Gottfried Keller: Sieben Legenden

Mit dem Ortsnamen Altenkirchen auf Rügen verbindet sich mir vor allem die Erinnerung an etliche Kollegen, die dort ihren Sommerurlaub verbrachten. Die entsprechenden Ferienplätze der TH Ilmenau dort waren rar, man hatte Voraussetzungen zu erfüllen, die ich nur nach vielen Jahren Betriebszugehörigkeit oder mit deutlich mehr Kindern erfüllt hätte. Also war ich nie dort. Also habe ich auch nie einen Blick auf den dortigen Kirchenfriedhof geworfen. Wo Ludwig Gotthard Kosegarten begraben liegt (1. Februar 1758 bis 26. Oktober 1818), als Pfarrer dieser Gemeinde für seine Strandpredigten berühmt, in die Literaturgeschichte eingegangen keineswegs mit seinem durchaus umfangreichen Werk, das sogar einen Roman und eine Tragödie enthält, sondern als Anreger. Als Anreger von Gottfried Kellers 1872 in der Göschenschen Verlagsbuchhandlung Stuttgart erschienenen „Sieben Legenden“. Kosegarten, in manchen Nachschlagewerken auch mit dem Vornamen Theobul ausgezeichnet, hat das Pech, im Text- und Substanzvergleich seiner Legenden (1804 in zwei Bänden erschienen) mit denen, die er bei Keller anregte, ausgesprochen schlecht auszusehen. An seinem Sterbehaus in Greifwald hängt eine Gedenktafel dennoch zu Recht.

Denn es ist wenig fair, aus welchen Motiven auch immer, einem durchaus wackeren und ehrgeizigen Pastor seine literarischen Schwächen ausgerechnet im Vergleich mit einem der nun wirklich nicht unzähligen unsterblichen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts aufzulisten, zumal der Pastor bereits neben seiner Kirche für immer ruhte, als Gottfried Keller erst geboren wurde. Zu DDR-Zeiten hat das Peter Goldammer unternommen, den sein Ehrgeiz wiederum offenbar dazu trieb, den Schweizer Keller in eine bestimmte Traditionslinie zu stellen, in der Johann Gottfried Herder und Ludwig Feuerbach eine Hauptrolle spielen. Der erste mit seiner historischen Betrachtung der Legende als einer, wenn auch sehr speziellen, Form von Volksdichtung, der zweite mit einem Aufsatz „Über den Marienkultus“, der laut Goldammer „die Konzeption der Kellerschen Legendendichtung vorwegnimmt.“ Selbst wenn aber, was nicht nachweisbar, Gottfried Keller den Aufsatz kannte, selbst wenn er als Hörer Feuerbachs in Heidelberg, mit dem er bald auch fast alle Abende Bier trank, sich eine Theorie gebildet haben sollte, sind die „Sieben Legenden“ mit großer Sicherheit keine Umsetzung dieser oder irgendeiner Theorie.

Wenn Peter Goldammer also behauptet: „Mit den „Sieben Legenden“ hat Gottfried Keller seinen spezifischen Beitrag geleistet in dem Prozess der Säkularisierung und Humanisierung der christlichen Mythologie, wie er durch die europäische Renaissance in Gang gesetzt worden war.“ - dann zeigt das bestenfalls, wie weit vom Text sich DDR-Literaturbetrachtung entfernte, um die Grundlinie der „Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen“ auch in der Literatur-Geschichte unbedingt zu bedienen. Fast kläglich nehmen sich neben der pompösen Beweisführung und der peinlichen Kosegarten-Vernichtung die Bemerkungen zu Kellers Legenden selbst aus. Die Goldammer durchaus gefallen, sehr gut sogar, wie man mit etwas Mühe schließen kann. Mal ist von unsäglicher Komik die Rede, mal ist etwas köstlich, auch großartig, das Vokabular des verhalten in seinen Rauschebart lachenden Ordinarius des neunzehnten Jahrhunderts klingt völlig unverfremdet durch. Und Gottfried Keller? Der schrieb an Emil Kuh (13. Dezember 1828 bis 30. Dezember 1876): „Möchten Ihnen diese 7 Legendchen nicht allzu abgelegen und absonderlich vorkommen. Sollen sie überhaupt etwas sein, so sind sie vielleicht ein kleiner Protest gegen die Despotie des Zeitgemäßen in der Wahl des Stoffes und eine Wahrung freier Bewegung in jeder Hinsicht.“

