Fritz Strich gratuliert Hermann Hesse zum 70.

Ob Fritz Strich tatsächlich ein seraphischer Verkünder war, wie Rainer Rosenberg meinte, als er vor mehr als dreißig Jahren vom marxistisch-leninistischen Standpunkt der bürgerlichen Germanistik mit dem Turniersäbel den Scheitel zog, soll und kann nicht Gegenstand dieser Zeilen sein. Der über Jahre mit eher vulgärsoziolgischen Literaturdeutungen Aufgewachsene hat ohnehin nur normale Überfütterungssymptome, wenn er sich nach aller Klassenanalyse, aller Optimismusdoktrin, aller Wahrheitspächterrhetorik nach dem nur Anderen sehnt, also nahezu unbesehen in Ideengeschichte, Geistesgeschichte, philosophischer Anthropologie - oder was immer eben daherkommt - gründelt, und Funde freudig befühlt, weil sie beispielsweise aus Bern kommen und in Ganzleinen noch dazu. Ob und wie Fritz Strich, der 1882 geborene Königsberger, mit Oskar Walzel und Heinrich Wölfflin zu verbinden war und wäre, ist heute hier nicht von Bedeutung.

Verblüffender ist die Erkenntnis, dass Fritz Strich wohl im neunzehnten Band des Lexikons deutsch-jüdischer Autoren Berücksichtigung fand (Berlin 2012), nicht aber in Nachschlagewerken und Überblicksdarstellungen, die eher eine Chance hatten und haben, einem breiteren Publikum in die Hände zu fallen, also kein Wort bei Hans Schütz, bei Andreas Kilcher, bei  Grimm/Bayerdörfer, bei Willi Jasper, Hanjo Kesting. Der Verdacht, der Hinweis darauf, dass die Berufung Strichs nach Bern im Jahr 1929 ihn der späteren Judenverfolgung im Deutschen Reich entzog, könnte vielleicht zu den leider nicht seltenen WIKIPEDIA-Aussagen gehören, die mit Vorsicht zu genießen wären, war also nicht schon automatisch von der Hand zu weisen. Killy-Autor Holger Dainat jedenfalls hat auch keinerlei Hinweis in die Richtung und so lassen wir es damit bewenden. Strich war Strich.

Hier spielt er heute vor allem deshalb eine kleine Rolle, weil er vor genau 50 Jahren in Bern starb. Er starb als geachteter Mann, als mehrfach Ausgezeichneter, als Goethe-Experte, als Schiller-Biograph und Herausgeber einer zwölfbändigen Schiller-Ausgabe, der zu Franz Grillparzer promovierte, zur „Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner“ sich habilitierte (von beiden Arbeiten gibt es Neudrucke), auch Heine und Wedekind herausgab und später manchen eindrucksvollen Vortrag hielt, von denen viele gesammelt sind in den Bänden „Der Dichter und die Zeit“ und „Kunst und Leben“. Die großformatigen Bände des A. Francke Verlags Bern nehme ich nicht nur gern in die Hand, ich nutze sie auch immer wieder bei sich bietender Gelegenheit. Zu ihnen gehören außerdem „Goethe und die Weltliteratur“ sowie „Deutsche Klassik und Romantik“. 1947 aber veranstaltete die Berner Freistudentenschaft eine Feier zu Hermann Hesses 70. Geburtstag. Sie begann mit einem Mozart-Quartett und endete mit Liedern Hesses in Vertonungen von Othmar Schoeck, mit dem Hesse befreundet war. Die Festrede hielt Fritz Strich.

Hesse war 1947 nicht mehr der Hesse, dem Thomas Mann 1937 zum sechzigsten Geburtstag gewünscht hatte, er möge doch nun endlich den Nobelpreis bekommen. Jetzt hatte er ihn, jetzt war das Entgegennehmen des Preises keine Provokation gegen Hitler mehr, wie sie es 1937 oder später nach dem Friedens-Nobelpreis für Carl von Ossietzky bei den Machthabern des Deutschen Reiches gewesen wäre. Jetzt war es sogar doppelt gut, dass Hesse formell und juristisch ein Schweizer war. Zum 70. Geburtstag gratulierte erneut Thomas Mann, abermals in der Neuen Zürcher Zeitung wie schon zehn Jahre zuvor, es gratulierte auch Oskar Maria Graf, um nur zwei der sich zu Hesse Bekennenden zu nennen. „So möcht ich noch einmal erschauern wie damals beim „Demian““, ließ Graf verlauten. Thomas Mann, ein Thomas Mann darf das, zitierte sich 1947 teilweise selbst. Fast scheint es, als hätte sein Enthusiasmus bezüglich des Freundes etwas nachgelassen, der zehn Jahre zuvor noch mit größtem Nachdruck in Hesse einen der frühesten Kafka-Entdecker gefeiert hatte.

Fritz Strich aber, reichlich fünf Jahre jünger als Hesse, kam nach der Anknüpfung an Mozart rasch zu einem Bekenntnis: „Gleichzeitig aber muß ich daran denken, wie jedes Werk Hermann Hesses seit dem Peter Camenzind und Demian meine ganze Generation aufgewühlt und erschüttert hat, wie jeder von uns empfand, daß seine eigenen Gedanken, die im eigenen Munde stumm geblieben waren, durch ihn Sprache fanden; und ist es heute anders? Welch seltsames Phänomen! Ein Dichter fühlt sich in eisiger Einsamkeit, und es lauscht ihm die Welt.“ Auch Fritz Strich kommt auf Thomas Mann zu sprechen und dessen Bestimmung des Wesens des Dichters: „Der, dessen Leben symbolisch ist, der nur von sich selbst zu sprechen braucht, und er spricht, ob er will oder nicht, im Namen seiner Zeit, der Allgemeinheit.“ Es ist keineswegs seraphisch, wenn Strich zu Hesse meint: „Er spricht von uns, indem er von sich selber spricht, und es gibt wohl kaum einen Dichter, der mit solcher Ausschließlichkeit von sich selbst und mit sich selber redet.“

Besondere Aufmerksamkeit widmete Fritz Strich einer 1920 erschienenen Arbeit Hesses, die den Titel „Blick ins Chaos“ trug und sich mit Dostojewski befasste. „Aber er sieht die innere Notwendigkeit eines Weltuntergangs, denn nur durch ihn hindurch kann eine neue Welt beginnen.“ Von unantastbarer Richtigkeit scheint Strich Hesses Dostojewski-Bild zu sein, das sollte man vorsichtiger formulieren. Vor allem aber will er, 1947 sicher von großer Wichtigkeit, Hesse von Dostojewski absetzen: „Sein Lebenswerk ist wie eine magische Bannung des Chaos.“ „Er fühlt sich nicht der Wirklichkeit verpflichtet; aber der Wahrheit bleibt er immer treu.“ Hesses „Glasperlenspiel“ konnte anlässlich seines siebzigsten Geburtstages schon thematisiert werden, Thomas Mann tat es mit unvermeidlicher Spitze, Fritz Strich das Buch als Summa betrachtend.

Hesses „Dank an Goethe“, nachzulesen beispielsweise in einem gleichnamigen Insel-Taschenbuch aus dem Jahr 1999, zeigt Fritz Strich, „wie tief er dem idealen Humanismus Weimars und seiner universalen Kultur verpflichtet ist.“ Hesse begann seinen Dank scheinbar völlig eindeutig: „Unter allen deutschen Dichtern ist Goethe derjenige, dem ich am meisten verdanke, der mich am meisten beschäftigt, bedrängt, ermuntert, zu Nachfolge oder Widerspruch gezwungen hat.“ Und etwas später: „Eben dies war das Wunderliche, Schöne und auch Quälende: man kam nicht los von ihm, man mußte seine Anläufe mitlaufen, seine Mißerfolge mitleiden, seine Zwiespältigkeiten in sich selber wiederfinden!“ Fritz Strich hat vor den Berner Studenten wohl vor allem genau so etwas als das Wesentliche herausheben wollen. „Dank an Hermann Hesse“ ist seine Rede überschrieben.

PS: Schon 1913 hatte Hesse keinerlei Bedenken, auf die Schiller-Biographie von Fritz Strich freundlich hinzuweisen, noch ehe er sie selbst lesen konnte. Im September 1925 lobte Hesse aus eigener Textkenntnis Strichs Buch“Deutsche Klassik und Romantik“: „Reinlicher kann auf diesem Gebiet zur Zeit wohl keiner definieren und abgrenzen. Bleibt nur zu beachten, daß Klassik und Romantik zwar reine Begriffe, aber eben auch wieder nur Begriffe sind, keine Realitäten, und daß die schönsten Früchte deutscher Dichtung doch wohl eben jene sind, in denen romantische und klassische Herkünfte sich die Waage halten, man denke an Hölderlin oder an den zweiten Teil des „Faust“. Gut zwei Jahre nach der öffentlichen Geburtstagsgratulation Strichs für Hesse in Bern hielt Hesse fest: „Wenn ein gelehrter Goethekenner heute ein Werk über Goethe schreibt, so erhoffe ich mir davon vor allem einen neuen Schritt in der Einordnung Goethes in die Geschichte, ein Aufzeigen seiner Wirkungen und Nachwirkungen. Über dies Thema gibt es nun zwei Bücher, die mir besonders interessant und gehaltvoll erscheinen: Fritz Strichs „Goethe und die Weltliteratur“ und Reinhard Buchwalds „Goethezeit und Gegenwart“.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround