Arthur Schnitzlers Margarete zwischen Klemens und Gilbert

Man könnte meinen, es gäbe attraktivere Titel für ein Bühnenwerk als diesen wahrlich eher trockenen: Literatur. Man könnte dagegen einwenden, dass einer, der derart viele Bühnenwerke verfasste, irgendwann einmal das Recht auf einen schwachen Titel haben muss, zumal die Weltgeschichte der Theaterliteratur wahrlich viele Titel schon verbraucht hat. Es ist verlorene Liebesmüh, der Einakter heißt „Literatur“, er ist nicht der, der einem zuerst einfällt bei Nennung des Namens Arthur Schnitzler. Aber es fällt einem ja auch nicht zuerst das Fahrrad ein, wenn die Rede auf diesen Österreicher kommt, der nun ausgerechnet heute vor 150 Jahren geboren wurde und trotzdem wird Text über ihn gern mit einem Foto illustriert, auf dem Schnitzler als würdiger und keineswegs sonderlich sportiver Typ fortgeschrittenen Alters ein Fahrrad in den Händen hält.

Die Geschichte in „Literatur“ ist auf den ersten Blick höchst einfach. Und doch zieht jeder Satz, der sie erzählen will, sofort einen nächsten nach sich und der wieder einen und plötzlich steht man vor der angesichts des scheinbar so leichten Textes verblüffendes Tatsache, von vielen Dimensionen reden zu müssen. Als Marcel Reich-Ranicki sich 1984 die Frage vorlegte, was wohl für die auffällige Zurückhaltung der Germanisten im Fall Schnitzlers verantwortlich sein könnte, fand er eine sehr nahe liegende, sehr einfache und weit über Schnitzler hinausreichende Antwort: „Den Werken Schnitzlers fehlt es an jener Dunkelheit, die die Interpreten schätzen und lieben, weil sie gerade ihr ihre Daseinsberechtigung, ja ihre Unentbehrlichkeit verdanken.“ Soweit genannte Interpreten nicht sich selbst folgen und Reich-Ranicki deshalb hochmütig verachten, werden sie solche Sätze mit wenig Freude lesen, denn immer noch gilt die Zahl der Eisenbahnwaggons, die mit Sekundärliteratur zu einem bestimmten Autor, noch besser zu einem bestimmten Werk, gefüllt wurden, als Maßstab für den Wert dieses Autors oder Werks.

Im Fall Arthur Schnitzlers, das darf 28 Jahre nach Reich-Ranicki wohl behauptet werden, ist immer noch nicht von einer wirklichen Renaissance zu reden, als Leichtgewicht aus vergangenen Tagen aber wird er von Menschen mit Urteil längst nicht mehr genommen. Im Gegenteil, wenn, wie jetzt gerade geschehen, neue, bis dato nicht veröffentlichte Schnitzler-Texte gedruckt werden, die „Träume“, dann füllen die maßgebenden Feuilletons schon mal ganze Seiten dazu oder gar Doppelseiten wie die LITERARISCHE WELT am Sonnabend. Und der einstige Dompteur des „Literarischen Quartetts“, der immer noch in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG Leserfragen nach Literatur und ihren Autoren beantwortet, hat kaum einem in den zurück liegenden zwei, drei Jahren umfänglichere Antworten gewidmet als eben Arthur Schnitzler, mit dem er auch seinen natürlich höchst empfehlenswerten Sammelband „Sieben
Wegbereiter“ eröffnet.

In „Literatur“ gibt es eine geschiedene junge Frau namens Margarete, die Gedichte schreibt und veröffentlicht. Sie ist mit einem Herrn namens Klemens liiert, der sie heiraten will und den sie nach allen Regeln, was man so nennt und was sie selbst so nennt, auch liebt. Er soll das, was man früher reineren Herzens als heute Rasse nannte, obwohl es schon zu Schnitzlers Zeiten sicher einen in Kauf genommenen Beigeschmack des Vierbeiner-Bezugs hatte. Seine Welt sind Pferderennen und Pferde-Wetten und es irritiert ihn schon, dass die Geliebte davon, obwohl sie eine Frau ist, vermutlich sogar mehr und tiefer versteht als er selbst. Großzügig ist er bereit, ihr die Sünde des Gedichte-Machens zu verzeihen. Von den Antrieben des Schreibens weiß er jedoch noch weniger als von den Pferden, seine vollkommene Ahnungslosigkeit hält er dennoch für bestes Wissen.

Kennen gelernt hat dieser Klemens seine Margarete in Künstlerkreisen Münchens, was damals so Boheme hieß, deutet Schnitzler in das Satirische streifenden Charakteristiken an. Dort verkehrte auch ein Herr Gilbert, Amandus mit Vornamen, der als dritte Person im Stück in Erscheinung tritt, als er auf Durchreise genau in dem Augenblick bei Margarete anklopft, als der wütende Klemens die Wohnung verlässt, weil sie sein dreistes Ansinnen, für ihn und um seinetwillen auf die Literatur zu verzichten, erst einmal zurück wies. Gilbert will ihr einen Roman bringen, den er veröffentlicht hat und ahnt nicht, dass auch sie einen Roman geschrieben hat. Der Witz der Geschichte besteht darin, dass beide, Gilbert und Margarete, in ihren jeweiligen Romanen die echten Briefe eingearbeitet haben, die sie einander schrieben. Das hat in gewisser Weise ein gewisser Goethe in der Causa Charlotte Buff ähnlich gehandhabt. Schnitzler setzt solches Wissen mit ziemlicher Sicherheit bei seinen Lesern und den Theaterzuschauern voraus. Namentlich erwähnt ist im Einakter lediglich die Marlitt, natürlich als Beispiel für Trivialliteratur.

