Walter Muschg: Die Schweiz als Ärgernis
Werner Weber, der erste Schweizer Professor für Literaturkritik, schrieb aus Anlass des Todes von Walter Muschg am 6. Dezember 1965 einen Nachruf für die Hamburger ZEIT. Der von geradezu demonstrativer Sachlichkeit geprägte Text endet so: „Es gibt bei Muschg keine Meinung, keine Erkenntnis, in der nicht der leidenschaftliche Wille zum Entschiedenen die Sprache bewegte. Sein Temperament war nicht auf Einnehmen gerichtet, sondern auf Stoßen und Anstoßen. Und so hat er alle bewegt.“ Sätze der Liebe und Verehrung hätten anders geklungen, in den vier Sammelbänden Webers, die ich zur Kontrolle heranzog, fand sich dieser Nachruf nicht. Erst die Neuherausgabe seiner „Tragischen Literaturgeschichte“ und bald darauf auch der voluminösen „Zerstörung der deutschen Literatur“ brachten den am 21. Mai 1898 in Witikon/Zürich geborenen Muschg wieder ins Gespräch. In Wortmeldungen dazu taucht verdächtig oft das Wort Polemiker auf, auch Hans-Peter Kunisch hob es für die ZEIT vom 20. Mai 2010 sogar in die Titelzeile „Polemiker mit Charakterkopf“. Man ahnt, dass hinter solcher Überschrift die stille Überzeugung steht, Polemik sei mit Charakterköpfen eher unvereinbar. Unter Ordinarien ist normalerweise die Fußnote schon ein Schlachtfeld, das der Würdenträger nur mit spitzen Füßen betritt. Polemik gilt in diesen Kreisen als unseriös, womit sich Walter Muschg urplötzlich in eine seltsame Ecke gestellt findet.
In seinem Todesjahr 1965 ließ sich der Professor von einem Journalisten interviewen, den Wikipedia mit mehr Recht als Schweizer Filmregisseur führt: Alexander J. Seiler, am 6. August 1928 in Zürich geboren und seit 2008 auch mit einem Buch am Markt vertreten, vermutlich die Geburtstagsgabe zum 80. des Jubilars, mit dem Titel „Daneben geschrieben. 1958 – 2007“. Seiler sprach zunächst nicht den Literaturhistoriker an, sondern den Politiker, der Muschg für ein paar Jahre auch exponiert gewesen ist. Er gehörte dem Nationalrat der Schweiz als Mitglied der Fraktion LdU (Landesring der Unabhängigen) vom 3. Dezember 1939 bis zum 5. Dezember 1943 an. Den Landesring gründete 1935 Gottlieb Duttweiler, der Gründer der noch heute in der Schweiz allgegenwärtigen Migros und elf Jahre lang Parteivorsitzender. 1939 errang der Landesring neun Sitze im Nationalrat, von 1951 bis 1975 eroberte er zwischen zehn und maximal 16 Sitzen, 1999 war dann mit einem Sitz der finale Tiefpunkt erreicht. Das rückblickende Fazit Walter Muschgs lautete: „Mein Eindruck war: In einem Parlament kommt es nicht mehr auf die Persönlichkeiten an, die ihm angehören, sondern auf das Feld des politischen Schachbretts, auf dem der einzelne Parlamentarier steht. … Ein Einzelgänger, hinter dem keine mächtigen Gruppeninteressen stehen, hat kaum mehr Aussicht, etwas durchzusetzen.“
Seine Interview-Antworten haben nicht nur an dieser Stelle ein wenig den Ton, als wäre just das früher besser gewesen, in Summe gar fast alles. So liest sich, was er bestimmten Entwicklungen anlastet, aus dem Abstand der Jahre als fast rührend naiv: „Das Verkehrschaos ist in erster Linie nicht ein technisches, sondern ein moralisches Problem. Der Benzinmotor übt eine verheerende Wirkung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Man wird als Automobilist – ich bin selber einer – ein schlechterer Mensch.“ Es war das eine kulturkritische Zeitstimmung und mehr, es hatte Intention und fast unabhängig davon auch Funktion. Dergleichen nachlesbare Rückführungen gesellschaftlicher Phänomene auf rein technische Entwicklungen wurden im Dunstkreis des Marxismus-Leninismus und aus Sicht des Dialektischen Materialismus als kaum müde zu belächelnde Irrtümer gesehen, bestenfalls ahnungslos und unabsichtlich die Verwirrungsstrategien der Bourgeoisie bedienend, Volk und Arbeiterklasse von den tatsächlichen Zusammenhängen abzulenken. Vorwürfe dieser Art hätte Muschg womöglich gar nicht verstanden, machen konnte man sie ihm. Doch war natürlich nicht die Moral des Benzinmotors sein Thema, auch wenn er vielleicht einer der letzten war, der sich selbst Automobilist nannte.
