Tagebuch

19. Mai 2025

Wenn einer oder eine vielfach ausgezeichnet wird für das, was er schreibt, dann weiß man: er ist Preisträger, er heimst Stipendien ein, Stadtschreiberposten. Diejenigen, die nicht dieses Groß-Glück haben, nennen diejenigen, die es haben, Preisabwurfstelle. Auch der Preisteufel scheißt immer auf den größten Haufen. Was aber ist einer, der „vielfältig“ ausgezeichnet wird? Lukas Rietzschel aus Görlitz ist so einer, wie der SPIEGEL kürzlich verriet. Bekommt Rietzschel zusätzlich zu den allzu herkömmlichen Auszeichnungen auch mal ein Foto vor der Truppenfahne oder ein Jahresabo für die U-Bahn in Meißen? Schenkt ihm ein Textil-Kleinbetrieb 100 T-Shirts mit der Aufschrift FCKAFD? Fritz Rudolf Fries alias IM Pedro Hagen könnte heute seinen 90. Geburtstag feiern, wenn er noch leben würde. Seinen Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ veröffentlichte die vom Kulturwillen fast immer gebeutelte DDR mit reichlich 30 Jahren Verspätung. Sie hatte selbst nur noch finale Sorgen.

18. Mai 2025

Was für ein Satz: „In den zehn Jahren von 1915 bis 1925 habe ich mehr als 25.000 Novellen gelesen.“ Geschrieben hat ihn Blanche Colton Williams, von der ich zuvor nie hörte. Geboren am 10. Februar 1879, am 9. August 1944 gestorben, war die Amerikanerin so etwas wie die Mutter der Theorie der Short Story, bei uns Kurzgeschichte. 1926 wurde sie ordentliche Professorin, 1926 stand ihr Satz in „Die Literatur“. Die autorisierte Übersetzung war augenfällig großzügig mit der Begrifflichkeit. Niemand würde hierzulande Novelle und Kurzgeschichte in eins setzen wollen. Was solls. Die Fußball-Spielzeit ist mit diesem Wochenende Geschichte, es kommt noch der Pokal. Die größte Freude, die mir die erste Bundesliga bereitete, war der Abstieg von VfL Bochum. Jede neue Niederlage eine kleine Feierstunde, jedes Gegentor ein ungenutzter Anlass für ein Prösterchen. Wer mit Stegreif-Schaupiel Punkte ergaunert bei Sportgerichten, verdient den Orkus. Union 40 Punkte.

17. Mai 2025

Kürzlich las ich, ausposaunt, natürlich, hätte ich beinahe gesagt, von einem dienstfertigen Exil-Russen für uns deutsche Deppen, dass es Russland nie gegeben habe, immer nur das Russische Reich. Wieder ein kleiner Baustein für die stille Umschreibung der russischen Geschichte, die ein für uns peinlich klares Ziel hat. Dummerweise gab es auch fast nie Deutschland, es war immer eher nichts oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder der Deutsche Bund oder eben das Deutsche Reich. Nicht einmal nach 1945 war es Deutschland, denn da war es BRD und DDR. Erst als zusammengeklebt wurde, was ein innerer Absatzmarkt werden sollte und ein Arbeitsmarkt für westdeutsche Zweit- und Drittklasse-Eliten, erst da, mein lieber Semjon Semjonytsch oder wie Du genannt werden willst, erst da wurde es Deutschland, ein Land ohne Verfassung, dafür aber mit Grundgesetz und international überaus vorlaut. Wenig ist das nicht. Besonders viel aber auch nicht.

16. Mai 2025

Der Titel ist einigermaßen umständlich: „Das angstvolle Heldenleben der Fleur Lafontaine“. Aus dem Roman machte 1978 Horst Seemann den zweiteiligen Fernsehfilm „Fleur Lafontaine“ mit Angelica Domröse und Hilmar Thate, Eberhard Esche und Gisela May, von denen die ersten beiden gingen, die zweiten beiden blieben. Autorin des Romans war Dinah Nelken, er steht seit fünfzig Jahren in meinen Bücherreihen, aktuell zwischen Hans-Georg Gadamer und Emil Barth. Gadamer drei Monate älter, Barth knapp zwei Monate jünger, alles Gefährten des Jahrgangs 1900, zu dem auch Anna Seghers gehört. Meine Ausgabe war schon die vierte Auflage seit 1971. Den Stolperstein für Fritz Nelken, ihren ersten Ehemann, werde ich mir im Juni ansehen, die Knesebeckstraße liegt nicht weit von unserem Berliner Basislager. Sohn Peter Nelken wurde 1958 Chefredakteur des auch heute noch in mancher Zahnarztpraxis ausliegenden „Eulenspiegel“, er starb schon 1966, am 4. Juli.

