Protokollen zensierte Rede auf dem Schriftstellerkongress 1978, als er sich selbst einen spätbürgerlichen Schriftsteller nannte und dafür Ohrfeigen angeboten bekam von Ruth Werner, der Schwester Jürgen Kuczynskis. Vergessen seine wunderbaren Übertragungen aus mehreren Sprachen, vor allem aus dem Französischen, seine mutigen und hartnäckigen Statements für Autoren der Moderne, die in der einen oder anderen Hinsicht, meist in jeder, dem jeweilen Kanon des Tolerierbaren in der DDR nicht entsprachen, ich habe sein Buch „Lektüre“ seinerzeit genossen und benutzt.

Wer sich irgendwann die Mühe machte, Karl Corinos Buch „Außen Marmor, innen Gips. Die Legendes des Stephan Hermlin“ zu lesen, 1996 im Düsseldorfer Econ-Verlag erschienen, der konnte in der Tat  an diesen Enthüllungen mindestens vorübergehend irre werden. Sich freilich auch sehr bald die Frage stellen: Warum hatte das dieser Mann Hermlin nötig? Corino hat es Kritikern immerhin erleichtert, sich von seinem Buch zu distanzieren, in dem er an einigen Stellen mit sehr heißer Nadel nähte, ich hatte seinerzeit einen kurzen, aber aussagekräftigen Briefwechsel mit ihm (den ich hier nicht zitieren möchte), in dem er immerhin einräumte, das Buch unter extremem Zeitdruck vollendet zu haben wegen der anstehenden Buchmesse. Als in der heißen Debatte um Hermlin Lutz Rathenow das Wort ergriff (ein staunenswert ausgewogener Text übrigens), verwies er unter anderem auf die ihm imponierende Tatsache, dass sich der Autor Hermlin nie jenem Laufrad von Buchmesse zu Buchmesse unterordnete und immer neue Texte auf den Markt warf, seien sie auch noch so unausgegoren oder vollkommen überflüssig. Wohl wahr und wohl gut.

Heute aber, der hundertste Geburtstag Hermlins ist Anlass genug, soll es ausschließlich um diese drei Erzählungen gehen. Ein Wiederlektüre-Eindruck zuerst: Manches wirkt doch arg manieriert. Das angestrengte Kunst-Wollen ist im Ergebnis nicht durchweg aufgegangen, es bleibt merklich wie die berühmte Absicht eben, die erkennbar ist und deshalb verstimmt. Aber und dieses Aber ist von größter Wichtigkeit, man sieht heute wie auf dem Präsentierteller, wie extrem untypisch Hermlin erzählte, verglichen mit den Üblichkeiten der fünfziger Jahre in der gewollt sozialistischen, in der gar sozialistisch-realistisch gemeinten Literatur. Hermlin assimilierte von Anfang an Moderne in seine Lebens- und Literaturwelt, sein Exil in Frankreich und in der Schweiz hat ihn wahrscheinlich entweder immun gemacht gegen die Niederungen der stalinistischen Sowjetliteratur, vielleicht hat er sie nicht einmal überhaupt zur Kenntnis genommen, spätere Bekenntnisse belegen da nichts. In Frankreich gab es kommunistische Autoren oder KP-nahe, die trotzdem Plattheiten vermieden, die Traditionen nicht nach soziologischen, sondern nach ästhetischen Kriterien aufnahmen oder verwarfen. Stephan Hermlin hat sich diesen Einflüssen ausgesetzt, was immer er sonst in seinen Exiljahren tat oder nicht tat, zu Heldentaten ist niemand verpflichtet in extremen Lebenslagen, freilich auch nicht zu späteren Lügen darüber.

