Rudolf Arnheim: Eloessers zweiter Band

Das Jahr 1931 neigte sich. Was näher kam, ahnten manche, wann genau es kommen würde, wohl niemand: nur 14 Monate noch, bis geschah, was gern Machtergreifung genannt wird. Am 1. Dezember 1931 aber, rückblickend lässt sich die laxe Formulierung durchaus tolerieren, war die Welt noch in Ordnung. Literatur blühte, Theater blühte, die Presselandschaft Berlins, als Beispiel, die blühte nicht einfach nur, sie wucherte. Es gab gute, es gab sehr gute Blätter. Fast alle hatten sie Hausautoren, um derentwillen Leser nach ihnen griffen. Man zahlte sogar, flüstert es aus der Geschichte, bisweilen traumhafte Honorare, an Joseph Roth zum Beispiel. Am 1. Dezember 1931 druckte die von Siegfried Jacobsohn ein reichliches Vierteljahrhundert früher als „Schaubühne“ begründete „Weltbühne“ auf ihren Seiten 834 bis 836 eine kleine Arbeit von Rudolf Arnheim mit dem Titel „Eloessers zweiter Band“. Gemeint war natürlich nicht das zweite Buch von Arthur Eloesser, das lag schon einige Jahre zurück, gemeint war der zweite Band seines Opus Magnum, „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“, sorgfältig und schön, nicht zuletzt augenfreundlich gedruckt in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig für den Berliner Verlag Bruno Cassirer. Mit 640 Seiten nur unwesentlich schlanker als Band 1 mit seinen 670 Seiten.

Da waren sie also: 1300 Seiten Literaturgeschichte seit dem Barock, geschrieben von einem Mann, der nicht etwa nach Jahren am Katheder des ordentlichen Professors, nach zahlreichen mit noch zahlreicheren Fußnoten gespickten Fachartikeln in Fachzeitschriften, die außer Fachkollegen nie jemand las, nun die Summa geben zu müssen glaubte, von Lesern dazu gedrängt, wie einschlägige Vorworte gern behaupteten. Nein, Arthur Eloesser, der promovierte Germanist, der nach der zur Habilitation vorgesehenen Schrift „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“ (Verlag Wilhelm Hertz Berlin 1898) natürlich gern Professor geworden wäre, legte beide Bände nach einer langen journalistischen Laufbahn vor. „Vierzig Jahre Tagesschriftstellerei haben seine Hand so leicht gemacht, dass er einen Wälzer von Lexikonformat bis an den Rand anfüllen kann mit zierlichen, kräftigen, weltklugen, ironischen Sätzen und mit einem Humor, der nur ein anderes Wort ist für Weisheit.“ So sieht es Rudolf Arnheim, der 34 Jahre jüngere, der all die Jahre seit 1922 auch ein Kollege von Eloesser gewesen war, Kollege an der „Weltbühne“. Hat Eloesser jedoch zwischen 1922 und 1930 73 Beiträge veröffentlicht, sind es bei Rudolf Arnheim zwischen 1925 und 1933 nicht weniger als 177. Er war also nicht irgendeiner in der „Weltbühne“. 

Zum Vergleich: Arnold Zweig ist bis 1933 mit 48 Artikeln präsent, Harry Kahn mit 102, und der unangefochtene Schreibmeister Tucholsky unter all seinen Pseudonymen mit 1552, gefolgt vom Gründer Siegfried Jacobsohn mit 763, auf dem dritten Platz Alfred Polgar mit 451 Beiträgen. Arnheim (15. Juli 1904 – 9. Juni 2007), der fünf Wochen vor seinem 103. Geburtstag in Ann Arbor, Michigan, in einem Altersheim starb, schrieb, um nur einige Namen zu nennen, im Lauf der Jahre über Oskar Kokoschka, Alfred Polgar, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Alfred Döblin, Franz Kafka, John Dos Passos. Er schrieb mehrmals über die Tänzerin Gret Palucca und er schrieb über Eduard Manet, dem sich auch Arthur Eloesser gewidmet hatte in seinem allerersten Essay für die von Oscar Bie geleitete „Neue Rundschau“. Eloesser wiederum schrieb in der „Weltbühne“ auch über Oscar Bie (9. Februar 1864 – 21. April 1938). Somit starb Bie nur zwei Monate nach Eloesser, und wie dieser in Berlin. Zu Bies 60. Geburtstag verriet Eloesser: „Aber der Jubilar, den Gott erhalte, hat mir, da ich mich als Kritiker schüchtern niederließ, einen Rat gegeben, den einzigen guten Rat, für den ich mich im Leben zu bedanken habe: Vor allem, nie vollständig sein!“ In seiner Literaturgeschichte hat er diesen Rat mustergültig befolgt, meinte auf alle Fälle Rudolf Arnheim. 