15. Mai 2025

Covid, diese lausige Pandemie, hat mich nicht nur dem Theater entfremdet, sondern meinen aller fünf Jahre absolvierten Ausflug nach Venedig zwischenzeitlich aus dem Leben verbannt. Nun aber schlagen wir wieder zu: Hochzeitsreise 50 Jahre nach der Hochzeit, die Buchungsbestätigung fürs Hotel ist ausgedruckt, nun müssen wir diese Goldene nur noch erleben. Ursula Winnington wäre mir vermutlich nicht von allein und ohne Anlass ins Visier geraten. Nun aber lese ich, dass die First Lady des DDR-Kochbuchs im nicht mehr ganz zarten Alter von 96 vollendeten Jahren, dazu noch ein weiteres Dreivierteljahr, gestorben ist. Als vormaliger Besitzer eines geerbten vollständigen Exemplars des MAGAZINs kenne ich natürlich ihre Rezeptseite hinten im Heft, ohne je mit ihr umgegangen zu sein. Ursula war in zweiter Ehe mit Alan verheiratet, der schon 1983 starb. Ich besaß ein paar Krimis von ihm und las sie auch. Sie hatte zuletzt ein Sommerhaus in Wandlitz.

14. Mai 2025

Was mich immer erheitert, auch wenn gerade nicht der UNO-Welttag der Rentner-Erheiterung ist, sind Nachrichten wie die, welche Strumpfhose ein Popstar vermutlich weiblichen Geschlechts trägt: nämlich Miou-Miou. Ich hielt das bisher immer für den Namen einer Schauspielerin, vielleicht ist die aber Strumpfhosen-Designerin geworden im fortgeschrittenen Alter. Das Mädelchen feierte im Februar Geburtstag Nummer 75. Da hat man die harten Feger-Jahre hinter sich. Dagegen kaufte sich Ulf Poschardt vom Erlös seines jüngsten Buches einen Ferrari. Ich kenne Autoren, die sich vom Erlös aller ihrer Bücher manchmal in einem Monat ihre Krankenversicherung leisten konnten. Die Schere, von der ständig alle faseln, geht auch zwischen denen immer mehr auseinander, die das Faseln berufsmäßig betreiben und daraus Erzählungen basteln. Die Grundfrage der Philosophie gilt nicht länger mehr dem Primat von Sein oder Bewusstsein, sondern dem von Sein oder Narrativ.

13. Mai 2025

Gegen den Jahrgang 1955 kann ich nichts sagen, er lebt mit mir unter einem Dach. Gegen Hubert Winkels kann ich eigentlich auch nichts sagen. Er wird heute 70 Jahre alt. Drei Bücher besitze ich von ihm: „Einschnitte“, „Gute Zeichen“ und „Kann man Bücher lieben?“ Die Frage des dritten ist rein rhetorisch, natürlich kann man. Am Anfang von „Einschnitte“, Untertitel „Zur Literatur der 80er Jahre“ schreibt Winkels, dass es die Literatur der 80er Jahre gar nicht gibt, das die hat er kursiv setzen lassen. Die natürlich völlig zutreffende Aussage kommt einer wertlosen Selbstentlastung gleich: Warum schreibt man tapfer über etwas, was es so gar nicht gibt? Also irgendeine Ordnung braucht der Verlag, der Autor weniger, der Leser letztlich auch nicht. Also reihen sich Jahrzehnt-Bücher an Jahrzehnt-Bücher, Jahrhundert-Bücher an Jahrhundertbücher. Es wird nicht besser, nicht schlechter. In der Post heute: Sechs Bände Shakespeare von 1924, Herausgeber Arthur Eloesser.

12. Mai 2025

Ohne Auto am Bahnhof müssen wir mit der Stadtlinie nach Hause fahren. Wir sind vorzeitig am Umstieg in Eisenach, sammeln dort diejenigen wieder ein, die sich am Freitag verabschiedeten, weil sie zum Hafengeburtstag Hamburg wollten, wir nach Belgien. Die Logistik funktioniert wie immer, eine Vollsperrung auf der A 4 berührt uns glücklicherweise nicht. Post friedlich und unbeschädigt im Briefkasten, kein Nachbar musste etwas für uns entgegen nehmen. Nun stehen für mich 103 Übernachtungen in Belgien zu Buche, Gleichstand mit Holland, nur Italien, Schweiz, Österreich liegen weiter vorn und zwar deutlich. Sechs Fotos mit vollen Bierregalen müssen den armseligen Ersatz bilden für volle Taschen. Unter den Mitreisenden bekennende Fassbier-Trinker, die Belgien wohl auch versorgt, letztlich aber am falschen Ort sind. Vermutlich gibt es mehr als 90 Prozent aller belgischen Biere gar nicht vom Fass. Großes Staunen, wenn ich verrate, wie viele Sorten ich kenne.

