Tagebuch

18. Juli 2025

Sommerloch ist, wenn sechzehn Talk-Shows an neun Tagen die offenbar versemmelte Wahl von drei Verfassungsrichterinnen (innen und außen) bis zur Brechgrenze belabern, während in den so genannten Hauptnachrichten minutenlang einer amerikanischen Schlagersängerin nachgetrauert wird, die ihre großen Erfolge hatte, als die Türken vor Wien standen. Man könnte sich auch daran berauschen, dass heute Nathalie Sarraute 125 Jahre alt würde, wenn sie denn nicht vorher schon an den Folgen des Nouveau Roman gestorben wäre, den außer Romanistik-Historikern niemand lesen wollte, manchmal noch ein Feuilleton-Chef, der in der Sekunda Französisch nicht abgewählt hatte. Der Name Sarraute kommt auch in zwei zehn und zwölf Jahre alten Texten von mir vor, ich will das nicht kleinreden und bekenne mich unschuldig. Deutschland ist das Land der Ämterbeschädigung, was den beschädigten Ämtern nicht schadet, wir haben auf alle Fälle mehr beschädigte Brücken.

17. Juli 2025

Mit 88 Jahren ist Claus Peymann in Berlin gestorben. Ich sah seine Inszenierung von „Kabale und Liebe“ am Berliner Ensemble, als sie noch ziemlich frisch war. Also gut drei Monate nach der Premiere. Meine inzwischen zwölf Jahre alte Kritik ist noch zu lesen unter meinen Theatergängen. Und sie wird immer noch gelesen: wie auch die anderen sechs, die ich zu „Kabale und Liebe“ verfasste. Eine Zeit war ich entschlossen, Fontanes Schiller-Sichten Stück für Stück zu folgen, als ich seine sämtlichen Theaterkritiken kannte. Es ist bisher nichts daraus geworden. Wie sehr Ursula Krechel den diesjährigen Georg-Büchner-Preis verdient hat, kann ich nicht sagen, denn ich besitze nur bescheidene zwei Bücher von ihr, eins mit Gedichten und eins, das „Stark und leise“ heißt und sich mit „Pionierinnen“ befasst. Unter den Pionierinnen Anna Louisa Karsch, über die ich auch schrieb, Irmgard Keun, Vicky Baum. Und Elisabeth Langgässer, wegen der ich das Buch kaufte.

16. Juli 2025

„Das, was man so Gewissen der Nation nennt, hat in der Brust eines Schriftstellers keinen Platz, das müsste ein Rieseninstrument sein.“ Sagte Heinrich Böll am 30. Juli 1975 Reinhart Hoffmeister in einem Interview. Der moderierte damals die ZDF-Sendung „aspekte“, die ich heute oft nur schwer erträglich finde, damals aber, wenn sich die Gelegenheit ergab, gern sah. Am 3. April 1945 schrieb Böll an seine Frau Annemarie: „Nun bin ich schon wieder bald acht Tage an der Front; es geht mir gut; der Schlaf ist etwas knapp, aber dafür leben wir gut. … Wenn wir mehr und bessere Waffen hätten, würden wir mit denen wirklich spielend fertig.“ Da können wir wirklich froh sein, sonst hätten uns die Amerikaner, denen Böll zu Leibe gerückt wäre, wenn er gekonnt hätte, nicht mit ihrer Demokratie und ihrer Freiheit beglückt. So aber liefern sie großzügig „Patriot“ an die Ukraine, wir bezahlen. Heute vor 40 Jahren starb Heinrich Böll, dessen frühe Erzählungen ich weiterhin liebe.

15. Juli 2025

Eine Zeit war Ruhe, jetzt häufen sich wieder die Anrufe, meist aus dem Klinikum Suhl, die mich fragen, ob ich die Praxis Dr. Ullrich bin. Ich bin sie nicht, die sitzt in Großbreitenbach, wir hatten das schon. Ich habe zu meinem Ärger keinerlei Zugriff auf den falschen Eintrag im Internet. Immerhin sind die gebrochen Deutsch sprechenden Frauen am anderen Ende der Leitung sehr freundlich, eine versucht es zweimal, vom Festnetz und vom Handy, was die Sache nicht bessert. Mit „Das Lächeln der Zeitung“ bin ich fertig, schneller als gedacht, es ist das vierzigste Buch des Jahres geworden. Ich war schon schlechter. Wie immer an Dienstagen ist die Treppe nass, wenn ich meinen Morgenausflug in den Keller mache, auch im Fahrstuhl ist der Boden noch nicht getrocknet. Aufregung herrscht unter meinen Wespen außen am Arbeitszimmerfenster, als es endlich mal wieder regnet. Sie mögen das nicht, schon gar nicht, wenn das Wasser frontal auf ihren Bau trifft.

