Ilmenauer Donnerstag (2)

Der Mann, der den Beutel trägt, wann immer man ihn sieht, und der während des Tragens Kaugummi kaut, als hätte er die Aufgabe, eine ganze Wochenration innerhalb der nächsten halben Stunde zu malmen, kommt mir heute nicht entgegen. Ich laufe hinter ihm, denn am ersten von vier gerichtsfreien Donnerstagen in Folge bin ich eine Dreiviertelstunde eher auf den Beinen, während er seinen Zeitplan hält. Ich überhole ihn nicht, denn er biegt bereits kurz hinter den Bahnschienen leicht nach links in Richtung Bowling-Center. Mein Weg führt geradeaus. In der Ziolkowski-Straße sind immer noch die Sanierer am Sanieren, nur haben sich die Wohnungen ohne mein Zutun in WBG-Wohnungen verwandelt. Das waren sie im Grunde vorher schon, aber ich wusste es nicht. Ich lebte im Irrtum, dass die Genossenschaft keine unsanierten Blöcke mehr unter ihren Fittichen hat. Inzwischen weiß ich, dass da nicht nur der Verbinder verschwindet, was Wohnungen kleiner macht. Es wird auch die obere Etage abgetragen, während in den Wohnungen darunter die Mieter jeweils acht Stunden mit dem Hund spazieren gehen müssen, während es über ihn kracht und donnert.

„Eingeschränkter Winterdienst! Begehen auf eigene Gefahr“ steht an beiden Enden der Treppe, die meine Donnerstagstreppe ist, ob mit oder ohne Gericht. Ich überlege, wie es mit der Gefahr aussieht, wenn gestreut würde. Ist sie  nicht mehr vorhanden oder kann ich lediglich die Haftpflichtversicherung des Treppeninhabers erleichtern, falls ich mir dennoch die Gräten breche? Was aber, wenn mich mitten im Winter auf gestreuter Treppe ein Räuber ohne oder mit Migrationshintergrund anfällt, wenn der Mann, der auf dem Balkon wie immer an seinem Laptop sitzt, mir auflauert? War die Gefahr dann meine eigene oder wessen Gefahr war sie dann? Fragen eines Zeitung lesenden Arbeiters von Bertolt Bredel. Der Mann am Laptop hebt kurz seinen Kopf, als ich komme, das aber ist schon der Heimweg.

Zunächst schaue ich in meinen Briefkasten, der 7.15 Uhr bereits ungewöhnliche Füllung zeigt. Es liegt ein großer Briefumschlag vom GEHEIMRAT drinnen, ein kleiner von einer sehr großen Versicherung, die zu einer noch viel größeren Versicherungsgruppe gehört, es liegt meine herrliche Tageszeitung darinnen, die jetzt nur noch auf zwei ältere Gerichtsberichte von mir zurückgreifen kann, der letzte von den neuen erschien gestern. Ihr verschämter Zwilling, der in der Kreisstadt kreist, gehört zur Gruppe der journalistischen Trappisten. Sie schweigen dort, was immer man ihnen anbietet, was je man von ihnen möchte. Ich lagere alles wieder flach in den Kasten, denn ich will es nicht zum Bäcker tragen und noch weniger ins Mühltor-Center. Statt aber, wie erwartbar bei einem vernunftbegabten Wesen, für das ich mich innerhalb gewisser Grenzen halte, den Weg zu nehmen, den ich nahm, als ich noch keine Gerichtsberichte schrieb, liefen meine Füße, ohne sich um den oberhalb angeordneten Rest weiter zu kümmern, in Richtung Behördenzentrum.

Erst der unverwandte Blick einer Autofahrerin, die mich besichtigte, während ich bei roter Ampel die Breitscheid-Straße überquerte, riss mich aus meiner Gedankenlosigkeit. Ich bog in die Albert-Pulvers-Straße ein, meditierte über Fliesengeschäfte, die unsere beiden Bäder ausstatteten und Saunen, die Mitglied der Sauna-Gesellschaft sind. Ich starrte eine Stelle an, die jetzt aussieht wie ein Carport und glaubte mich zu erinnern, dass dort früher etwas anderes stand, an das ich mich nun nicht mehr erinnere. Vor dem Haus mit der Weiterbildungsakademie in der Weimarer Straße saßen Bildungsbeflissene respektive standen und rauchten sich eins. Gäbe es, habe ich früher mit einer gewissen Nichtraucher-Häme gedacht, in Deutschland keine rauchenden Umschüler, würde die Zigarettenindustrie einen Kollaps erleiden, den man heute vielleicht griechisch nennen dürfte. Der entspannte Arbeitsmarkt aber hat der Umschulungsindustrie die Kunden entrissen, der Dialektiker in mir kichert bereits mit der nächsten Häme.

