Reto Flückiger hat den Blues

Noch unrasierter sah er eigentlich nie aus. Sein privater Lebensmittelpunkt ist das wenig luxuriöse Boot, in dem er jetzt ständig wohnt. Wie immer in allen anständigen Krimis kommt die Nachricht vom neuen Fall im ungünstigen Augenblick. Das Universum der Straftäter dieser Welt ist so sortiert, dass nie, buchstäblich nie, irgendein Kriminalist von einer Tat erfährt, während er in seinem Büro sitzt. Keine Tat reißt je einen Ermittler aus beruflicher Unausgelastetheit, wohl aber sind sehr viele von ihnen gerade auf dem Weg in den Urlaub, wollen sich um ihr Kind kümmern oder liegen, so sie männlich sind, unter einem fröhlich hüftschwingenden weiblichen Wesen, als eben das berühmte Telefon klingelt. Auch der Ermittler, der aus dem Tiefschlaf kommt, wird gern genommen. Diesmal also das Wohnboot auf dem Vierwaldstätter See.

Die Frau, die der Zuschauer zunächst sieht und von der er vielleicht vermuten soll, sie werfe sich unter einen Zug, ist dann tatsächlich tot. Sie heißt Donna Müller. Dass sie sich nicht unter einen Zug warf, liegt auf der Hand, und dass es kein Unfall war, ist auch rasch klar. Es bleibt die ewige Grundsituation, wer die Angehörigen benachrichtigt. Und die ihr unmittelbar beigegebene: Wie zeige ich die Reaktionen auf die Todesnachricht. Im jüngsten Schweizer Tatort gibt es eine Lösung, die aus Not eine Tugend macht. Denn als die beiden Ermittler klingeln, sind drei Kinder an der Tür, aber kein Vater. Wie sagt man es Kindern? Wie reagieren Kinder? Können Kinder als Darsteller das spielen? Die Regie lässt die Kamera bei Reto Flückiger und Liz Ritschard im Nebenzimmer, während die Psychologin mit den Kindern spricht. Man hört Dialog, versteht ihn aber nicht, dann kommt der Sohn aus dem Zimmer gerannt. Er reagiert aggressiv. Auch später.

Es war kein harmonisches Leben, das die Mutter mit ihren drei Kindern führte, von denen jedes einen anderen Vater hat. Ein Vater lebt in Indien, kommt nur selten in die Schweiz und fällt als Täter aus. Ein Vater zahlt seine Alimente heimlich und hat vor allem die Sorge, dass seine Frau nicht von dem Kind erfährt, denn sie selbst kann keine Kinder bekommen. Dann ist da noch der dritte Vater im Bunde, er ist jähzornig, er zieht Verdacht auf sich, hat offenbar auch ein Motiv, das nicht nur rein privat ist. Denn er gehört einem Väter-Verein an, der sich für Väterrechte einsetzt und, wie sich bald herausstellt, dabei keineswegs nur legale Mittel anwendet. Der erfahrene Krimiseher kann sich zurücklehnen, der Verdächtigste ist nie der Täter, es sei bei Columbo, wo man es ohnehin schon lange weiß und der Täter auch mit toller Regelmäßigkeit den alten Stirnrunzler und Stirnkratzer auf sich aufmerksam macht, indem er sagt, er könne es gar nicht gewesen sein.

Der Anblick der drei vaterlosen Kinder lässt Reto Flückiger zu einem alten Foto mit einer rothaarigen Frau greifen. Woran ihn das Foto erinnert, bleibt länger offen, bis er endlich seiner Kollegin gesteht, einmal beinahe Vater geworden zu sein. Vorher verrät er, was ihn auf einmal anfasst: der Gedanke, am Ende allein zu sein. Er hat die Mutter seines Kindes einst zur Abtreibung überredet. Das treibt ihn nun um, macht ihn ungesellig und abweisend. Auch Liz Ritschard hat Probleme, die noch gesteigert werden durch den aggressiven Vater, der sich einer feministischen Welt beliebiger Willkür ausgeliefert wähnt und in der Kommissarin auch nur die Frau sehen kann, die nach anderen Tätern als ihm gar nicht sucht. Immerhin, es gab Drohungen, Nachstellungen, Stalking gegen Frauen in Luzern und Umgebung. Und das Alibi des verdächtigsten Verdächtigen bröckelt passgerecht Zug um Zug.