Auf eine Formulierung Fontanes zurückgreifend, schreibt er: „Diese Salzkörner der Erfahrung sind es, diese erstaunlichen Kenntnisse über die Menschenseele, die Eloesser befähigen, auch den seltsamsten Gesellen gerecht zu werden, und seine schriftstellerischen Fähigkeiten erlauben ihm, das – wenn nötig – in ein paar Zeilen zu tun. Statt vollständig zu sein, erpickt er im Fluge das charakteristische Körnchen, beleuchtet durch eine knappe Briefstelle, eine Äußerung von Zeitgenossen, eine biographische Episode die ganze Figur.“ Das ist für seine Arbeiten in der „Weltbühne“ ebenso kennzeichnend, die immer wieder verblüffen durch offenbar völlig mühelos verfügbares Wissen an Stellen, an denen so genannte Spezialisten in Ratlosigkeit rudern würden. Eloesser hat buchstäblich getanzt auf den Hochzeiten, die er in Jahren sah und erlebte. Auch das erkannte Arnheim beobachtungssicher: „Dem Fachgelehrten vom Hamstertyp ist das Historische Selbstzweck. Bei Eloesser steckt in jedem „So war dieser Mensch!“ das „So sind die Menschen!“ … Wenn unter Weisheit zu verstehen ist, dass jemand die ungeschriebenen Naturgesetze des Lebens kennt, so hat Eloesser ein weises Buch geschrieben. Er kennt die Zusammenhänge, er weiß, was Ärzte, Schlesier, Trilogien generaliter für Eigenschaften zu haben pflegen.“ Was für eine Reihung! 

Dass übrigens auch die „Weltbühne“ mehr als nur gelegentlich mit Anzeigen aufwartete, zeigen, natürlich rein zufällig, die drei Seiten des Heftes, auf denen der Arnheim-Text zu lesen ist. Drei Seiten, drei Anzeigen: die erste wirbt für Bo Yin Ra, der angeblich Tausende durch seine Bücher zu glücklichen Menschen machte. Der Herr mit dem fernöstlichen Pseudonym hieß im bürgerlichen Leben Joseph Anton Schneiderfranken (25. November 1876 – 14. Februar 1943) und stammte aus Aschaffenburg. Die zweite Seite wartet mit Werbung für „Reisen mit Dr. Überall“ auf. Auch hier ein Autoren-Pseudonym: Dr. Überall war Ernst Bulova (24. Juni 1902 – 11. Januar 2001), der Verlag Williams & Co. Berlin-Grunewald datiert das Buch auf 1932. Auf der dritten Seite schließlich Tourismus-Werbung für Wintersport in der Tatra mit Vollpension und unentgeltlichen Skikursen, 20 Tage ab Berlin für 200 Mark, ab Breslau für 165 Mark. Arnheim: „Zumal den jungen Schriftstellern sei dieses Buch empfohlen … als Gegengewicht gegen das immer gefährlicher werdende Geschwätz der Buchkritiker“. Alle Kreter lügen, sagte der Kreter, hieß ein Satz aus meinem Logik-Seminar 1975/76. „Man erwarte von Eloesser, trotz Plauderkunst und Humor, kein leichtes Buch. Er ist nicht aus Wien, wo die Behendigkeit der Hand das Hirn anzustecken pflegt.“ 

