Tagebuch

5. Februar 2021

Diesen Donnerstag werde ich so schnell nicht vergessen: erst meine Notbremse am PC, dann sofort Anruf bei der Polizei, wir sitzen eine Stunde im Warteraum insgesamt, ich gehe mit Formularen, die ich zu Hause ausfüllen darf, soll den Tatverlauf möglichst detailliert schildern. Zum Glück habe ich alle Telefonnummern aufgeschrieben, die mein gutes altes Festnetztelefon brav speicherte. Die mit deutscher Vorwahl waren alle ungültig, wie ein Proberückruf sofort ergab. Heute Abgabe der aller Papiere. Ich ging zu Fuß in die Stadt und zurück, das Ergebnis: ein Schrittrekord im neuen Jahr. Während wir in der Polizei-Inspektion saßen, gab es gestern zwei weitere Kontaktversuche. Alle meine Pläne sind erst einmal hinfällig, ich habe keinen Zugang zu meinen Dateien, weil der PC durchsucht wird auf Software, die den Zugriff ermöglichte. Im schlimmsten Fall habe ich Jahre umsonst gearbeitet, weil alle Texte nicht mehr zugänglich sind. Tag 2 des großen Passwort-Änderns.

4. Februar 2021

Wir sitzen beim Frühstück, als die Sparkasse anfragt, ob ich gestern Online-Überweisungen getätigt hätte. Ich habe. Der Grund der Nachfrage ist mehr als verblüffend: die Überweisungen an drei deutsche Antiquariate seien nicht freigegeben worden, weil sie offenbar in England ausgelöst wurden. Natürlich habe ich nicht die geringste Ahnung, wie das möglich ist, es sind auf alle Fälle meine Überweisungen, an meinem PC getätigt. Keine zwei Stunden später, ich habe meinen PC noch nicht wieder genutzt, weil ich noch zwei kurze Sachen lesen will, ehe ich meinen Text zu Glausers 125. Geburtstag beginne, startet ein knapp zweistündiger Gruseltrip in die Welt der hoch organisierten, perfektionierten und bestens geschulten Internet-Kriminalität. Ich falle auf einen vermeintlichen Mitarbeiter von Microsoft herein, der mir helfen will, die von ihm oder seinen Kumpanen selbst erzeugten Fehlleistungen meines PC zu beseitigen. Rettung in letzter Sekunde.

3. Februar 2021

Der dreizehnte Tag in Folge mit 7.000 und mehr Schritten. Wir sehen Licht in einer oberen Hausetage, wo früher nie Licht zu sehen war, wir sehen einen Weihnachtsbaum, der bis in diesen Februar hinein leuchtet. Wir wetten, ob die Hunde bellen, wenn wir unterhalb des Tierheims vorbeikommen, denn einer bellt so krank und heiser, dass man ihn am liebsten heiße Zitrone mit Honig schlecken lassen würde. Zwischen den Garagen fast immer die eine oder andere Person, vor vielen sieht man keinerlei Spur im Schnee, wenn Schnee liegt. Wir schauen am Abend einen uralten „Wilsberg“ im sicheren Wissen, ihn nicht zu kennen, weil wir früher nie „Wilsberg“ sahen. Am Abend neue Probleme: Es dauert ewig, bis ich ein paar Überweisungen tätigen kann, es dauert ewig, bis ich ein paar Mails löschen kann von Absendern, deren Botschaften seit ewigen Zeiten ungelesen bleiben. Morgen nicht weniger als vier Jubiläen, drei muss ich sausen lassen, nur Glauser bleibt.

2. Februar 2021

Ich habe ein Luftpolster für Friedrich Glauser, eine Idee auch, was ich wie zu ihm schreiben werde. Sogar das schmale Büchlein mit kurzen Texten von Glauser-Preisträgern wird einen kleinen Dienst erweisen dürfen. Die gestern nicht mehr eingetroffene Mail mit der Bestätigung für meinen Zugang zu E-Mail-Account Nummer 2 ist heute endlich da, nun funktioniert auch das, ich bin erleichtert. Bei Outlook läuft trotzdem alles weiterhin ein und muss eigens gelöscht werden, daran will ich mich gewöhnen, wenn weiter nichts bleibt als eben Löscharbeiten. Unser Vorrat an aufgenommenen Filmen muss heute herhalten, der Bedarf an Pokalspielen von Stuttgart und Mönchengladbach hält sich in zu engen Grenzen. Ein Versuch, einen Anfang bei Thomas Bernhard zu lesen, scheitert an der Art seiner Sätze. Mir wird klar, welcher Tortur sich Reich-Ranicki unterzog, falls er wirklich das alles las, was er da kritisierte. Ich nehme ja nur sein Buch her, nicht das, was er im Detail besprach.

