Tagebuch

17. März 2024

Endlich bin ich mit Gerhard Stadelmaiers „Parkett, Reihe 6, Mitte“ zu Ende gekommen. Er hat in die Reihe der Theaterkritiken eine Darstellung aufgenommen, die keinem Geschehen auf einer Bühne, sondern einem tatsächlichen Geschehen in einem westdeutschen Bundesland gewidmet war: dem Königsmord an Erwin Teufel, den einstmals Günter Oettinger beging. Hut ab vor dem Humor des Verlags, so zu verfahren. Ich selbst saß bisweilen auch Parkett, Reihe 6, Mitte und nutzte nie die Gelegenheit, zuletzt zu kommen, damit mich jeder sehen konnte. Wolfgang Bosbach kam in Bad Hersfeld gerade nicht zuletzt, sondern sehr zeitig, blieb aber, braungebrannt wie immer, so lange in seiner Reihe stehen, bis ihn jeder gesehen hatte. Jetzt war ich schon so lange nicht mehr im Theater, dass es aussieht, als würde ich nie mehr kommen. Ein wenig plagen mich tatsächlich Gedanken an Abschied, aber erst einmal fahre ich morgen gen Sachsen, was hier zu kürzerem Schweigen führt.

16. März 2024

Heute vollendet eine in Halle lebende Persönlichkeit weiblichen Geschlechts ihr 71. Lebensjahr. Wir kennen uns seit 1967, da waren die meisten der grünen Kriegstreiber von heute noch nicht einmal geboren. Früher fuhr ich öfter an dem Haus ihrer Eltern vorbei, nach links unten schauend, oder, aus der Gegenrichtung, nach rechts unten schauend. Das Haus gehört mangels lebender Eltern längst ihr und sie ist auch immer mal wieder dort. Seit der real existierende Imperialismus uns Bergtrolle aus den Schluchten und Nadelwäldern mit einer Autobahn versah, ist die genannte Route eine selten benötigte geworden, was die Blicke nach unten heftig einkürzt. Sie ist engagiert, was ich von mir nicht behaupten würde, es sei denn, ich würde mein Engagement für einige vergessene und verdrängte deutsch-jüdische Autoren der letzten 200 Jahre veranschlagen. Dafür aber wird man selten Ehrenbürger. Im Elternhaus unten trug ich einmal den gestreiften Schlafanzug ihres Vaters.

15. März 2024

Man kann beim Finanzamt anrufen, es hebt tatsächlich jemand ab. Wegen des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte sage ich einmal geschlechtsneutral: jemand mit einem vegetarischen Namen. Wir erinnern uns an Karl Valentin: so a metalliger Name woas: Hulzinger hatta gehoaßn. Das Amt, welche die Kleinen melkt und für die Großen nicht genug Steuerfahnder hat, will am 18. April von meinem ihm bekannten Girokonto reichlich drei Renten abbuchen, falls mein SEPA-Mandat noch gültig ist. Es ist. Ich könnte Einspruch einlegen, ich könnte Stundung beantragen, ich könnte versuchen, das Amt in die Luft zu sprengen, wenn ich ein Attentöter wäre, der ich aber nicht bin. Weil unser Verlag keine Gewinne erzielte, meint das Amt, keine Gewinnerzielungsabsicht erkennen zu können. Und nimmt alte Bescheide zurück. Wir lernten im Fach Staatsbürgerkunde: Im Kapitalismus muss man nur wollen, dann kommen die Gewinne, Regeln bestätigen die Ausnahme.

14. März 2024

Volker von Törne verfehlte seinen heutigen 90. Geburtstag um mehr als vierzig Jahre. Im Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren lese ich, dass er der Sohn eines NS-Standartenführers war. Wir wollen nicht päpstlicher sein als der Landesbischof: NS-Standartenführer gab es nicht, das war ein Dienstrang der SS und auch der SA, in der SS geschichtsrelevanter als in der SA, also deutlich verbrecherischer, wenn man da überhaupt Skalen dulden mag. Wenn ich wegen Klopstock in Kürze in Quedlinburg sein werde, denke ich vielleicht auch an von Törne, der als Pseudonym von Windei benutzt haben soll. „Ohne Abschied“ heißt das einzige Buch von ihm, das ich besitze, eines, an dem er beteiligt war auch noch: „Rezepte für Friedenszeiten“. Da sollte man vielleicht wieder einmal hineinschauen in Zeiten, wo die größten Kriegsschreier die Friedensbewegten von gestern sind: die Langhaarigen sämtlicher Geschlechter. Ein Viertelpfund Post heute vom Finanzamt auf Raubkurs.

