Goethes Schwager Vulpius

Die schönste Anekdote zu beiden geht so (Zitat ungeschnitten und in voller Länge): „In einer Universitätsstadt wurde einst „die natürliche Tochter“ aufgeführt. Nach dem zweiten Acte wendet sich ein Student an einen neben ihm sitzenden ältlichen Herrn mit der Frage: „Um Vergebung, ist das Stück nicht von Vulpius?“ (Vulpius war bekanntlich der literarisch übelberüchtete Verfasser von „Rinaldo Rinaldini“ und vielen ähnlichen Schreckensbüchern.) Der ältliche Nachbar erwiderte: „Nein, das Stück ist von Goethe.“ Nach dem dritten Act fragt der Student: „Wissen Sie gewiß, daß das Stück nicht von Vulpius ist?“ „Nein,“ sagte der Nachbar, „das Stück ist von Goethe.“ Nach dem vierten Acte meint der Student: „Ich glaube immer, das Stück ist von Vulpius.“ „Von Goethe“ ist die Zurechtweisung des Nachbars. Am Schlusse endlich behauptet der Student: „Sie mögen sagen, was Sie wollen, das Stück ist von Vulpius.“ Da erhebt sich endlich der stattliche Nachbar und sagt mit einem flammenden Auge: „Das Stück ist von Goethe und ich bin Goethe.“ „Sehr erfreut“, sagte der Musensohn, „mein Name ist Müller.“

Sicher wäre es übertrieben, dem Erzähler Heinrich Johann Immanuel Anschütz (1785 – 1865) ein besonders zielstrebiges Ansteuern der Pointe zu bescheinigen, immerhin hat der seinerzeit hochberühmte Schauspieler es in seiner Autobiographie „Heinrich Anschütz: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken“(1866) aber genau so festgehalten. Und damit einen Bezug zwischen zwei Personen hergestellt, die im tatsächlichen Leben schwerlich miteinander zu verwechseln waren, aber dennoch mehr als nur einen anekdotisch miteinander zu tun hatten. Denn Vulpius, Christian August Vulpius, der heute vor genau 250 Jahren in Weimar geboren wurde, war der Bruder von Christiane Vulpius. Und hätte der Bruder seine Schwester nicht gebeten, bei Goethe für ihn zu bitten und um dessen Protektion zu ersuchen, dann wäre es möglicherweise zu jener Begegnung auf der Ilmbrücke am 12. Juli 1788 gar nicht gekommen, in deren Gefolge der gerade aus Italien zurückgekehrte Dichter das Mädchen erst zu seiner Geliebten, dann zur Mutter seiner Kinder, von denen nur August länger lebte, und schließlich auch zu seiner angetrauten Gattin machte.

Die gern ausgemalte Szene auf der Brücke hat niemand beobachtet, niemand auch nachträglich im Detail aufgezeichnet, dennoch gehört sie zum Standard-Repertoire der meisten Goethe-Biographien, denn schöner wäre es nicht zu erfinden. Goethe hat freilich schon vor seiner Flucht nach Italien  Kenntnis von der Existenz des jungen Mannes gehabt und die Spekulation ist müßig, ob eine bessere Besoldung in Nürnberg oder eine frische Liebe den später so übel beleumundeten Erfolgsautor Vulpius von der Rückkehr nach Weimar abgehalten hätten. Vulpius ist zurückgekehrt in die Stadt seiner Geburt, in der seine Geschwister noch lebten, in der sein Vater gestorben war und er hat eine durchaus ansehnliche Karriere gemacht. Der in der oben zitierten Anekdote genannte Roman vom Räuber Rinaldo Rinaldini war, was man heute einen Megaseller nennen würde, noch zu Lebzeiten seines Verfassers erlebte der Roman sieben legale Auflagen, Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen folgten. Verglichen damit waren Goethes Auflagenerfolge mit geringen Ausnahmen nahezu lächerlich, manches hochgerühmte Werk war noch hundert Jahre nach der Erstauflage in eben dieser zu kaufen.