1. Februar 2021

Zwei Tage ohne unmittelbare Pflicht beginnen heute, ich kann mich dem Abschied vom Outlook widmen. Fall 1 dauert keine fünf Minuten, alles ist neu installiert, alles funktioniert. Ich nehme mir den vierten der Aufsätze von Marcel-Reich-Ranicki über Thomas Bernhard vor, es scheint als ob sich die Monotonien des Österreichers in Monotonien seines Kritikers umsetzen, dessen Vorliebe für diverse Paradoxien ich längst kenne. „Denn wer diese unvergleichliche Prosa hasst, ohne sie auch zu lieben“, so steht es da, „der hat sie nicht begriffen. Und wer sie liebt, ohne sie auch zu hassen, der hat sie unterschätzt.“ Warum fallen mir „Des Kaisers neue Kleider ein“, die nur ein Kind als gar nicht vorhanden erkennen konnte im tiefsinnigen Märchen? Fall 2 der Neuinstallation erweist sich als mittlere Katastrophenübung: es dauert ewig, bis ich endlich auf direktem Weg an meine Mails komme, es erfordert eine unfassbare Menge von Vorleistungen und Legitimationen.

31. Januar 2021

Vor 60 Jahren starb Dorothy Thompson, deren Sammlung antifaschistischer Publizistik aus den Jahren 1932 bis 1942, 1988 unter dem Titel „Kassandra spricht“ bei Gustav Kiepenheuer Leipzig und Weimar erschienen, ich vor gut einem Jahr zu lesen begann. Ein Lesezeichen steckt vor ihrem Beitrag zum Tod von Ernst Toller, ein zweites vor „Ich sah Hitler!“ Damit ich es nicht vergesse, klebte ich vor Jahresfrist ein Zettelchen ins Buch mit dem Hinweis auf „Die Geschichte von Dorothy Thompson“, die in Carl Zuckmayers Buch „Aufruf zum Leben“ zu finden ist. Auch hier übe ich Verzicht wie seinerzeit Samson in der „Sesamstraße“ auf dringendes Anraten des Herrn von Bödefeld, nur will in meinem Fall niemand meinen Pudding selbst essen. Mit Kurt Marti bin ich spät, aber nicht zu spät fertig geworden. Nach Christian Ulmen auf der Verlustliste des „Tatort“ geht mit dem heutigen Sonntag auch Maria Simon im „Polizeiruf 110“ von Bord. Wir sahen beide gern.

30. Januar 2021

Nachdem ich gestern die „Leichenreden“ von Kurt Marti zu Ende las, folgt heute das Buch über die Schriftsteller der Schweiz als siebenter und letzter Titel des Monats ins große Register. So bin ich gewappnet für den morgigen 100. Geburtstag, es wird sich schreiben lassen. Dass ich auch gern über Hans Erich Nossack geschrieben hätte, der schon viel zu lange auf meiner langen Privatbank sitzt, ohne direkt geschoben zu werden, ist eine Fußnote. Wie es morgen die nur einen einzigen Tag jüngere Marie Luise Kaschnitz sein wird. Alles geht nicht, schon gar nicht, wenn es Jubiläen regnet. Ich werde mich hinfort dem offenbar immer anfälliger werdenden Microsoft Outlook entziehen, die Jagd nach irgendwelchen Add-Ins, die eventuell im Wege stehen, nervt, wenn ohnehin Zeitdruck da ist. Der nicht dadurch geringer wird, dass es hausgemachter Zeitdruck ist. Wenn ich mit Kurt Marti fertig bin, geht es los, ich muss mich mit der Vergabe neuer Passwörter direkt zum Ziel bewegen.

29. Januar 2021

Am 29. Januar 1956 gab es im Schauspielhaus Zürich die Uraufführung von „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. Ich sah das Stück zuerst am 26. November 2011 in Rudolstadt, anderthalb Jahre später noch einmal im Berliner Maxim-Gorki-Theater, ehe das Haus seine vom Feuilleton begeistert gefeierte Transformation ins Postmigrantische erlebte. Edgar Selge, seine Frau Franziska Walser und viele andere verließen damals das Haus, in dem ich auch meine erste und einzige Lesung mit Günter Kunert erlebte. Man muss türkische Fassungen von Tschechow mögen, ich gehöre nicht zum Fanblock solcher Übungen. Als alter weißer Mann mit polnischer Großmutter bin ich die falsche Zielgruppe. Ich frage sofort, wenn ich von Schüler*innen höre, wie es mit den Schülern außen steht und ob sich die Zahl der in einer Hauptnachrichten-Sendung möglichen Worte durch Sternchen-sprechende Moderator*innen spürbar verringert, weniger Text geschrieben wird.