Schon eher dies: „Auch die Schweiz lebt in einer solchen, nämlich in der Fiktion, dass sie aus eigenem Verdienst, dank ihrer vorbildlichen Eigenschaften im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sei. Wir haben uns über manches schwerwiegende Versagen gegenüber der Diktatur – z. B. in der Flüchtlingsfrage – nie ehrlich Rechenschaft gegeben. Es besteht ein grotesker Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und den patriotischen Phrasen, mit denen wir diese Wirklichkeit dekorieren.“ Der letzte Satz liest sich fast wie ein Kommentar zu Max Frisch und seinem Stück „Andorra“, in dem vor allem der Doktor solche Phrasen absondert. Und an die eigene Aktivität im Nationalrat ist erinnert. Dort nämlich versuchte Walter Muschg, gegen die rigide Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Weltkrieges vorzugehen. Heute würde ihn das in weiten Kreisen außerhalb der Schweiz zur politischen Ikone machen, die weiten Kreise müssten halt nur seinen Namen wenigstens schon einmal gehört haben. Die Verschonung der Schweiz ist für Frisch, für Dürrenmatt ein sie auch existentiell betreffendes Thema gewesen, Muschg belegt das mit seiner Sicht auf die Dinge nachdrücklich. Die Schweiz stehe „in großer Gefahr, ihr Gesicht zu verlieren. Auch sie ist ein unmenschliches Land geworden, auch sie hat die Freiheit um materieller Vorteile willen verraten.“ Seine Diagnose ist schonungslos.
„Wir hatten 1945 eine einzigartige Chance. Wir hätten eine wirkliche Hochburg der Freiheit werden können. In Wahrheit sind wir heute fast so unfrei wie die Länder um uns. Wir sind eine Hochburg des Materialismus und des Weltkapitalismus geworden, ein einbruchsicherer Banktresor und ein Paradies der Spekulanten. Um den Entwicklungen gewachsen zu sein, müssten wir aus einem geistigen Reservoir schöpfen können. Die Schweiz strahlt heute keine Idee mehr aus.“ Natürlich ist der Materialismus die falsche Adresse, Frisch in seinem „Andorra“ hat das wie andere auch auf der Bühne und zwischen Buchdeckeln vorgeführt. Die Frage wäre zu beantworten, welche Idee die Schweiz denn ausstrahlen könnte: die des Rütli-Schwurs in Schillers Text-Fassung? Was ist eine Hochburg der Freiheit? Stehen auf ihren Zinnen Fanfarenbläser, um anderen, die auch Schweizer Freiheit haben wollen, den Abmarsch zu blasen? „Ich halte es für dringend notwendig, dass unserem Volk die Augen für die Realitäten geöffnet werden, in denen wir leben. Selbstkritik ist unsere wichtigste Aufgabe – in besseren Zeiten hat es sie in der Schweiz immer gegeben. Heute wird jeder, der Kritik übt, als Kommunist verdächtigt.“ Im Jahr seines Ablebens erlebt Muschg noch die Kampagne gegen Walter Matthias Diggelmanns Roman „Die Hinterlassenschaft“. So viel Selbstkritik wollte dann nicht nur die offizielle Schweiz doch wieder nicht.