Eine gestern offiziell in Weimar eröffnete Ausstellung zu Christian August Vulpius im Kirms-Krackow-Haus, sie ist vom 25. Januar bis zum 19. Februar zu sehen, korrigiert vielleicht auf Dauer den bisweilen noch in jüngster Zeit gegen die Kulturstadt Weimar gemachten Vorwurf, das dortige Tourismuskonzept vernachlässige absichtlich diesen „anderen Klassiker“. Besucher dieser Ausstellung können ein Begleitbuch volle fünf Euro preiswerter bekommen als sie zahlen müssten, wenn sie den Titel beim Werhan-Verlag direkt bestellen. Wenn das kein zusätzlicher Anreiz ist, die Ausstellung anzusehen? Ansonsten aber muss klar festgehalten werden, dass sich bezüglich Vulpius uralte Urteile und Vorurteile in einer Zähigkeit und unüberprüft gehalten haben, dass es beinahe als verwunderlich angesehen werden muss. In der DDR zum Beispiel, die gern hochhielt, was sie für revolutionäre Traditionen hielt und das Verhältnis von Personen zu Revolutionen ihrer Zeit mit diabolischer Leidenschaft zum Lackmustest der Bewertung dieser Personen machte, hat die umfangreiche Anthologie des Leipziger Reclam-Verlages „Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur“ (1975) Christian August Vulpius einfach „vergessen“.

Weit über 1000 Seiten Text klammern einen Mann aus, der sich immerhin früher und ausführlicher als die meisten der aufgenommenen Autoren zu dieser Revolution, zum Bastille-Sturm sogar separat, geäußert hat. Eine andere höchst wichtige Seite des vielseitigen Schwagers von Goethe, seine Arbeit für das Weimarer Theater, wird zwar immer wieder erwähnt, aber selbst ein so üppiges Buch wie Fischer-Dieskaus „Goethe als Intendant“ hält sich bei Vulpius jeweils nur kurz auf, wenngleich wesentlich mehr und faktenhaltiger als noch gute neuere Goethe-Biographien. Ohne Vulpius und seine Textbearbeitungen, die auch Mozarts „Zauberflöte“ nicht ausklammerten, wäre der von Goethe verantwortete Spielplan nicht so gelaufen, wie er schließlich lief. Über das Wirken des Trivialautors als Bibliothekar in Weimar und Jena und über sein (ohne Anführungsstriche) wissenschaftliches Werk, das viele Bände umfasst, wird bis heute gern und großzügig hinweggesehen. Nicht zuletzt wären für Städte wie Rudolstadt, wo innerhalb weniger Jahre etliche Bücher von Vulpius verlegt wurden, ebenso für Erfurt, auch lokale Studien durchaus kein aussichtsloses oder gar sinnloses Unterfangen. Wenn in Arnstadt kaum widersprochen die Marlitt nach und nach zur Nationalautorin uminterpretiert wird, dann sollte ein Klassiker des Populären und durchaus auch Trivialen wie Vulpius nicht weiter unter dem boshaften Dauerverdikt der sonst längst vergessenen Spätaufklärung rubriziert bleiben. Man muss nur Spaßes halber die Ingredienzien von Schillers unvollendetem Roman „Der Geisterseher“ und die in der Literatur zu Schiller vorurteilsfrei genannten Gründe für den Erfolg gerade dieser Quasi-Kolportage beim Publikum heranziehen, um zu sehen, dass auch Vulpius aus eben diesen Zutaten mischte.

Karl May, dessen 100. Todestag in diesem Jahr auch noch für den üblichen Wirbel sorgen wird, hat in „Mein Leben und Streben“, natürlich nicht ohne Ironie, dies geschrieben:  „Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den Rinaldo Rinaldini geschrieben!“ Der immerhin noch dem deutschen Fernsehen für eine Vorabendserie gut war Ende der sechziger Jahre, den zuvor 1927 der Reeperbahn-Sänger Hans Albers verkörperte. Und den Weimar in der Luthergasse 5 nun nicht mehr vergessen hat neben seiner Schwester, die noch die Schiller-Witwe gern „Goethes dicke Hälfte“ nannte. Ein Grabkreuz für Christian August Vulpius gibt es auch in Weimar, denn er starb dort am 26. Juni 1827 an den Folgen seines zweiten Schlaganfalls. Der gut zwölf Jahre ältere Goethe überlebte seinen leiblichen Schwager um fast fünf Jahre. Worte des Gedenkens von ihm für den Bruder seiner Frau sind nicht überliefert.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround