Zum fünfzigsten Todestag Hans Marchwitzas

Erwin Strittmatters Urteil war vernichtend: „Der alte Marchwitza, einmal radikaler Kumpel und Ruhrkämpfer, kam angehumpelt, zufrieden und mitleidig wie eine alte Großmutter: „Gottchen, Gottchen, wenn da einige Genossen in solchen Sitzungen doch nicht immer so querschießen wollten. Das sind doch arme, geplagte, übermüdete Menschen. Man kann sie doch nicht noch mit der Kunst und den Künstlerbauchschmerzen traktieren. Sie haben doch andere, wichtige Arbeiten!“ Ja, ja, Hänschen Marchwitza, und du bist schuld, dass diese Genossen keine Verbindung mehr mit der arbeitenden Bevölkerung haben und du bist schuld, dass der Personenkult weiter blüht. Du bist von einem Schreiber für Kumpels zu einem Schreiber für Bonzen geworden.“ Unter dem Datum des 4. September 1956 steht das in seinem Tagebuch, und es wäre ein eigener Betrachtungsgegenstand, wie sich Strittmatters Sprache später wandelt gegenüber diesen eigenen unerbittlichen Tönen, als er sich auf sein vorübergehendes Abenteuer mit der DDR-Staatssicherheit einließ.

Zu Marchwitza aber führte keine Brücke mehr. Am 20. März 1958 hielt Strittmatter über eine Begegnung mit ihm fest: „Musste meinen Jähzorn niederringen. Konnte ich dem verrückten Alten sagen, was ich über ihn dachte, ohne überheblich und undankbar zu erscheinen?“ Vorangegangen war am Rande der Sitzung des geschäftsführenden Vorstandes des Schriftstellerverbandes eine Belehrung Marchwitzas für Strittmatter anlässlich des ersten Bandes des „Wundertäter“. Wörtlich zitiert: „Der Kampf der Arbeiterklasse waren Blut und Tränen. Du witzelst über alles. Und in Frankreich waren nicht nur lauter Huren, Bürschchen. Du machst dir die Sache zu leicht bei deinem Talent. Alle schmeicheln dir, wenn sie den Roman loben. Ich allein sag dir die Wahrheit.“ Wer Strittmatters Neigung kennt, körperliche Gewalt selbst gegen die eigenen Söhne oder die Frau nicht vollständig kontrollieren zu können, das Tagebuch gibt mehrfach darüber erstaunlich offene Auskunft, der kann sich vorstellen, wie der aufsteigende Jähzorn sich hätte auswirken können.

Brigitte Reimanns Sicht auf Hans Marchwitza war milder, wenngleich in der Sache kaum eine andere Sicht bekundend: „Ach, ich denke mit Heimweh an Petzow und an die Nachmittage, wo der alte Marchwitza kam, der einsam und schon ein bisschen zu kindhaft ist, und uns stundenlang von seiner Kindheit und Jugend erzählte, und der uns gern hatte, weil wir ihm zuhörten. ... Er hat das Ziel seines Lebens erreicht, er lebt schon im Sozialismus; ich glaube, er versteht auch unsere Welt und unsere Schwierigkeiten nicht mehr. Er ist sanft und gut und glaubt so vielen guten Menschen begegnet zu sein: freundliche Schleier über seiner Vergangenheit.“ Ob er senil sei oder weise, fragt sich Brigitte Reimann und als sie vernimmt, Marchwitza wolle einen Roman über Schwarze Pumpe schreiben, von dem er dann zum Glück doch lässt, ist sie sich sicher, „dass er von der Welt – der Republik, der Arbeiterklasse 1961, nicht viel weiß, nicht genug weiß, dass er sie vielleicht gar nicht mehr begreift.“ Das ist die letzte Tagebuch-Eintragung für das Jahr 1961.

Immerhin, nach Hans Marchwitzas Tod am 17. Januar 1965, heute vor fünfzig Jahren also, hat Brigitte Reimann ein schlechtes Gewissen und das auch ihrem Tagebuch anvertraut. Sie war nicht zur Beerdigung, Beisetzungen im Januar fallen ihr ein, die sie schon erlebte und sie erinnert sich abermals der Gespräche im Schriftstellerheim Petzow, an seine „biederen Neckereien“. Das Fazit: „Er war ein guter Mensch.“ Spätestens hier ist Zeit für ein Bekenntnis von Ratlosigkeit. Die Suche nach wirklich nur freundlichen Sätzen über den einstigen Bergmann Marchwitza, der aus Oberschlesien an die Ruhr geriet, der seine Emigrationsstationen in der Schweiz, in Frankreich und in den USA hatte, gestaltet sich schwierig. Im Zweifel weicht der Autor auf die Darstellung sachlicher Fakten aus dem Leben aus, selbst in ausgesprochenen Lobreden wie der Laudatio von Günter Caspar zum sechzigsten Geburtstag Marchwitzas am 25. Juni 1950, separat gedruckt als Heft 2 der Schriftenreihe der deutschen Akademie der Künste (mein Exemplar entstammt dem ausgesonderten Bestand des einstigen Instituts für Lehrerbildung Neukloster), ist jede Aussage zur Qualität der Werke fast peinlich vermieden. Schämte man sich so früh schon für Hans Marchwitza? Und warum genau?

Zur Trauerfeier, die Brigitte Reimann nicht besuchte, hielt Alexander Abusch die Ansprache. Auch er, der einst den Arbeiterkorrespondenten Marchwitza förderte, als der seine ersten Erzählungen in der Redaktion des „Ruhr-Echo“ ablieferte, vermeidet alle literarisch wertenden Aussagen über den Verstorbenen. „Was Deinen Gedichten, die du in jenen Tagen schriebst, noch an Kunstfertigkeit fehlte, wurde mehr als abgegolten durch echtes Gefühl, das dich auch künstlerisch reifen ließ, um immer stärker die selbst durchlittene kapitalistische Entmenschlichung des Menschen hinauszuschreien.“ Doch selbst Uwe Berger und Günther Deicke brachten es nicht übers Herz, auch nur ein einziges Gedicht Marchwitzas in ihre repräsentative Anthologie „Deutsches Gedichtbuch. Lyrik aus acht Jahrhunderten“ aufzunehmen und die beiden waren an Staatsnähe zur DDR nun wirklich kaum zu übertreffen. Im Rahmen der von 1976 bis 1982 edierten Ausgabe „Werke in Einzelbänden“ des Tribüne-Verlags ist der Band mit Gedichten und Briefen nicht mehr erschienen. Es gab freilich 1965 eine Auswahl und später sogar das „Poesiealbum 93“. Den zweiten Roman Marchwitzas, „Kampf um Kohle“, erwähnt Abusch bezeichnenderweise nur, denn jeder Satz mehr hätte ihn ja in die Verlegenheit gebracht, auch die sehr frühe Kritik, die etwa Andor Gabor an ihm übte, einbeziehen zu müssen. Gabor aber war später im sowjetischen Exil eine Autorität.

Hätte Brigitte Reimann Abusch reden hören von der ewigen Jugend Marchwitzas, wäre es ihr wohl schwer gefallen, den nötigen Ernst für eine Trauerfeier aufzubringen. Dass dort keine Gelegenheit sein kann, eine auch nur ansatzweise gerechte und unvoreingenommene Würdigung von Leben und Werk vorzutragen, versteht sich in gewisser Weise von selbst, später gab es keinen Ehrgeiz mehr, es nachzuholen. Und auch heute bleibt kaum viel Ursache, ein so oder so einseitiges Bild zu revidieren. Sicher ist, dass Schriftsteller, die echte Arbeiter waren wie Marchwitza, die also jahrelang auch schwerste körperliche Arbeiten verrichteten, ehe sie, oft über den Zwischenschritt als Arbeiterkorrespondenten, in die Literatur eintraten, einer jeden Literatur guttun. Der spätere Grundansatz des „Bitterfelder Weges“ in der DDR galt genau dem Ziel, dem wenig modifiziert in der alten Bundesrepublik auch die „Literatur der Arbeitswelt“, formiert beispielsweise als „Gruppe 61“, zu folgen gewillt war. Denn das Fehlen der Lebenswelt von Arbeitern in Literatur und Kunst hat vor allen möglicherweise manipulativen politisch-ideologischen Ursachen eine ganz banal soziale: Künstler wie Schriftsteller rekrutieren sich weitestgehend aus dem, was man im Sozialismus Kleinbürgertum nannte, im Westen eher und lieber Mittelschichten.