Sechs Wochen später, am 19. Mai 1872, meldete Keller an Friedrich Theodor Vischer (30. Juni 1807 bis 14. September 1887): „Mit den Legenden geht es mir seltsam; ich glaubte die Freiheit der Stoffwahl damit zu behaupten gegenüber dem Terrorismus des äußerlich Zeitgemäßen, immerhin aber eine deutliche gut protestantische Verspottung katholischer Mythologie zu begehen.“ Der Kritiker Julius Stiefel (1847 bis 1908) ist gemeint, wenn Keller gegenüber Vischer vermutet: „Es scheint überhaupt zuweilen, als ob die jungen Ästhetiker jetzt dozieren und schreiben, ehe sie lesen können...“. So mag denn an dieser Stelle der Ort für eine Stimme sein, deren Fähigkeit zu lesen bewundernswert ist. Es ist die Stimme von Ricarda Huch. In „Gottfried Keller“ (Insel-Bücherei 113) schrieb sie: „Die Blüte Kellerscher Dichtungen bilden die Sieben Legenden, goldene Früchte in silbernen Schalen, Traumgesichte von lebenstreuer Wahrheit, in denen Frömmigkeit und Schalkheit, Sinnenzauber und Engelreinheit absichtslos vereinigt sind wie im Gemüte eines Kindes. Man kann sie einer Kapelle vergleichen, durch deren schmale glühende Fenster Licht fällt und Farben malt, wo zwischen christlichen Figuren und Symbolen heidnische Schnörkel sprießen, groteske und anmutige, ein lachender, weltlicher Übermut, der nicht anders als wie ein Wohllaut mehr in den heiligen Zusammenklang des Gotteshauses hineintönt.“

Der ersten Legende mit dem Titel „Eugenia“ hat Gottfried Keller ein Motto aus dem fünften Buch Mose vorangestellt: „Ein Weib soll nichts Mannsgeräte tragen, und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.“ Nicht weit entfernt von dieser Stelle im 22. Kapitel findet sich die Maßgabe, wie mit Jungfrauen umzugehen ist, die sich als Nicht-Jungfrauen erweisen, wenn sich der verehrte Gatte zu ihnen legt. Sie sollen vor der Tür des Vaters von der Bürgern der Stadt zu Tode gesteinigt werden. Da sage noch einer, die Scharia hätte dergleichen erfunden. Eugenia aber, Eugenia ist ein sehr intelligentes und interessiertes Mädchen, dem Studium auch der schwierigsten Gegenstände sehr zugeneigt. Sie tritt immer mit den zwei Knaben im Gefolge auf, laut Keller in der Konstellation eines Dreiecks, sie leicht vorn, hinter ihr die beiden Begleiter, mit denen sie fortgesetzt redet. Sie ist nicht nur sehr klug und gebildet sondern auch sehr schön und sie wird immer schöner. Die beiden Knaben heißen Hyazinth, wie in der Heiligenlegende über die echte Eugenia nur einer von beiden, während der andere Protus hieß. Eugenia hat einen Vater, der ihr alles durchgehen lässt, einen solchen Vater gibt es später noch einmal in den „Sieben Legenden“.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Eugenia wird von einem Kirchengesang zum Christentum bekehrt, zieht in ein Kloster ein, wo sie rasch Karriere macht. Weil eine junge Witwe sich in sie, die im Mönchskloster unvermeidlich in Männergewandung auftritt, verliebt hat, aber mit ihren Verführungskünsten keinen Erfolg erzielt, sie verleumdet und der versuchten Vergewaltigung bezichtigt, muss sie sich dem Richter stellen. Der ist rein zufällig jener Prokonsul Aquilinus, der sie ohnehin liebt und den sie nächtens ertappte, wie er eine Bildsäule küsste, die die angeblich in den Himmel entrückte Eugenia zeigt. Es kommt zur heimlichen, später zur öffentlichen Ehe, die Verleumderin aber gesteht: „Die Wittib erblasste und verhüllte ihr Gesicht, wodurch sie genugsam ihr böses Gewissen zu erkennen gab.“ Das war lange, bevor Kameras in Gerichtssälen ganz oder teilweise zugelassen wurden, womit die verhüllende Anzeige bösen Gewissens aus der Geschichte verschwand und das Recht am eigenen Bild an ihre Stelle trat. Das Wort Wittib dagegen ist so schön altmodisch, dass es allein deswegen hier noch einmal wiederholt wird. Wie Eugenia zur Märtyrerin wird, erzählt Keller nicht mehr, dafür aber: „Ihre Fürsprache soll namentlich für träge Schülerinnen gut sein, die in ihren Studien zurückgeblieben sind.“ Mehr Ironie geht kaum, die Eugenia des Heiligen-Lexikons dagegen wird gegen Taubheit und Besessenheit angerufen.