Wem immer dieser Seitenhieb galt: Karl Kraus oder Alfred Polgar oder Willi Handl (weitere Namen denkbar), Rudolf Arnheim wusste es. Dass er, wie anlässlich seines 100. Geburtstages der Journalist und Publizist Eckart Spoo (19. Dezember 1936 – 15. Dezember 2016) munter behauptete „Für Ossietzky wie ein Sohn“ war, will ich heftig bezweifeln: man betrachtet normalerweise Menschen, die 14 Jahre jünger sind als man selbst, nie wie einen Sohn, allenfalls wie einen jüngeren Bruder. Aber die journalistische Präzision war offenbar auch sonst nicht die Kernkompetenz des Mitbegründers jener Zeitschrift „Ossietzky“, die das Erscheinungsbild der „Weltbühne“ dreist kopierte, ohne ihre überragende substantielle Qualität je zu erreichen. Spoo verwies auf seinen Onkel Philipp Spoo, der „Mitte der zwanziger Jahre mal für das Blatt geschrieben hat.“ Das ist weder falsch noch präzis: Philipp Spoo hat exakt zwei Artikel für die Weltbühne geschrieben: „Auch ein Stein zum Wiederaufbau“ am 4. August 1921, in dem Spoo gegen eine vierbändige Ausgabe von Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ protestiert und statt dessen „zwei seelenvolle Auswahlbände“ fordert, und „Die Akten des Vogelsangs“ am 21. Februar 1924, die nichts mit Wilhelm Raabe zu tun haben, dafür mit irgendjemandem und noch jemandem. 

Carl von Ossietzky hat, davon können wir sehr sicher ausgehen, Philipp Spoo auf gar keinen Fall wie einen Sohn betrachtet, eher wohl als einen, dessen Fähigkeiten für die „Weltbühne“ dann doch etwas dürftig waren. Wenn alle Beiträge Eckarts Spoos wie der mit heißester Nadel genähte zu Arnheims Jubiläum waren, dann hat man nichts verpasst, wenn man achtlos an ihnen vorüber gegangen ist. Arnheim dagegen: „Je bewegter eine Zeit ist, um so gewalttätiger pflegt sie mit der Geschichte umzugehen. Der Wissenstrieb verkümmert, wo der Selbsterhaltungstrieb herrscht. Und so benutzt man die Vergangenheit als Beweismaterial; sucht sie ab nach Beispiel und Gegenbeispiel, nach Vorbild und Warnung. Diese tendenziöse Methode lässt die historischen Gestalten sehr schnell zu Plakatfiguren gerinnen.“ Weil das so war für ihn, sieht er eben Arthur Eloessers zweiten Band (den ersten natürlich auch) als Kontrast: „Und deshalb ist es gut, dass Arthur Eloesser … uns einmal wieder ganz unbefangen vor die Originale führt.“ „Dabei spielt Eloesser weder den Richter noch den Konstrukteur … Eloesser hält sich ganz an die Erscheinung, und ohne viel Sorge um den Hauptnenner zeichnet er Charakterbilder von erstaunlicher, manchmal verwirrender Lebendigkeit.“ Da hätte ich gern mehr gewusst: was war für Arnheim verwirrend? 

Um die Jugend ging es ihm, wie sein kurzer Text gleich mehrfach klar macht: „Die Jugend, stets eine gelehrige Schülerin ihrer Zeit, bewertet und klassifiziert die Menschen und die Geschehnisse der Vergangenheit, noch ehe sie sie kennenlernt.“ Aber: „Eloesser wird sich die jungen Menschen, die er sich vor allen zu Lesern wünscht, durch seine sachliche Nüchternheit erobern. Er, der Berliner, hat eine sehr feine Nase für falsche Pracht.“ Wer das keineswegs reine Vergnügen hatte, in der DDR zu leben, durfte Rudolf Arnheims Buchkritik zu Arthur Eloesser 1985 lesen als einen jener „kleinen Aufsätze“, die die stellvertretende Chefredakteurin der „Weltbühne“, Ursula Madrasch-Groschopp, für die „Gustav-Kiepenheuer-Bücherei“ (Band 61) unterm Titel „Zwischenrufe“ gesammelt hatte. Ein anderer zusammenhängender Text über Eloesser in dieser Länge ist mir aus den DDR-Jahren nicht bekannt, ich las ihn 1997 zum ersten Male, damals selbst noch in der Sache ohne alle Vorkenntnis. Dabei hätte ich Rudolf Arnheim schon am 10. Januar 1978 im Hörsaal 3075 der Humboldt-Universität gut und gern sogar live erleben können, er sprach über „Ordnung und Unordnung in der Kunst“. Inzwischen darf ich mich ohne viel Hochstapelei einen Eloesser-Kenner nennen und bin über den angenehmen Umweg über ihn neu auf Arnheim gestoßen. Reine Freude!


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