Wenn Literatur fast ausschließlich von Akademikern oder Quasi-Akademikern (Studien-Abbrechern) geschrieben wird, dazu noch aus einer überschaubaren Zahl von Studienrichtungen, dann haben die Praxis-Erfahrungen bestenfalls vom immer beliebten „Jobben“, das ziemlich sicher nur ausnahmsweise tatsächlich tiefe Einsichten vermittelt, kaum eine Chance, Erfahrungen von nach wie vor vielen Millionen Menschen widerzuspiegeln, abzubilden, zu thematisieren (wahlweise zu verwenden nach jeweiliger Literaturtheorie). Die bittere Erfahrung, die Hans Marchwitza und auch andere „Arbeiter-Dichter“ zu machen hatten, war sicher weniger die, vom „Klassenfeind“ abgelehnt zu werden und vielleicht sogar mit der Justiz in Konflikt zu kommen. Die bittere Erfahrung waren die eigenen Genossen, die zur Kommunistischen Partei und ihren Gliederungen gestoßen waren als quasi Überläufer aus dem bürgerlichen Lager. Die hatten Bildungshintergrund, die hatten, auch wo sie es vor sich selbst verleugneten, ihren intellektuellen Hochmut, der gepaart mit der gerade für diese Gruppe typischen Linksradikalität den tatsächlichen Arbeitern in der proletarisch-revolutionären Literatur das Leben schwer machte.

In aller Urbravheit eines zu eiserner Parteidisziplin erzogenen Kommunisten versuchte auch der 1946 aus dem Exil zurückgekehrte Hans Marchwitza, möglichst jedem Ruf seiner Partei zu folgen. Da waren einerseits die vielen Funktionen und Ämter, die es klaglos zu übernehmen galt, aber eben auch andererseits der jeweiligen und selten lange stabilen Linie entsprechende kulturpolitische Forderungen. Am Ende solcher Überzeugtheit stand dann ein Roman wie „Roheisen“, standen die Fortsetzungen der „Kumiak“-Trilogie, die auch tapferen Freunden des vermeintlich Neuen in der sozialistischen Literatur der jungen Deutschen Demokratischen Republik den Angstschweiß auf die Stirn trieben, wenn sie danach gefragt wurden. Auf Dauer, und das war sehr früh mindestens stiller Konsens auch im real existierenden Sozialismus, auf Dauer ersetzt auch das echteste Gefühl nicht das, was Alexander Abusch freilich arg irreführend „Kunstfertigkeit“ nannte in seiner Trauerrede. Man wird, folgt man der Fama manch übler Nachrede, davon ausgehen müssen, dass mancher Text, der in DDR-Jahren unter dem Namen Hans Marchwitzas verbreitet wurde, lebensmitteltechnisch gesprochen, allerlei Konservierungsstoffe, Farbstoffe, Stabilisatoren oder was auch immer enthält, Arbeit also der anonymen Arbeiter in Verlagen und Redaktionen. Ich jedenfalls hatte im August 1967, im bildbaren Alter von 14 Jahren, mein erstes Marchwitza-Lese-Erlebnis. Nach „Brennende Ruhr“ und „Es begann im Eden“ von Karl Grünberg las ich „Sturm auf Essen“ und ich fand die Kämpfe der Roten Ruhr-Armee ohne Einschränkung spannend.


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