Tagebuch
12. November 2025
Ich habe eine neue Freundin in Paris. Sie heißt Marta Lajoso. Sie meldet sich alle paar Tage bei mir mit ganz und gar überraschenden Aussagen. Zuerst hat sie meine Kunst im Internet entdeckt, dann fragte sie, ob man etwas von mir kaufen könne. Inzwischen verrät sie, dass sie einige Freunde und Bekannte kenne, die etwas von mir kaufen würden. Was könnte ich in Paris anbieten? Die einzige Aquarell-Malerei meines Lebens, von der ich nicht einmal weiß, wo sie in den Untiefen meines Sammel-Universums zu finden wäre? Eine Handschrift aus dem Jahr 1970, als ich versuchte, den damals für mich höchst lustigen Samuel Beckett zu imitieren, es sind nicht mehr als zwei Seiten?Mit „Bänkel-Geplänkel und Robinsongs“ von Jens Gerlach beende ich das neunte seiner Bücher und bin vorerst fertig mit ihm. Der Rest bleibt für kommendes Jahr. Acht der inzwischen zehn mir zugänglichen Hörspiele von Gerhard Rentzsch sind gelesen, morgen und übermorgen noch zwei.
11. November 2025
Wenn ich heute daran erinnere, dass Carl Andrießen am 11. November 1993 starb, dann deswegen hauptsächlich, weil am 6. Dezember seines 100. Geburtstags zu gedenken wäre. Die früher die Weltbühne lasen, kannten seinen Namen gut. Die irgendwie mit Mittweida zu tun hatten, kannten seinen Namen auch. Vermutlich hat Matthias Biskupek ihn da oder dort zum Thema gemacht, ich weiß allerdings nicht, wo. In seinem Arbeitszimmer in Rudolstadt hätte er es vermutlich auch nicht gefunden, weshalb er, wenn er mal bei mir war, meine Ordnung bewunderte. Aber das ist Schnee von vor dem Klimawandel. In den USA könnte der Shutdown zu Ende gehen, was mich insofern berührt, als mir das Fernsehen, für das ich Gebühren zahle, zur Illustration amerikanischer Nöte, 40 Millionen Menschen erhalten Nahrungsmittel aus Washington, zwei hyperfette Frauen in einem ziemlich großen Auto zeigte, die sich ihre Portionen holen wollten. Bei uns laufen sehr viele Arme.
10. November 2025
Vermutlich hat es dem uralten Helmut Schmidt gefallen, dass er als einziger Mensch noch rauchen durfte im Fernsehen, als das Rauchen längst nicht nur verpönt, sondern an öffentlichen Orten auch verboten war. Er galt als Weltökonom, Weltweiser, die Kölner „Mitternachtsspitzen“ hatten ihn mit Gattin als „Loki und Smoky“ in Kabarett-Figuren verwandelt. Und heute ist er schon wieder zehn Jahre tot. Allen, die ein Argument brauchen, warum sie immer noch rauchen, obwohl ihnen ihr Arzt und ihr Zahnarzt sagen, dass die Durchblutung des Beines und der Knochenaufbau im Kiefer durch fortgesetztes Rauchen stark gefährdet respektive unmöglich gemacht werden, dient der alte Sozi Schmidt als Beispiel dafür, dass man 85 Jahre rauchen kann und dennoch fast 100 Jahre alt werden. Ich gestehe: auch ich würde bisweilen gern hören, was er zu diesem und jenem sagt, zumal etliche seiner Genossen heute dazu neigen, Dinge zu sagen, die statt für Weltweisheit für Blindheit stehen.
9. November 2025
Mit „Der Nachlass“ beende ich den Rentzsch-Band, zugleich das fünfte Buch des noch jungen Monats. Grau markiert in meinem Kalender Ludwig Turek, der am 9. November 1975 in Berlin starb. Meine einzige eigene Notiz zu ihm stammt aus dem Jahr 2009, da las ich „Das Mädchen von Husum“ von ihm und wunderte mich, wie man eine Geschichte erzählen kann, die den bekannten historischen Ausgang, die Niederlage des Aufstandes der Matrosen, einfach ausklammern kann. Immerhin fand ich alles schnörkellos und so spannend erzählt, dass man auf das Ende neugierig wird. Zur halben Seite von damals ist bis heute nichts hinzugekommen. Mein Archiv führt mir aus dem Jahr 1988 drei Zeitungsbeiträge zum 90. Geburtstag von Turek vor, der auf allen Fotos stets die Tabakspfeife in der Hand hielt. Selige Zeiten der Pfeifenraucher von Grass bis Wehner. Meine letzte Pfeife endete im Kachelofen meiner Eltern, meine Mutter zwang mich so ungewollt zur Zigarette.