Also zuerst „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“. Hermlin selbst hat darauf aufmerksam gemacht, dass er die Anregung von Ambrose Bierce empfing, jenem überragenden US-Erzähler (1842 bis 1914), der in der DDR erst später mit Auswahlen immerhin vorgestellt wurde: „Bittere Stories“ 1965 und „Zwischenfall auf der Eulenflußbrücke“ bei Reclam 1974. Gerade „Zwischenfall auf der Eulenflussbrücke“ lieferte bis in Details den Vorwurf für die Erzählung vom Sterben eines Verschwörers des 20. Juli 1944. In der Akademie-Zeitschrift „Sinn und Form“ stellte Hermlin 1969 den Amerikaner vor, die kleine Arbeit stand später auch in der Sammlung „Lektüre“ des Aufbau-Verlages (1973). Eine Nachbemerkung Hermlins versichert: „Der Erzählung liegen keine historischen Tatsachen zugrunde.“ Und: „Der Verfasser erzählt einen Traum, den letzten Lebensaugenblick eines Sterbenden. Er erzählt nicht von deutscher Geschichte, sondern von einer deutschen Möglichkeit.“ Das aber eindrucksvoll. Während nämlich Yorck von Wartenburg in qualvollster Weise wie seine sieben Mitstreiter von einem Würgeeisen zu Tode gebracht wird, hat er eine Vision von Flucht und Befreiung, die bis hin zur vermeintlichen Nachricht eines Anti-Hitler-Aufstandes im Deutschen Reich führt.

Dass Hermlin den 20. Juli 1944 nicht einfach kritisch sah, sondern auch historisch einordnete, belegt das knappe Nachwort vom Juli 1953. „Der Generalsputsch vom 20. Juli 1944, der so elend endete, wie er unzulänglich geplant war, stellte den Versuch dar, den deutschen Imperialismus von Hitler zu trennen, ihn aus dem unausbleiblichen Zusammenbruch zu retten...“. Hermlin führt seine sterbende Hauptfigur weiter und lässt in deren Vision auch einen namentlich nicht genannten Freiherrn über die Positionen der Aufständischen hinausgelangen. Dass die Forschung seither die Differenziertheit der Verschwörer ausführlich erörtert hat mit Ergebnissen, die Hermlin 1945, als er den Text schrieb, natürlich noch nicht kennen konnte, spricht nicht gegen die Erzählung. Allzu vordergründiger Realismus ist allein dadurch schon vermieden, dass der Autor die Todesart Garotte wählt, die wohl in Spanien üblich war, in Deutschland aber nicht, Verschwörer wurden bisweilen, das ist überliefert, in Drahtschlingen und nicht an Seilen erhängt. Aber auch das sagt über die Qualität der Erzählung nichts aus. Der Leutnant, das soll festgehalten werden, gleicht in mancher Hinsicht sehr auffällig anderen Hauptfiguren der frühen Erzählungen, obwohl die ganz andere Biographien zu haben scheinen.

„Reise eines Malers in Paris“ hat manchen Entscheidern in der DDR offenbar so wenig gefallen, dass sie den Titel im ersten und einzigen Lexikon „Schriftsteller der DDR“ von 1974 im Hermlin-Artikel nicht einmal im Kleingedruckten erwähnten. Obwohl die Erzählung selbst mehrfach nachgedruckt wurde. Sie ist allerdings auch geradezu unfassbar weit weg von allen seinerzeitigen Erzählüblichkeiten im real existierenden Sozialismus. Sie nutzt mit einer Selbstverständlichkeit surrealistische Verfahren, dass man noch heute staunen kann. Wer sich der Beflissenheit noch erinnert, mit der das „Wunderbare“ plötzlich salonfähig geschrieben und geredet wurde, als Anna Seghers, nicht zufällig auch eine West-Emigrantin, die lange in Frankreich war, ihren rasch berühmten Erzählband „Sonderbare Begegnungen“ vorlegte, der sollte wenigstens bedenken oder wissen, dass Hermlin schon knapp dreißig Jahre vorher seine sonderbaren Begegnungen des Malers Hans Reichmann zu Papier brachte, der sogar ein reales Vorbild hat, was aber ähnlich wie schon bei Yorck nicht wirklich von Belang ist.

Die Erzählung um Hans Reichmann hebt an im Sommer vor Kriegsbeginn und zwar in Paris. Der Maler ist ein Säufer, der ohne Wein nicht malen kann. Er findet halluzinatorisch in seinem Atelier ihm unbekannte Menschenmassen vor, er steigt in einen Metroschacht in Paris und entsteigt ihm wieder in Barcelona. Er gerät in eine Razzia nach Juden, was im Sommer 1939 natürlich gar nicht geschehen sein kann, zumal ihn der Schacht nicht nur nach Barcelona, sondern auch in den spanischen Bürgerkrieg führte. Er wird aus dem Internierungslager nicht auf Transport geschickt und dann sogar entlassen. Später landet er in China und findet einen verständnisvollen Förderer in Tschou-en-Lai. Alles an Zeit- und Ortsinterferenzen ist in bürgerlicher Moderne längst erprobt, als Hermlin es für sein Erzählen zu nutzen trachtete, ohne alle Hilfestellung dürften die frühen DDR-Leser jedoch halbwegs überfordert gewesen sein. Die Tätigkeit des Malers bei seinem Helden erlaubt Hermlin eine spezielle Farbmetaphorik, die schon im Yorck-Text auffiel, wobei bestimmte Farben und Farbkombinationen mit bestimmten Gefühlswerten beladen erscheinen. Lektüre führt zwanglos zu diesen Passagen, die hier nicht einzeln angeführt werden sollen.