13. März 2024

Wie nahe verwandt Treppenwitz und Fahrstuhlwitz miteinander sind, weiß ich nicht sicher zu sagen. Auf alle Fälle hörte ich bereits von Treppenwitzen der Geschichte, von Fahrstuhlwitzen dito  nicht. Heute jedenfalls und das geht in die engere Lokalgeschichte ein, blieb in unserem Fahrstuhl, Baujahr 2016, erstmals seit seinem Dienstbeginn jemand stecken. Ich bemerkte es, als es von innen rief: Der Fahrstuhl geht nicht. Und trug die Last einer Flasche Wein und eines Glases Marmelade wild entschlossen zu Fuß in meine etwas höheren Regionen. Später erlebte ich ein doppelköpfiges Hilfskommando und hörte aus der Nachbarschaft, manch Fehler sei schwer zu finden. Zum Beispiel halte ein bekannter Fahrstuhl, dessen Standort unter Datenschutz fällt, immer in der zweiten Etage, auch wenn ihn dort niemand ruft oder aussteigen will. Der Fahrstuhl/Treppen-Witz in unserem Fall: Die Eingeschlossene war einst die Initiatorin des Lift-Einbaus mit einer Unterschriftensammlung.

12. März 2024

Am 12. März 1999 erreichte mich Post vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Denen war mein Eintrag im Gästebuch des elsässischen Friedhofs Bergheim aufgefallen vom August 1998. Es dauerte also, wurde aber registriert. Am 12. März 1974 war ich nach einem Kurzbesuch bei meinen ehemaligen Kollegen von Freies Wort so verärgert, dass ich beschloss, freiwillig nie wieder die Schwelle der Redaktion zu überschreiten. Mit dem Auftrag des Jugendmagazins Neues Leben für eine Reportage im Rücken hatte ich auf etwas Hilfe gehofft, doch Kettenraucher Heinrich Z., den ich seit 1968 kannte, ließ mich glatt und ohne jede Hilfe im Regen stehen. Die Reportage kam dennoch zustande, füllte mehrere Druckseiten und machte mich mit dem Fotografen Rudolf Schäfer bekannt. Am nächsten Tag erkundigte sich Rudi Benzien bei mir nach dem Stand der Dinge, er ist nun auch schon wieder fünfeinhalb Jahre tot, einmal noch hatte ich Kontakt zu ihm nach 1990.

11. März 2024

Nicht nur Leverkusen lässt einen Rekord dem anderen folgen, hie und da mische auch ich mit. Den fünfzigsten Gelben Muskateller des Jahrgangs 2021, Weingut Ebinger aus Poysdorf im Weinviertel, tranken wir zum Tatort. Fünfzig verschiedene Weine einer Rebsorte eines Jahrgangs, das hatten wir noch nie. Nur halb so viele des nächsten Jahrgangs 2022 warten nun auf ihre Sonntagsstunde und die ersten Weingüter schicken mir schon ihre 23er Angebote. Im vorderen Wasserleitungsschacht, der die Küche und das vordere Bad beliefert, tropft es wieder einmal heftig. Nach den Gesetzen der Schwerkraft tropft es von oben nach unten und da wir schon mehr als ein halbes Dutzend solcher Fälle hatten, durchweichte Tapeten, vollgelaufene Lampen inklusive, werden wir wieder einmal die Genossenschaft bemühen müssen; mit Obermietern, die einfach nie etwas merken, haben wir keinen eigenen Gesprächsbedarf. „The Zone of Interest“ wurde immerhin bester internationaler Film.

10. März 2024

Mit dem gestern ins Netz gestellten „Arthur Eloesser in der DDR: Victor Klemperer“ halte ich bei 57 Arbeiten über Eloesser seit Februar 2018. Die Quote ist gut und es wäre mehr, wenn ich nicht zwischendurch Abwechslung brauchte. 2014 war ich nach mehr als einem halben Jahr allein mit Shakespeare so weit, den Namen nicht mehr lesen zu können. Ein Ergebnis: der unheldische Tod des geplanten Buches. Immerhin: das Phänomen des Sitzens vor einem weißen Blatt (einer leeren Datei, heißt das heute eher) kenne ich nicht. Ich setze mich erst, wenn ich schreiben will. Der erste Satz muss im Kopf sein, der Rest folgt. Irgendwelche Grünlinge wollen Fontane- und Luther-Straßen umbenennen wegen Antisemitismus. Dummheit ist, sagte mein einer Chefredakteur bei unpassender Gelegenheit, keine Straftat. Dummheit als Klugheit durchgehen lassen, hat deutlich bessere Chancen. Und die Lokführer streiken wieder. Wollte da wer als Kind Lokführer werden?