8. November 2025
Immerhin neun Hörspiele von Gerhard Rentzsch finden sich in meinen Beständen. Bis zu seinem 100. Geburtstag im kommenden Jahr ist noch viel Zeit, andere kommen vorher, nicht zuletzt Heinz Knobloch am 3. März. Die 34 Bücher von ihm, die ich bisher las, sind eine unvergleichlich breitere Basis, dafür ist mein nächster Text zu ihm auch schon der zehnte, den ich schreibe. Resteinkäufe für den Wochenendbesuch. Wir holen nach der Zeitung den zweiten Bier-Adventskalender für mich, die Erfahrung des Vorjahres war zu nett, um in diesem Jahr nicht einen zweiten Versuch zu starten. Das heutige Hörspiel erinnert an Ernst Thälmann, die letzte ZK-Tagung Februar 1933, ehe er verhaftet wurde. Ich frage mich zum wiederholten Male, was eine feige Ermordung ist. Gab und gibt es denn auch mutige Ermordungen? Etwa die RAF-Morde? Ein längerer Spaziergang in Unterpörlitz führt doch noch an die 10.000 Schritte heran. Und die Bayern lassen die ersten Punkte der Saison liegen.
7. November 2025
„Der Almanach“ heißt ein Hörspiel von Gerhard Rentzsch, das ich vor 45 Jahren zuerst las, als eins von dreien an jenem 30. Juli 1980. Ich war ein fleißiger Leser, nachdem meine Diplom-Arbeit an Ort und Stelle abgegeben und erst einmal nur Luft war für vieles. Heute lese ich das Spiel mit den Erfahrungen der Jahre nach 1989 natürlich etwas anders. Clevere Betrüger damals, die mit Neid, Eitelkeit und Missgunst kalkulierten. Wenig später Tagesgeschäft. Auch ich landete bald in einem Almanach, allerdings durfte ich wissen, wer außer mir auch noch drin ist, durfte den Text Korrektur lesen. Ich beende das seltsame Büchlein „Sowjetmenschen“ von Anna Seghers aus dem Jahr 1948, sie schrieb es nicht lange, nachdem sie aus dem Exil in Mexiko zurückgekehrt war. Ich werde mich in ihren inzwischen veröffentlichten Briefen jener frühen Jahre umsehen, ob sich dazu brauchbare Informationen finden. Zwei Seiten Vorwort schrieb Jürgen Kuczynski am 17. September 1948.
6. November 2025
Muss es als gute Idee gelten, wenn eine Zeitschrift, die seit Dezennien „Der Hund und sein Herr“ hieß, jetzt sechsmal im Jahr „Die Hündin und ihr Frauchen“ heißen soll, wobei „Frauchen“ sofort die Frage aufwirft, ob das „chen“ nicht verkleinert? Andererseits würde „Die Hündin und ihre Frau“ ziemlich merkwürdige Assoziationen wecken. Als Mitglied des Deutschen Journalistenverbandes beziehe ich einmal im Monat „journalist“ oder „journalistin“. Heute kam das Heft für November mit der Frage „Müssen wir mehr über Geld reden, Herr Sulilatu?“ Man kennt Herrn Sulilatu offenbar in meiner ehemaligen Welt, sonst würde man ihn nicht fragen. Ich habe noch nie von ihm gehört. Ich verstehe auch die andere Titelfrage nicht: „Ist Ghosting das neue Nein?“ Vielleicht sollte ich doch meine Mitgliedschaft beenden, wenn ich die Leute nicht mehr kenne und die Fragen nicht mehr verstehe. Meine KI verriet mir, was Ghosting ist, ich praktiziere das bei Bedarf regelmäßig.
5. November 2025
Heute sehen wir einen Supermond, soll heißen, den dicksten Vollmond des Jahres. Gestern sahen wir einen Mann, der anhand einer Karte mit verschiedenen Färbungen die These aufstellte, in den grauen Flächen sei zu viel (oder war es zu wenig?) nach einem Platz für Atommüllendlager gesucht worden. Denn wir verlangen, dass der Endmüll dort eine Million von Jahren sicher sein soll. Was sagt die Letzte Generation dazu? Die das Ende der Welt nächsten Freitag halb elf beginnen sieht? Falls wir nicht aufhören, Leberwurst zu essen. Wen gefährdet der Müll eigentlich nach dem Untergang der Zivilisation? Einige Arten werden sich sagen, wenn der erste dicke Kernstrahl aus der Erde kommt: Endlich können wir mal richtig mutieren. Vielleicht fürchten sich danach die Schwebfliegen vor Hirschkäfern mit drei Hörnern oder die Wiederkäuer schlucken einfach alles runter und furzen kein Methan mehr. Wen aber wird das dann an allem zweifeln lassen? Preisfrage.