14. Juli 2025

Julius Lothar Schücking, den man nicht kennen muss, schrieb „im Felde“, wie man das damals nannte, einen vier Seiten langen Aufsatz „Über Gattungen der Prosa“, mit dem Vorschlag, die Reichsschrifttumskammer möge doch verbindliche, an Beispiele gebundene Definitionen öffentlich machen, was Erzählung, was Novelle, was Anekdote, was Kurzgeschichte sei. Zum Glück war die Kammer mit anderem beschäftigt und das Feld verschlang Schücking 1944 in Russland, weshalb er unter die Vermissten gezählt wird. Den Roman wollte der gute Mann nicht definiert haben, denn er hatte schon selbst festgestellt, dass es darauf keine befriedigende Antwort gebe. Dann springt mir eine Buchbesprechung vors Auge: „Deutsche Geschichte von 1918 – 1939. Die Geschichte einer Zeitenwende“. Sollte unser Olaf tatsächlich den Begriff der Zeitenwende gar nicht erfunden haben? Oder wusste er es und hatte es nur vergessen? Er war ja unser vergesslicher Olaf, der Scholz eben.

13. Juli 2025

Heinz Knobloch hat, welch eine entsetzliche Erkenntnis, an der Wiege der uns allen verhassten Gendersprache gestanden. Heinz, war mein erster Gedanke, als ich seinen verheerenden Satz las, hast du in deinen späten Jahren noch mitbekommen, was du angerichtet hast: all diese doofen, diese erzdoofen Binnen-I, Sternchen, Schluckauf-Pausen beim Reden, Brech- und Würgeanfälle bei mir? Ich sehe sofort Super-Mompi vor mir, den Kurzzeit-Bürgermeister mit Rotschal, der immer von den Berlinerinnen und Berlinern redete. Knobloch redet von Lektorinnen und Lektoren, in umgekehrter Reihenfolge natürlich und schreibt dann: „... es fehlt unserer Sprache an einem Kniff, der die beiden Geschlechter vereinigt, grammatikalisch gesehen.“ Nein, an diesem Kniff fehlt es nicht, fehlte es nie, es fehlt unseren Hirnen ein Arschtritt, damit sie sich wieder mit Dingen befassen, die der zur Vollverblödung tendierenden Menschheit auf den Sprung helfen. Es gibt tatsächlich wichtige Dinge.

12. Juli 2025

Es gibt Prominente, die über ihre Pressesprecherinnen und -sprecher der Welt mitteilen, dass sie seit langem keinen Tropfen Alkohol mehr zu sich genommen haben. Das könnte mein Sprecher von mir so nicht vermelden, auch wenn die Kernaussage richtig wäre. Ich trinke aus Gläsern und in denen würde ein Tropfen zu rasch verdunsten. Tropfen vom Flaschenhals zu lecken gilt auch in meinen Kreisen als unfein, außerdem benutze ich so genannte Tropfenabschneider. Einer geht sogar mit auf Reisen, denn auch in näheren und ferneren Ländern müssen Tropfen abgeschnitten werden. „Jeder von uns muss angestoßen werden, damit der oder jener Groschen fällt“, schrieb einst Johannes Robert Becher. Manche müssen nicht einmal angestoßen werden, sie stoßen selbst an und rufen „Prost“ oder „Cheerio, Miss Sophie“. Wir wissen, wie es weitergeht. Ansonsten aber ist es zutiefst humanistisch, arme Alkoholtropfen zu sich zu nehmen, sie stünden sonst gefährdet auf der Straße. 

11. Juli 2025

Aus den Niederungen der Berliner Nebenschauplatz-Politik für junge Kosmonauten auf die Höhen der Wellenkämme. Am 11. Juli 1995 schipperten wir auf einem rückblickend recht kleinen Schiff von Bornholm nach Simrishamn in Schweden. Vor Ort sah und erlebte ich den ersten Systembolaget meines Lebens, wurde vor den zugriffssicheren Bieren stehend fotografiert. Das Bild gab es später dann als gerahmtes Geschenk für mich. Ich erinnere mich der langen Leitung, die ich hatte, bis ich endlich begriff, wie das geht in solch einem Geschäft. Man musste eine Nummer ziehen wie bei uns im Arbeitsamt, das damals noch so hieß und nicht von Agenten geführt wurde. Und wenn die Nummer aufblinkte, durfte man sein Begehr vortragen. Immerhin gelang es mir, schwedisches Bier zu ergattern, in Bornholm war das danach wieder viel leichter mit dänischem Bier. Und wie sie alle kotzten! Wir warteten bis 1999 mit unserem nächsten Schwedentrip, dann voller Bierkauf-Weisheit.