9. März 2024

Die Gelegenheit, über Max Epstein zu schreiben, dessen 150. Geburtstag heute zu gedenken ist, lasse ich verstreichen. Immerhin: ich begann in bester Absicht sein „Das Theater als Geschäft“ im Neudruck der „Berliner Texte“ zu lesen, es ist Band 13. Aber weit kam ich nicht. Als Herausgeber war er für „Das blaue Heft“ verantwortlich und dies gab Arthur Eloesser über eine längere Zeit viel  Platz für seine Theaterkritiken, die wegen der Erscheinungsweise meist mehrere Inszenierungen betrafen. Bis es Differenzen in der Honorarfrage gab. 90 Jahre alt wird heute Dietmar Grieser, dem ich seit seinem „Goethe in Hessen“ ein anhänglicher Leser bin, auch wenn sein Wikipedia-Eintrag dieses Buch nicht einmal kennt. 70 Jahre alt wird heute Matthias Matussek, den korrekt Genordete nicht mehr kennen, ich aber doch, weil zwei seiner Bücher in meine Regale fanden, eins als gut gemeintes Geschenk (Wir Deutschen), eins selbst gekauft (Fifth Avenue). Das Leben ist eben so.

8. März 2024

Sollte „The Zone of Interest“ nicht nur ständig und überall für alles nominiert werden, sondern auch einmal abräumen, dann werden wir wie Goethe nahe Valmy zu uns sagen: wir haben ihn im Kino gesehen. Oder so ähnlich. Es war ein Dienstag im März in Kino 3, es war voller, als wir dachten. Es war unfassbar gut und lebte von Details, die den Unterschied machen. Wir trafen Bekannte, die wir ewig nicht trafen, wir sagten, dass wir gerade erst in Auschwitz gewesen sind und am Galgen, an dem Höß mit Blick auf sein Haus hinter der Mauer gehenkt wurde, standen. Für Wiedersehen gibt es schönere Gesprächsthemen und heute ist schon wieder dieser Frauentag, früher mit Eierlikör und Schürzenmännern verbunden. Während heute beinhart auf fortlebende Defizite hingewiesen wird in allerlei Hinsichten. Ich zum Beispiel habe seit meiner Armeezeit weder Kragenbinden noch sonst etwas gebügelt, ich überlasse das schnöde meiner Frau, die trägt meine Mini-Reue mit Fassung.

7. März 2024

Mein Gedenkkalender zeigt mir für heute den 750. Todestag von Thomas von Aquin an. 2025 wird die katholische Welt den 800. Geburtstag feiern, sollte man vermuten. Ob Rüdiger Safranski bis dahin mit einer Biografie aufwarten kann, ist zu bezweifeln, er muss ja nun erst einmal mit seinem Kafka-Buch reüssieren, auf das die deutschsprachige Welt nach den drei Bänden von Reiner Stach voller Ungeduld gieperte. Kafka-Biografien kann es nie genug geben, das ist mit Thomas von Aquin einfach anders. Ich hatte den während meines Studiums eher kurz, als es ums Mittelalter ging. Ich müsste lügen, dass ich unstillbar neugierig auf ihn war. Aber ich kann jederzeit auf meinen Kurt Flasch zurückgreifen. Die mittelalterliche Philosophie ist mir greifbar bei Alain de Libera, bei Jos Decorte, bei Martin Grabmann und bei Hans-Ulrich Wöhler. Ich kann den studierten Philosophen in mir nie völlig unterdrücken. Aber was besagt das schon: vielleicht ist er der innere Schweinehund?

6. März 2024

Wenn ich meine Suchmaschine, deren Namen ich verschweige, mit dem Namen Günter Kunert füttere, was sie, die Maschine, womöglich gar nicht als Futter empfindet, dann zeigt gleich die erste Trefferseite Nachrufe in lichter Reihe. Er wäre heute 95 Jahre alt geworden. Erst kürzlich wieder stieß ich auf den Namen David Warschauer, 1870 – 1943, der in Theresienstadt starb und Günter Kunerts Großvater war. Auch Doris Tucholsky, die Mutter von Kurt Tucholsky, starb dort 1943. Ich habe nun endlich einen Weg gefunden, meine beiden studentischen Kunert-Arbeiten aus meinem eigenen, sehr bescheidenen Kunert-Archiv in das beste, das es überhaupt gibt, umzusiedeln. Es ist nicht damit zu rechnen, dass danach die Wände der Kunert-Forschung wackeln. Sehe ich aber, dass lächerlichste Schülerarbeiten zu Themen, die durchaus Aufmerksamkeit für sich beanspruchen dürfen, im Netz zuerst gefunden werden mangels Alternativen, dann lobe ich die analogen Archive.


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