„Die Zeit der Einsamkeit“ ist auch in Frankreich angesiedelt, wieder ein Emigrant, sein Name Neubert, das soll auch der Deckname Hermlins in der Resistance gewesen sein, erfuhr man 1990 und wird es heute vielleicht nach Corino auch anders sehen dürfen. Hier scheint mir dennoch eher Emigrationswahrheit erzählt, weil auch resignative Stimmungen nicht ausgeklammert sind, wenngleich es fast folgerichtig und DDR-konform den erfahrenen Kommunisten gibt, der zufällig Ernst heißt und den Zaudernden und Verzagenden wieder aufrichtet. Der gerät in Haft, wird gefoltert, aber nicht nach Waffen oder Gerät durchsucht, so dass er sich wie im Film unbemerkt an den Gitterstäben seiner Zelle zu schaffen machen kann. Es gelingt ihm die Flucht, er nimmt noch einen Zellengefährten mit. Er hat einen Präfekturbeamten ermordet, der seine Frau Magda vergewaltigte, die wiederum nach vergeblichen Abtreibungsversuchen stirbt. Das Verhältnis der Hermlin-Helden zu ihren Frauen wäre ein Spezialthema, für das hier der Platz fehlt.

Alle drei Erzählungen enthalten diverse Sätze, die Befindlichkeiten in einer fast exaltierten Bildhaftigkeit beschreiben, die weither geholte Vergleiche benutzen und irritierende Bilder. In der englischen Lyrikgeschichte werden solche Bildhaftigkeiten, erinnere ich mich gelesen zu haben, Concetti genannt, auch hier könnten also Lektürefrüchte zum Tragen gekommen sein, Hermlin rühmte sich einst, seit seinem elften oder zwölften Lebensjahr nach einem langfristigen Leseplan gelesen zu haben, was mich als Leser neidisch und ungläubig zugleich machte, als ich es zuerst zur Kenntnis nahm. In den drei Erzählungen wird eine bestimmte Leidensphilosophie vorgetragen, die, weil sie nicht nur einer Figur zugeordnet ist, mit einigem Recht einer Autorensicht zugeordnet werden könnte. Und immer wieder die Einsicht: Vermutlich war es einer der wahrsten Sätze Hermlins über sich selbst, die er je öffentlich machte, als er sich einen spätbürgerlichen Schriftsteller nannte. Seine Figuren in diesen drei Erzählungen assoziieren Hamlet und die Serapionsbrüder von E. T. A. Hoffmann, die Leonorenouvertüre und „Malte Laurids Brigge“ (ohne dessen Verfasser Rilke zu nennen).

Wie eine seltsame Ausgleichsmaßnahme wirken dagegen jene Passagen, die Erfahrungsträger des Kampfes oder ausdrücklich Kommunisten beschreiben, Louis beispielsweise genießt das Wohlwollen des Partisanenkommandeurs Charlot: „... konnte Louis der Freundschaft dieses Mannes sicher sein; der väterlichen, achtungsvollen, ein wenig brummigen Freundschaft, die der klassenbewußte Arbeiter dem Intellektuellen entgegenbrachte, von dessen Wert er sich überzeugt hatte.“ Sollte Stephan Hermlin, der sich eine großbürgerlich-kultivierte Herkunft quasi andichtete, wie Karl Corino glaubhaft machen konnte, tatsächlich solche servilen Gedankengänge gehegt haben? Muss ein Intellektueller tatsächlich stolz sein, wenn ein klassenbewusster Arbeiter ihn einer brummigen Freundschaft für würdig hält, nach vorheriger Prüfung selbstverständlich? Hermlin selbst hatte ja auch hohe Freundschaften in der DDR, Beziehungen könnte man sie nennen. Wer war da väterlich, wer achtungsvoll, wer brummig? „Drei Erzählungen“ wecken allerlei neue Neugier.


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