11. Mai 2025

Nachtrag Antwerpen. Kurzreisen sind, wie ihr Name sagt, kurz. Also heute mit Brügge schon der Abschlusstag vor der Heimreise. Ärger und Zeitverlust, denn in Brügge findet ein Volkslauf mit 10.000 Teilnehmern statt, alles ist abgesperrt. Hundert Meter vom Busparkplatz weg darf unser Bus nicht abbiegen. Stress, die beiden Stadtführer zu finden. Dann im Gedränge gegen die Laufrichtung. Ich war mehrfach mit dem Auto allein in Brügge, sammelte Biere in den Kofferraum. Heute der Bottle Shop mit dem größten Angebot nur ungenutzter Sehnsuchtsort. Ein bulgarischer Bus bringt Kopftuch-Frauen verschiedener Altersgruppen mit wenigen Männern zur Zwischenübernachtung. Im Foyer verteilt einer der Männer spät Lunch-Pakete an die Damen. Auch am dritten Abend wieder jede Getränkerechnung anders als die vorige. Ein Prinzip ist nicht erkennbar, falls es nicht einfach nur willkürlicher Trinkgeldgewinn ohne Ansage ist. Immerhin: es bleibt so keine Schlussrechnung.

10. Mai 2025

Nachtrag Antwerpen. Wir sind auf für uns ungewohntem Weg nach Antwerpen gelangt. 6:30 Uhr ab Ilmenau, 12:47 über die niederländische Grenze, 14:12 über die belgische. Den Stadtrundgang gab es vor dem Einchecken im Hotel „Tulip Inn“, wo uns Zimmer 237 erwartete mit minimalistischer Ausstattung. Die Handtücher müssen täglich getauscht werden, weil es weder die Möglichkeit, sie aufzuhängen noch gar die, sie zu trocknen gibt. Erster und bis heute letzter Besuch in Antwerpen war am 14. April 1995, also vor 30 Jahren. Das Denkmal „Arbeid Vrijheid“ ist offenbar versetzt worden. Der „Steen“ wirkte damals wuchtiger. Heute nach Brüssel und Gent. Zwischen 1994 und 2004 war ich achtmal für drei Tage in Brüssel, nun ist das lange her. Dafür am Atomium so viel Sonne wie selten. Das „Manneken Pis“ bekleidet. In Gent wieder nicht den Altar gesehen, man muss nicht nur extra zahlen, sondern braucht eine Reservierung, wenn man nicht endlos stehen will.

9. Mai 2025

Wer in Emissionen das Hauptproblem von Kreuzfahrtschiffen sieht, war nie nach Ankunft solch schwimmfähiger Monster in Florenz. Dann fluten schlimmenfalls zweimal hundert Busse mit jeweils 50 Insassen, also zehntausend Pseudogästen, die Stadt. Die rammen sich gegenseitig die Ellenbogen in die gelangweilten Fressen, um wenigsten ein Handy-Foto mit Köpfen drauf zu ergattern für die Lieben zu Hause, die der WhatsApp-Gruppe angehören. Die Taschendiebe sind völlig ratlos, es ist zu eng, um den Greifarm in eine andere als die eben eingenommene Lage zu bringen. Wir rollen jetzt mit einem gewöhnlichen Diesel-Bus nach Flandern, lassen Leopold Andrians 150. Geburtstag nach Bedarf links oder rechts liegen. Schiller wäre heute 220 Jahre alt, was nicht einmal den Uralten in Sardinien gelingt, die allerdings auch niemals an fauligen Äpfeln schnüffelten, ehe sie mit ihren Ziegen in die Berge zogen. Wir schweigen derweil hier ein wenig.

8. Mai 2025

Einsparungen, las ich, gefährden den demokratischen Diskursraum der freien Szene. Davon verstehe ich nur Einsparungen. Was aber ist ein Diskursraum? Ist das eine in vier Lofts und neun Ateliers umgewerkelte Ex-Fabrik mit Bröckel-Charme für mitternächtliche Kultur-Magazine? Wo man sich alimentieren lässt, weil man zweimal in der Woche mit inklusiv Kleinwüchsigen aus den Maghreb-Staaten „Der Bräutigam von Messina“ einstudiert, völlig frei nach Schillers Cousine? Da braucht man natürlich Kleinbusse für den An- und Abtransport, die Stromkosten lassen sich auch nicht erwirtschaften aus der Versteigerung leerer Farbeimer, die man eben noch in aller Fülle für Action-Painting an die unverputzten Mauern der einstigen Maschinenhalle schleuderte. Schwere Zeiten für alle, die den Staat Scheiße finden, nicht aber sein Geld? 80 Jahre nach Kriegsende, wo alle getrennt den gemeinsamen Sieg feiern. Habemus Papam: Wir haben XIV. Leo, aus den USA.


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