10. Juli 2025

Die Berliner Zeitung meldet heute, dass die Mohrenstraße endlich Anton-Wilhelm-Arno-Straße heißen darf. In Kreisen der Fackelträger wird das Begeisterung auslösen, ehemalige DDR-Berliner erinnern sich, wie plötzlich überall unbekannte Widerstandskämpfer auf den Straßenschildern in Erscheinung traten, kein Mensch wusste mehr, wo diese Straßen waren. Aber das ist genau der Sinn. Denn den Ruf Berlins, den soll so ein Straßenname natürlich nicht länger schädigen. Bis zu zwei Millionen Tagestouristen wären wohl bei Fortbestand des Altbestandes nicht mehr gekommen. Was kann denn dieser Anton Wilhelm Arno dafür, dass er so weiß nicht ist wie ihr? Früher wurden die bösen Buben in ein Tintenfass getaucht. In Ermangelung der Mauer sollte bald auch Mauerstraße verschwinden als Name, das ist ein diskriminierender Name. Man könnte sie Allee der Grünen nennen. „Unbekannte schießen auf Auto“ steht auch da. Bekannte waren es zum Glück doch nicht.

9. Juli 2025

„Sündenfälle“ ist ein Buch, auf dessen Schutzumschlag der Titel ganz oben steht, links darunter der Name des Verfassers, es ist Victor Auburtin, rechts darunter, worum es sich handelt: Feuilletons. Dann sieht man unten einen Hut und knapp in der Mitte rechts das ä, das oben eigentlich zwischen das f und das erste l gehören würde. Ein Sündenfall ist das nicht, aber ein Einfall. Ich komme bis zur Seite 25 und habe mir den wundersamen Satz markiert: „Es gibt glänzende Schriftsteller, die nie etwas anderes geschrieben haben als über etwas.“ Das erinnert mich an meine philosophische Studentenzeit, deren Beginn vor 50 Jahren ich in Kürze ungebührend feiern werde. Da gab es die Frage. „Warum ist eher etwas als nichts?“ Auburtin schrieb auch: „Ein deutscher Schriftsteller, der noch nie einen Artikel über die Frau Rat geschrieben hat, macht sich neben seinen Brüdern geradezu verdächtig.“ Ich hielt wenigstens einen Vortrag über sie, bin raus aus der Verdachtszone.

8. Juli 2025

Knapp 20 Seiten komme ich in „Vom Wesen des Feuilletons“ voran, darunter haarsträubende Sätze über sowjetische Ansichten zum Feuilleton. Man musste zu DDR-Zeiten immer und überall eine prosowjetische Verbeugung einbauen. Das war im Felde des Sportes für mich in den späten Jahren des Ländchens zunehmend lächerlich, wenn sich die Reporter pflichtgemäß der sowjetischen Hilfe erinnerten beim Aufbau aller Sportarten, obwohl wir längst besser waren, sogar besser im Dopen. Die Emanzipation kam ausgerechnet, als der Dank wieder Sinn gehabt hätte, manche erinnern sich. Da verbot der oberste Wächterrat den „Sputnik“, den ewig niemand las, ähnlich wie die „Presse der Sowjetunion“, nun aber, wegen Gorbatschow, alle lesen wollten. Alle waren gierig auf alte Stalin-Geschichten, der Westen dachte vollends, Gorbi sei auf dem Weg zum Superstar. Hier einfach nur Dienstag, der Tag, an dem ich Radieschen vom Kraut befreie, weil ich der Radieschen-Esser bin.

7. Juli 2025

Wenn du um 10 Uhr einen Zahnarzttermin hast, heißt das keineswegs, dass du um 10 Uhr auch aufgerufen wirst. Früher blätterte ich dort in alten Exemplaren des „Eulenspiegel“, jetzt sitze ich auf dem Flur. Das hat den Vorteil, dass es mich besser vor Corona schützt. Aber vielleicht verwechsle ich das auch nur. Man kann wunderbar Newsletter auf dem Handy löschen, die man theoretisch auch abbestellen könnte, nur klappt das nie. Bisweilen findet sich auch eine Nachricht, die das Lesen lohnt. Wenn es zu lange dauert, habe ich als stille Reserve die Katzenvideos von Leo und Bobby, welchen ich gelegentlich als Aufsicht und Fütterer diene. Auf dem weiten Fußmarsch von der Krankenhausstraße bis zur Höhe werde ich eingesammelt unterwegs, nachdem ich knapp per Whatsapp meinen Standort mitgeteilt habe. So geht das heute und wir klagen, das zu viel Chlor im Trinkwasser ist. Was sind wir für undankbare Menschen. Wir zahlen unseren Wein mit Visa-Card.


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