Die zweite Legende heißt „Die Jungfrau und der Teufel“ und erzählt von dem Paar Gebizo und Bertrade. Gebizo spielt den real existierenden Ein-Personen-Sozialismus und gibt über lange Zeiträume mehr Geld aus als er einnimmt und hat, und zwar ausschließlich für gute Zwecke, was zu seiner vollständigen Verarmung führt. Da bietet ihm der Teufel einen Deal, auf den er eingeht: er will Bertrade im Tausch gegen dauerhafte finanzielle Sanierung des Gutmenschen Gebizo. Wenn der ein altes Buch aufschlägt und durchblättert, das er unter dem Kopfkissen seiner Gattin findet, kullern Dukaten heraus, die im Gegensatz zu sonst bekannten Dukaten aus hinteren Leibesöffnungen von Eseln geruchsneutral zu vermuten sind. Bertrade lässt sich vom Teufel wegführen, erbittet sich unterwegs aber eine kurzes Gebet in einer kleinen Kapelle, wo sie einschläft. Die Jungfrau steigt vom Altar, nimmt ihre Gestalt an und geht an ihrer Stelle mit dem Teufel. Den besiegt sie in einem kräftezehrenden Ringkampf und kehrt ermüdet und ermattet in ihre Kapelle zurück. Der schlimme Gebizo stürzt derweil in eine Schlucht und haucht sein Leben aus.

Als unmittelbare Fortsetzung ist die dritte Legende angelegt. Sie heißt „Die Jungfrau als Ritter“. Denn die verwitwete Bertrade ist eine begehrte und reiche Partie geworden, es wird ein Turnier veranstaltet, dessen Sieger sie zum Manne nehmen will, wenn es schon gar nicht anders geht. Auf einem kleinen armen Schloss lebt der Ritter Zendelwald, der eine Art Gottfried Keller zu sein scheint, er hat eine energische und köstliche Mutter, ist selbst eher ein unentschlossener Träumer, der alles in der Phantasie erlebt und damit schon fast zufrieden ist. Den könnte sich Bertrade durchaus vorstellen an ihrer Seite und dessen Gestalt nimmt die Jungfrau, abermals vom Altar steigend, an. Sie besiegt die beiden verbliebenen Ritter gerade noch rechtzeitig, beide sind höchst komische Figuren, mit Zwirbelbart der eine, mit ellenlangem Nasenhaar der andere. Zendelwalds Mutter ist eine, die schon mal das Dach ihres Schlossturmes eigenhändig deckt, wenn sie sich langweilt und nicht gerade auf der Jagd ist. Liebhaber besonderer Frauengestalten bei Gottfried Keller dürfen sich diese alte Dame ganz oben in ihrem Notizblock vermerken.