4. November 2025
Gestern Dieter Wellershoff vergessen? Nein, natürlich nicht. Zehn Zeilen sind eben nur zehn Zeilen, kein Platz für ihn, die 100 also ohne mich von seinem Fanblock bejubelt. Heute ist schon wieder Gustav Schwab an der Reihe. Mit dessen Heldensagen bin ich aufgewachsen, besitze sie in einer kindgemäßen Fassung und natürlich auch in seinem Originaltext. Ich ging mit diesen Helden um, als wären sie meine Nachbarn hinterm Gartenzaun, immer Fan der Trojaner, nie der Griechen. Und muss sogleich gestehen, dass Nachbarn hinterm Gartenzaun in meinen jüngsten Jahren rar waren: unbebaute Grundstücke, kein Zaun; wenn Zaun, dann dahinter niemand. Trotzdem: schöne Kindheit und so. Man erinnert sich. Ungewollt verwandle ich mich in einen Glücksbringer in Sachen Suche nach einer Wohnung in Ilmenau. Und das nur, weil bei uns im sechsten Stock eine frei wurde. Man darf heute mit einem winzigen Kind größere Wohnungen haben wollen, wir einst mussten warten.
3. November 2025
Es beginnt mit einer individualisierten Aufforderung, die Miet-Parkplätze zu einer bestimmten Zeit freizuhalten wegen anstehender Arbeiten. Welche Arbeiten aber stehen an? Ist es wie früher auf dem Arbeitsamt, wo eben jetzt statt der Arbeitslosen die Arbeit selbst ansteht? Nein, keine tieferen Sinne konstruieren. Es ist ganz einfach: als vor vielen, vielen Jahren unser Block den neuen Zeiten in die Arme geführt wurde, also Wärmedämmung, und wir dann Heizkostenersparnisse hatten in solchen Dimensionen, dass wir einen Tesla hätten anzahlen können, wenn es schon Teslas gegeben hätte, blieben am Ende an den Wänden mitten im Dämmstoff Löcher zurück, wo die Gerüste im Beton verankert worden waren. Dort siedelten im Lauf der Jahre diverse flugfähige Tierarten von Meisen und Sperlingen bis Wespen. Beim Innenausbau von Meisen-Nestern im Dämmstoff zuzuhören, ist schlafstörend. Heute, alles klar, werden mittels Hebebühne die Löcher verstopft und verschmiert.
2. November 2025
Gut, dass wir eine Stadtbild-Debatte haben. Einer sagt etwas, vier mit direktem Draht zu Medien regen sich auf und dann heißt das Debatte. Nachrichtenredaktionen müssen weniger Nachrichten senden, weil jetzt die Unterabteilungen Agitation und Propaganda in Aktion treten. Sie führen Interviews mit Menschen, gegen die niemand etwas hat, die aber zu Protokoll geben, dass sie sich jetzt bedroht fühlen. Der alte Satz „Rassisten sind immer die anderen“ wird durch Verschiebung der Wortfolge zu „Die anderen sind immer Rassisten“, wobei das eine wie das andere natürlich niemand sagt. Als ich vor Jahren zum Zwecke eines Theaterbesuchs in Hof weilte (weilte!) und dort eine Übernachtung gebucht hatte, sah ich während des ersten Erkundungsganges vom Hotel zur Stadt buchstäblich keinen einzigen Menschen, den ich für einen Franken gehalten hätte, obwohl ich viele Menschen sah. Im Theater selbst sah ich dann keinen Menschen, der nicht wie ein Franke aussah.
1. November 2025
Lange hatten wir kein Klassentreffen aller vier Abiturklassen des Jahrgangs 1971. Das erste und totsicher letzte halbe Jahrhundert 2021 verhagelte uns die Corona-Epidemie, eine Nachfeier war zwar bisweilen im Gespräch, kam aber ebenfalls nicht zustande. Heute nun, 54 Jahre nach der so genannten Reifeprüfung, hatten wir Ort und Zeit im Schöffenhaus fix, viele der Rentner gaben sich mehrheitlich verhindert. Ärgerlich, erschreckend, peinlich, jeder, der kam, hatte dafür eine eigene Beschreibung des Tatbestandes. Die, die da waren, waren am Ende froh, dass sie da waren. Und orakelten, warum auch jene, die sonst immer gekommen waren, diesmal fehlten. Es drängen sich Krankengeschichten immer mehr in die Gesprächsstoffe. Manche hat es schwer erwischt, nicht zu reden von denen, die es schon final erwischt hat. Eine Rede musste ich diesmal nicht halten, ich hätte Schwierigkeiten bekennen müssen, zuzusagen. Vor fünfzig Jahren starb Pier Paolo Pasolini.