Hat Schnitzler jedoch sein Publikum zunächst auf eine Fährte gelockt, die es möglicherweise Mitleid empfinden lässt mit dem weiblichen Chauvinismus-Opfer männlichen Herrschafts- und Überlegenheitswahns, macht er mit den vorgestellten Einzelheiten zu ihrem Roman, zu dem Roman Gilberts und der in beiden verarbeiteten Liebesgeschichte klar, dass der Titel „Literatur“ tatsächlich sehr genau kennzeichnet, worum es im Einakter geht. Es geht nicht um Emanzipation, es geht tatsächlich um Literatur. Denn im Disput um die verarbeiteten Briefe wird rasch deutlich, dass nicht auf Seiten Margaretes alles Recht der reinen Kunst, auf Seitens Gilberts alle Verächtlichkeit des Mode-Schreibens konzentriert sind. Das tiefere Problem beider ist, dass sie dazu neigen, Leben nicht auch als Rohstoff für Schreiben, sondern nur als Rohstoff für Literatur zu sehen, dass Leben letztlich auf Literatur hin inszeniert wird. Man kann das, in Anspielung auf eine Novellen-Figur Heinrich Manns, den Malvolto-Effekt nennen oder auch das Malvolto-Syndrom.

Schließlich wirft übrigens Margarete das vermeintlich einzige Exemplar ihres Romans, das Klemens sich beim Verleger hat geben lassen, den er zum Einstampfen der gesamten Auflage drängen wollte, ins Kaminfeuer. Und plötzlich sieht auch Gilbert die Welt wieder lockerer und weniger verkrampft, der eben noch geneigt war, Margarete zurück zu erobern und dazu den Konkurrenten schlecht zu reden. Plötzlich ist das Leben, das soll wohl das Fazit des Einakters sein, nicht mehr als triviale Literatur.

Am 150. Geburtstag Arthur Schnitzlers wäre es vermutlich näher liegend, seinen „Reigen“-Skandal zu memorieren, über die Rolle des „Leutnant Gustl“ für die Entwicklung des inneren Monologs in der deutschsprachigen Literaturgeschichte zu dozieren oder die diversen Lieben, Ehen, Scheidungen zum soundsovielten Male vorzustellen. Ich entscheide mich wie immer ich-bezogen: ich erinnere mich eines seltsamen Films, in dem „Nachts, nachts, nachts im grünen Kakadu“ gesungen wurde, natürlich auch der so skandalarmen und dennoch skandalösen „Reigen“-Verfilmung aus den sechziger Jahren. Ich erinnere mich meines ewigen Ärgers über DDR-Verlagspolitik, die dazu führte, dass ich irgendwann sechs oder gar sieben Mal den „Gustl“ besaß, weil sich das staatliche Lizenzerwerbungs- und Druckgenehmigungswesen niemals zu ordentlichen Werkausgaben durchringen wollte, sondern besonders im Falle Schnitzler immer neue Zusammenstellungen längst bekannter mit ein paar bis dahin noch unbekannten Texten herausbrachte. Und auch jede einschlägige Anthologie hatte natürlich ihren Standard-Schnitzler.

So kam bis zum Ende der DDR bei mir eine stattliche Schnitzler-Sammlung zustande und als ich vor mittlerweise auch schon wieder sieben Jahren systematisch Lektüre betrieb, fügte sich viel aneinander und ineinander, reichlich sechzig Seiten eigener Notizen und Ausarbeitungen warten auf Fortführung. Die Ergänzung der Bestände ist unvermeidlich mit weiteren Dopplungen verbunden, was mich immer wieder zurück scheuen lässt. Greife ich dagegen zu meiner Ausgabe der „Aphorismen und Notate“, dann muss ich nicht lange blättern, um auf solche Sätze zu stoßen: „Der Märtyrer bietet gewiß einen edleren Anblick als der Renegat. Aber ob er nicht oft genug nur der opfermutigere Komödiant gewesen ist?“ Oder: „Bestechlichkeit im weitesten Sinn ist eine allgemein menschliche Eigenschaft; ja, menschliche Beziehungen sind überhaupt nur dadurch möglich, daß wir alle in einem geringeren oder höheren Grad bestechlich sind.“ Zuletzt: „Niemals aber sind wir geneigt, uns durch die Vortrefflichkeit eines Menschen gegenüber seiner Talentlosigkeit milder stimmen zu lassen.“

Es bedürfte einer ausführlichen Würdigung der schmerzhaften Darstellung Schnitzlers zum Feuilleton und zum Feuilletonismus. Wir alle, die wir dem Feuilleton verschrieben sind, haben es wenigstens kurzzeitig zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mindestens möglicherweise doch Menschen sind, die deshalb geschwind schreiben, weil sie sich auf der Flucht vor ihrem Gewissen befinden. Der Feuilletonist ist, was er ist, laut Schnitzler, „oft genug zu eigenem Schaden und weiß es auch manchmal.“ Als ich im  vorigen Jahr zu Goethe und Kleist sprach im GoetheStadtMuseum, zitierte ich Arthur Schnitzler nicht. Jetzt hole ich es nach: „Was Goethe über Kleist sagt, interessiert mich, auch wenn Goethe unrecht hätte. Ich erfahre wohl nichts Neues über Kleist, aber doch über Goethe.“ Wer also nichts Neues über Schnitzler bei mir erfahren hat, weiß immerhin wieder etwas mehr von mir. Nehme ich einmal zu meinen Gunsten an.


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