28. Januar 2021

Was für eine Überraschung: die „Leichenreden“ des Schweizers Kurt Marti, der 96 Jahre alt wurde, sind ein Büchlein, das mich sehr berührt und bewegt. Der evangelische Pastor aus Bern zitiert den katholischen Engländer Gilbert Keith Chesterton mit dem schönen Satz: „Die Rätsel Gottes sind befriedigender als die Lösungen der Menschen.“ Er zitiert Jakob van Hoddis, den Lyriker, der das berühmteste Gedicht des deutschen Expressionismus schrieb, mit diesem noch viel schöneren Satz: „Ein feiner Mensch liebt nicht den lauten Mumpitz.“ Was nicht zwingend den Umkehrschluss erlaubt, dass ein feiner Mensch sei, der keinen Mumpitz liebe, gleich in welcher Lautstärke. In der Literatur ginge es immer nur um Liebe oder Tod, sagte einst sinngemäß Marcel Reich-Ranicki, der Rest sei Mumpitz. Vermutlich muss man das Wort heute schon der Hamburger ZEIT melden für ihre Rubrik mit den vergessenen Wörtern. Vor 140 Jahren wurde Siegfried Jacobsohn geboren.

27. Januar 2021

Ein Tag ohne Eintrag im Arbeitskalender. Unter dem Druck, auf Termine zuzuschreiben, die ich mir selbst stelle, geht manches gut, manches nicht. Letztlich beweisen die Reaktionen auf das, was ich ins Netz stelle, dass die wichtigeren von ihnen vom Veröffentlichungstag gar keine Notiz nehmen. Die Erklärung ist einfach: ich werde nicht als Tageszeitung gelesen, selbst wenn die Tageszeitungen sich Gegenständen widmen, die ich auch aufgreife, zum Teil allein und als einziger, zum Teil im Kleinchor der Stimmen. Vor ein paar Jahren hatte ich einmal die Idee, mich als Redner zu versuchen, wenn am 27. Januar auf dem Wetzlarer Platz der Auschwitz-Befreiung gedacht wird. Mir geht regelmäßig das Wenige durch den Kopf, das mein Vater erzählte, immer kam rasch der Zweifel, ob das schon oder überhaupt erzählbar wäre. So lese ich lieber weiter in Kurt Martis „Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz“. Mit Blick auf den Sonntag.

26. Januar 2021

Eröffnungen sind derzeit virtuelle. Die Staatsbibliothek zu Berlin, im Fernsehen anzuschauen als endlich fertig gewordene Großinvestition, in der die viele Jahre, Jahrzehnte, mehr oder minder Ruine gebliebene Mitte des Baukörpers jetzt wieder vor Repräsentativität strotzt. Es gibt Menschen, die solcher Art Anmutung instinktiv abwehrend begegnen. Ich nicht. Ich habe wichtige Teile meiner Studentenzeit wie auch später meiner akademischen Laufbahn, was für ein Wort angesichts des Endes dieser Laufbahn, dort verbracht, habe in Zeitschriften-Bänden geblättert, Bücher gelesen oder sehr häufig auch ausgeliehen. Als ich nicht mehr in Berlin lebte, schickte ich Leihscheine mit der Post, der spätere ruhmreiche Verleger Christoph Links warf sie auf dem Weg zur Arbeit oder von ihr ein und wenn ich dann wieder einmal in die Hauptstadt der DDR reiste, lagen meine Bücher bereit zu Lektüre oder Ausleihe. Ich schrieb manches mit bibliothekseigener Schreibmaschine vor Ort ab.

25. Januar 2021

Nach Auszählen der binnen dreier Tage geschriebenen Absätze zu Wilhelm Weitling, dessen 150. Todestag heute ist, bin ich dann doch milde erschrocken. Nie hätte ich gedacht, einmal so viel über diesen Backbartträger zu schreiben. Dabei auf so viele interessante Dinge und Geschichten zu stoßen, selbst den 2019 etwas jählings verlassenen Gottfried Keller wieder einmal und mit vielem Vergnügen in die Hand nehmen zu können. Sein „Tagebuch 1843“ war schon auf meiner Liste der möglichen Schreibgegenstände, aber wenn ich alles auch tatsächlich geschrieben hätte, was auf dieser Liste schon stand, dann hätte ich mehr geschrieben als Barbara Cartland und fast so viel wie Dietmar Dath. Die nicht schon am Freitag oder Sonnabend den Schnee von ihren Autos geholt haben, hatten am Morgen heftig zu kratzen und zu hacken. Dafür fiel heute wenig Frisches von oben und auf dem Weg zum Glascontainer zwitscherten wild die Vögel, als käme schon Frühling.


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