Kinder gibt es für Bertrade in der ersten wie auch in der zweiten Ehe nicht. Dafür offenbar tolle Liebesnächte im Turm mit dem neuen Dach, wenn das Paar einmal das große mit dem kleinen Schloss vertauscht. Gleich acht Söhne zum Ausgleich werden in der vierten Legende gezeugt und geboren, Mutter ist eine Nonne, deren Sehnsucht nach dem Leben sie aus dem Kloster gehen lässt, Vater ein Ritter mit dem sprechenden Namen Wonnebold. Die Jungfrau nimmt abermals eine andere Gestalt an, diesmal die der Nonne, verrichtet deren Dienste im Kloster, so dass deren Abwesenheit gar nicht weiter auffällt. Eine so dreifach sich verwandelnde Jungfrau und Mutter Gottes mag den einen oder anderen Blasphemie-Verdacht schon erregt haben, doch immer tut sie ja Gutes, sie hilft in Nöten und Not und sie verzeiht und versteht. Das liegt wiederum nicht ganz außerhalb ihres angestammten Berufsfeldes. Das Motto für diese Legende ist den Psalmen entnommen und lautet: „Wer gibt mir Taubenflügel, dass ich auffliege und Ruhe finde.“ Die acht Söhne übrigens werden vom greisen Vater dem Reichsheere zugeführt, Pazifismus galt noch nicht.

„Der schlimm-heilige Vitalis“ ist Held der fünften Legende, wir dürfen ihn uns als eine Art frühen Offizier der Heilsarmee im achten Jahrhundert nach Christus vorstellen, der gefallene Mädchen zurück auf den Pfad der Tugend führen will. Um sein Ziel zu erreichen, nimmt er den denkbar schlechtesten Ruf in Kauf, in seinem Kloster wie auch in der Stadt gilt er als Wüstling in Mönchskutte. Wer ein wenig mit Gottfried Kellers Leben vertraut ist, mag in dem fast verzweifelten Ringen des Mönches um eine besonders große und staatliche Kurtisane des Meisters unglücklichen Hang zu großen und stattlichen Frauen erkennen, der ihm manche Entsagungskunst abverlangte. Eine kleine und zierliche, dafür aber sehr tatkräftige und energische junge Dame schafft es dann, den Mönch in einen Ehemann zu verwandeln. Sie ist es, die den zweiten sehr nachgiebigen Vater des Buches hat, Voraussetzung für seine Großzügigkeit ist freilich sein Reichtum, auch hilft sein Interesse für Platon, dass er sich nicht allzu heftig um die Profanitäten des Alltages kümmert. Die schöne und kluge Jole erreicht, was sie will und als kleine Episode mittendrin gibt es ein altes Marmorbild der Göttin Juno, das zum Marienbild umfunktioniert wurde, weil es schade gewesen wäre um das schöne heidnische Kunstwerk.

Die sechste Legende „Dorotheas Blumenkörbchen“ ist am nächsten dran an den originalen Märtyrergeschichten, sie spart selbst die ganze Grausamkeit der Christenverfolgungen nicht aus und bezieht sogar das Leben nach dem Tode beider Hauptfiguren mit ein. Mit dem „Tanzlegendchen“ als Abschluss und Finale hat sich Keller schließlich eine Möglichkeit aufgespart, weit über die christliche Überlieferung hinaus in die griechische Mythologie auszugreifen, er lässt die Jungfrau zwanglos und interessiert mit den neun Musen plaudern, die zu den hohen christlichen Festtagen die Ehre haben, die Hölle verlassen zu dürfen, um ihre Dienste im Himmel zu verrichten. Die Jungfrau möchte alle am liebsten immer oben behalten, die Musen aber vermasseln alles, als sie unten einen Lobgesang einstudieren, der oben eine völlig andere Tonlage gewinnt und alle Himmelsbewohner nachhaltig verstört und irritiert. Die heilige Trinität höchstselbst verfügt die endgültige Verbannung der Musen. Der letzte Satz der „Sieben Legenden“ lautet: „Da kehrten Ruhe und Gleichmut in den Himmel zurück; aber die armen neun Schwestern mussten ihn verlassen und durften ihn seither nicht wieder betreten.“ Gottfried Keller hat sich tatsächlich gegen den Terrorismus der äußeren Zeitgemäßheit zur Wehr gesetzt, das will mir heute doch wieder sehr zeitgemäß erscheinen.


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