Mein Schindler-Umsatz liegt heute nur bei 3,40 Euro, denn wir verspeisen unsere Wochenend-Semmeln in der Kantstraße zu Berlin-Charlottenburg, der Heimbedarf ist entsprechend gesunken. Ich werfe einen Blick durchs Fenster des umgesiedelten Tee-Eck, passiere den Apotheker-Brunnen und sehe, bei FREIES WORT brennt Licht. So früh kämpfen die schon um ihre Leser. Markus, mein Lieblings-Chefredakteursstellvertreter, hat sich gestern an 60 Jahre FREIES WORT erinnert, von denen er 52 nicht erlebte. Das nenne ich gehobene Kompetenz. Ich weiß nicht, ob ich auch aufgefordert bin, mich mit schönen und  ärgerlichen Episoden aus meinem Leben mit FREIES WORT an die Leserbriefredaktion zu wenden. Im Aufruf stand jedenfalls nicht: Alle, außer Ullrich. Vielleicht versuche ich es mal gelegentlich mit einem Vorabdruck „Aus meinem Zeitungsleben“.

Die Post, die sich in Teilen ihres Gesamtbestandes im „Löwen“ befindet, nahm in Form ihres großen Briefkastens meinen Brief an den Journalistenverband auf, in dem ich meine anhaltende Armut dokumentierte, um nicht die fetten Beiträge fest angestellter Schwerstverdiener zahlen zu müssen. Ich schnürte wie ein Fuchsimitator an der Villa vorbei, die mir eine sehr ansehnliche Grafik-Sammlung von außen sichtbar macht, deren Herkunft wie Eigentümerin ich gut kenne, hier aber aus Datenschutzgründen nicht näher bezeichne. Der dazu gehörende Gatte trägt einen sehr langen Bart, wie ich ihn leider nicht mehr tragen darf aus Gründen, die ebenfalls dem Datenschutz unterliegen. Des Ferrarifahrers neue Baustelle verhindert den geraden Weg zum Zeitungshandel, den Umweg nehme ich jedoch gern, weil er mich bei Seydewitz vorbeiführt und an dessen Zahl 1907. Ich liebe diese Zahl, warum auch immer. Meinen ersten Stützstrumpf werde ich mir dort anmessen lassen.

Meine drei Zeitungen liegen noch nicht bereit im Mühltor-Center. Weil ich schon lange nicht mehr so früh gekommen bin, einigen wir uns, um nicht von Vergesslichkeit sprechen zu müssen. Dann regnet es einfach. Immerhin, vielleicht weil ich zuletzt erst völlig durchweichte auf den restlichen Metern, heute nur mit halber Kraft. Zwei Ampeln kann ich bei Grün bewältigen, der übrige Weg ist signalfrei. Ich öffne meinen Briefkasten erneut, nehme alles in die eine Hand, die schon alles andere trägt, weil ich ausnahmsweise einmal nicht durch eine offen stehende Haustür treten kann. Haben all unsere vergesslichen Radfahrer, Hundeausführer und Kinder heute tatsächlich die gelbe Tür wieder hinter sich geschlossen? Oben öffne ich zuerst den Umschlag vom GEHEIMRAT. Meine Seite ist vorndrauf angekündigt, im Editorial erscheine ich erneut als neu an Bord und ganz ganz hinten ist dann auch die Seite, die ich füllte.

Während DIE LINKE, wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautet, sich freut, dass es ihrem Hans-Joachim Weise „gelungen“ ist, endlich auch im GEHEIMRAT unterzukommen, freut sich keine einzige Partei mit mir, denn die Aussicht, dass ich etwas in ihrem Sinne dort publiziere, ist von Null nicht zu unterscheiden. Ollen Manni Görtler, dessen Urkunde im Heft zu sehen ist, kenne ich aus den Zeiten, da Ochs und Esel noch gemeinsam mit der Erhaltung des Sozialismus in den Farben der DDR befasst waren. Und, was das allerdings Tragische ist, an der Wassertrasse zum Kickelhahn habe ich nicht mitgegraben. Irgendwie hatte ich wohl immer gerade Nadelarbeitszirkel, wenn der Grabe-Subbotnik angesetzt war. Lang lebe Manfred Görtler. Und Weise natürlich auch.

Beim Aufschlagen meiner Zeitung sehe ich, dass Georg Juchheim gestorben ist. Dem widme ich mein TAGEBUCH heute. Ich denke an manche Gemeinderatssitzung in Gräfinau, an manche Kreistagssitzung in Ilmenau und Arnstadt. Als Claudia Nolte Bundesministerin wurde, sagte Schorsch. „Im alten Ägypten gab es auch neunjährige Pharaonen.“ So war Schorsch. Die gelbe Post bringt mir an diesem Donnerstag einen Katalog. Hans Baltzer schickt ihn mir, der Enkel des anderen Hans Baltzer (1900 -1972), dessen Illustrationen einige Strittmatter-Bücher zieren. Ich muss mich mühen, mich nicht festzulesen. Auch Kurt-David-Bücher habe ich sofort vor Augen, als ich blättere. Der jüngere Hans Baltzer, Jahrgang 1972, der seinen Großvater nicht mehr selbst kennen lernte, bekommt natürlich sofort eine Dankesmail. Ihn muss man im weltweiten Netz nicht lange suchen.


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