Muschg bescheinigte seinen Landsleuten im Interview den Schwund von Nationalbewusstsein und ging so weit zu sagen: „Noch zwanzig Jahre so weiter, und wir sind kein Volk mehr.“ Er berief sich auf den Züricher Dichter und Maler Heinrich Füssli (7. Februar 1741 bis 16. April 1825), der 200 Jahre zuvor gesagt hatte: „Auch heute gilt aber: in dem Moment, wo die Schweiz gleich aussieht wie die andern Länder, ist sie in ihrer Existenz bedroht. Unser Kleinstaat kann sich die Verpöbelung einfach nicht leisten.“ Das wäre heute kaum noch sagbar, schon das Gemeinte zu erörtern, muss als schwierig gelten. Denn heute gilt nicht einmal mehr als gesichert, dass eine nationale Identität in einer aktuellen europäischen (und wohl auch außereuropäischen) Wertehierarchie überhaupt einen Platz zu beanspruchen hat. Technikfeindlichkeit, Vermassung, das sind bei Muschg natürlich Stichworte der Zeit, die heute eben noch so in Ideologiegeschichten ein Schattendasein fristen. „In mancher Hinsicht haben wir bereits eine Form der Scheindemokratie: Abstimmungen werden gesteuert, oder die eigentlichen Entscheidungen sind schon vor der Abstimmung gefallen oder der Volkswille wird nachträglich manipuliert.“ Diese Ähnlichkeit mit den Musterknaben der Globalisierung hat, wir wissen, sehen und erleben es, die Existenz der Schweiz nicht gefährdet. Die Zahl der Illusionen über sich selbst erlebt vielleicht eben deshalb Stabilisierungsschübe.
„Im öffentlichen Leben hat gerade der große Aufschwung unserer Wirtschaft dazu geführt, dass heute vielfach subalterne Funktionäre unsere Politik machen, die es in der Privatindustrie kaum je auf einen grünen Zweig brächten. Die bedeutenden Politiker sind auch bei uns rar geworden.“ Diesem Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität und politischem Mittelmaß könnte man stundenlang nachsinnen. In Deutschland kennen wir das Rechtfertigungsargument von Politikern mit Selbstbedienungsmentalität aus gelegentlichen Äußerungen: die Einkommen in der freien Wirtschaft – als ob die ihnen beliebig offenstünden in marktwirtschaftlicher Wahlfreiheit. „Es ist dieselbe Tendenz wie in den totalitären Staaten. Der selbständig denkende, originelle junge Mensch hat es auch bei uns schwer, ja schwerer als in den westlichen Ländern. Selbständige Menschen sind immer unbequem, weil sie in keine Norm passen.“ Zur Literatur musste Walter Muschg in diesem Gespräch weniger sagen, aber: „Wir fördern in Kunst und Wissenschaft den Durchschnitt und vertreiben die Außerordentlichen ins Ausland; erst wenn sie einen großen Namen haben, renommieren wir mit ihnen. So sind wir literarisch heute Provinz, trotz einiger großer Autoren.“ Ausdrücklich ging es um Frisch und Dürrenmatt, deren deutscher Ruhm erst sie zu Hause salonfähig machte.
War das 1965 Schwarzseherei? Auf Alexander J. Seilers dies bezüglichen Fragepunkt antwortete Walter Muschg mit Theodor Fontane: „Ich sehe nicht schwarz, ich sehe nur.“ Und erklärte seine Sichtweise durchaus provokant: „Übrigens; man spricht nur von einer Sache pessimistisch, die man liebt – aus dem Bedürfnis, den Gegenstand seiner Liebe ohne entstellende Flecken zu sehen.“ So viel Liebe wollte ein kleines Land wie die DDR beispielsweise, die nicht wenigen Schweizer Schriftstellern zu Auflagen verhalf, die sie zu Hause nie erreicht hätten, für den erwähnten Walter Matthias Diggelmann wurde sie fast zu einer zweiten geistigen Heimat, bei sich selbst und für sich selbst nicht. Pessimismus war deshalb eine Art immaterielles Staatsverbrechen, obwohl selbst die hauseigene Satiretheorie den inneren Motor der Satiriker so sah, als hätte sie Walter Muschg gelesen. Julian Schütt zitierte in der „Weltwoche“ 2006 Adolf Muschg, den 36 Jahre jüngeren Halbbruder: „Man müsste Walter Muschg als Schriftsteller entdecken. Leider aber pflegen die professionellen Entdecker von Dichtern Germanisten zu sein, und die nehmen Walter Muschg höchstens als ihresgleichen wahr. Statt eine Konditorei zu führen, hatte er bereits gebackene Brötchen auszuteilen.“ Vielleicht greifen ja doch mal ein paar Nicht-Germanisten zu.