Die kriminalistischen Nebenrollen bringen nicht nur das übliche Kolorit, der Chef hat freilich wie immer keine Ahnung und gibt unsinnige Anweisungen, aber eine ältere Kollegin findet es geradezu lustig, dass die drei Kinder drei verschiedene Väter haben. Die fast durchgehende Spannung zwischen den Ermittlern ersetzt phasenweise die Spannung der Haupthandlung. Das Versöhnungs-Bierli wird gleich zweimal abgelehnt, die beiden älteren Kinder sind wenig kooperativ, was die unmittelbare Vorgeschichte der Tat betrifft. Dafür gibt es einen jungen Mann, der in einem Esoterik-Zentrum Kurse abhält (Gregoire Gros). Die Ermordete kennt er aus dem Kurs für Fortgeschrittene und er kann, was nicht nur bei Liz Ritschard forcierte Ungläubigkeit auslöst, Kontakt zu Toten herstellen. Beim ersten Versuch bricht der Kontakt ab, später aber führt sein Hellsehen die Ermittler auf die Spur der älteren Tochter (Annina Walt). Das stieß schon bei der Vorabkritik auf wenig Gegenliebe.

Am Ende springt Reto Flückiger von seinem Boot in den See. Da er das weiter vorn im Film schon einmal tat und es fast quälend lange dauerte, bis er wieder an der Oberfläche erschien, fällt auf, dass es nun wesentlich schneller geht. Schneller kommen jetzt die aktiven Schwimmbewegungen. Und er weiß, dass Liz Ritschard (Delia Mayer älter wirkend als vor knapper Jahresfrist) mit sieben Jahren ihre Mutter verlor. Die drei allein zurück bleibenden Kinder waren fast mehr Opfer als ihre Mutter, die vielleicht vom Ausmaß des Hasses wenigstens der beiden älteren nie eine Ahnung hatte. Auch die Väter kommen, wenn überhaupt, erst im Angesicht der Katastrophe zu Einsichten, von deren Tiefenwirkung man nicht überzeugt sein muss. Die größte Chance darauf hat der Vater von Emma. Als der plötzlich gesteht, doch der Mörder zu sein, weiß der Zuschauer längst alles besser.

Die Frage, ob Drehbuchautoren und Regie uns tatsächlich irgendwelche Schweizbilder vermitteln wollen, die von unseren vermeintlichen oder tatsächlichen Schweizklischees abweichen, mag ich mir nicht stellen. Nur weil in der Schweiz auch öffentliche Toiletten ohne Personal mitten im Wald sauber sind wie in einer Sanitärkeramik-Ausstellung, muss darauf nicht folgen, dass Schweizer Familien in Takt zu sein haben. Wenn bisweilen der eine Löffelbieger oder die andere Geistheilerin aus dem Alpenland zu medialem Ruhm kamen, heißt das nicht, dass dort automatisch der locus classicus solchen Geistes zu finden ist. Und Plattenbauten in der Schweiz? Waren die darüber Verwunderten nie dort oder faseln sie scheinheilig ihre Montagskritik voll? Nein. Die Nummer sechs aus der neuen Serie eidgenössischer Tatorte verdient weder Sonderlob noch Sonderkritik. Es gibt bessere und schlechtere, richtig grottige gibt es in den vergangenen Jahren kaum noch. Und zwar von allen Produktionsstandorten nicht.


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