Tagebuch

12. März 2021

Unser Bundestrainer will nach der Europameisterschaft nicht mehr Bundestrainer sein. An solchen Tagen wird das Wort Respekt aus der Vorratskammer geholt, wo es stets in Griffweite steht und glänzt, weil es ein wenig abgegriffen ist wie Julias Brust in Verona, an die alle tatschen. Noch ist an Gender-Lehrstühlen die Frage nicht aufgeworfen, ob nicht neben dieser Julia ein Romeo-Pimmel aus Messing glänzen müsste wegen der Gleichstellung. Wir ahnen noch nicht, was eines Tages an den Diversen-Skulpturen glänzen wird, ich werde es wohl nicht mehr erleben. Morgen fahren wir in aller Frühe in die Bundeshauptstadt, wo wir Verwandte ersten Grades besuchen werden. Wir haben Sitzplätze reserviert für die Hinfahrt wie auch für die Rückfahrt, weil es mit dem Übernachten halt nicht so geht, wenn unsere zweieinhalb Lieblings-Hotels zwangsweise geschlossen haben. Wir werden noch vor Mitternacht wieder zu Hause sein. Mit leichterem Gepäck als auf der Hinreise.

11. März 2021

Der gute Vorsatz, Bücher zu Ende zu lesen, in denen ich bisweilen vor Jahren begann und dann das Lesezeichen stecken ließ, wird nicht dadurch schlechter, dass ich ihm selten mit voller Konsequenz nachgehe. Immerhin: die „Erläuterungen und Dokumente“ zu Max Frischs „Andorra“, grün und schmal aus dem Stuttgarter Reclam-Verlag, die sind heute endlich ins Regal gewandert, zu denen, die dort immer stehen, so lange sie nicht auf einen Lesestapel wandern. Janosch, der heute 90 Jahre alt wird, hat uns im ZEIT-Magazin lange begleitet, ehe er seinen Abschied einreichte. Wenn vor zehn Jahren nicht ein Tsunami das Atomkraftwerk Fukushima geflutet hätte, kämpften unsere Grünen noch immer gegen die Atomkraft und die armen Kohlenbergwerke wären noch nicht zum finalen Rettungsschuss freigegeben. Wenn Atom und Kohle weg sind und der Strom nur noch aus der Steckdose kommt, werden wir ein gutes Gewissen haben, das Klima wird sein wie jetzt auch.

10. März 2021

Jubiläen haben etwas. Wahrscheinlich haben sie in ereignisarmen Zeiten sogar noch mehr als etwas. Gestern vor einem Jahr die ersten deutschen Corona-Todesfälle, heute vor fünf Jahren soff der liebe Leitzins auf null Prozent ab. Inzwischen verlangen Banken bereits eine milde Spende über alle Gebühren hinaus, wenn sie unsere Möpse aufbewahren. Gestern wurde Christian Friedel 42 Jahre alt und wir sind immer noch traurig, dass sein Dresdner Macbeth im Corona-Meer ersoff. Ich werde ihn wohl, bis meine Leselampe ausgeblasen ist, immer im Bademantel über die Staatsschauspiel-Bühne schlurfen sehr, das war ein „Käthchen von Heilbronn“! Aus dem gestern zu Ende gelesenen Büchlein „Dramaturgisches. Ein Briefwechsel“ von Max Frisch und Walter Höllerer diese kleine Kostprobe: „Wer von der Literatur erwartet, dass sie das Weltbild bestimme, wird also von einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl nicht verschont bleiben.“ Nichts erwarten erspart Enttäuschung.

9. März 2021

Je vollständiger ein Kalender ist, der mögliche Schreibanlässe sammelt, ich beginne immer so etwa im August des Vorjahres mit seiner Aufstellung, um so heftiger überwiegt das Bedauern mögliche Selbstzufriedenheit, zumal wenn man auf seine alten Tage noch waschechte Forschung betreibt gegen ein geringes Entgelt. Also: ich lasse die Träne zu Boden tropfen, die ich dem gestrigen 80. Todestag von Sherwood Anderson nachweinte und hätte mich so schön über meine Missstimmung verbreiten können, dass die „Berliner Zeitung“ damals meinen Brecht-Bezug ausrottete. Was ja vielleicht auf Gisela Herrmann höchstselbst zurückzuführen war. Wer Honeckers Schwiegersohn als Diplom-Gutachter hatte, muss solche Talsohlen durchschreiten, lichten Horizonten entgegen. Später strich mir ein Chef aus Bielefeld eine Kritik an der Dresdner Bank, wie gar keine war, aus dem Text, weil das unsere Hausbank war. Meinem Staatsbürgerkundelehrer hätte ich das nie geglaubt.

8. März 2021

Passend zum Internationalen Frauentag, an dem einzig die Berliner zu Hause bleiben dürfen, ist der heutige Namenstag der Tag des Johannes. Die Vereinigung der Genderlehrstühle sollte einen Aufruf starten, dieser einseitigen Bevorzugung eines Cis-Mannes an gerade solchem Feiertag ein Ende zu machen. Immerhin steht der Internationale Frauentag nicht mehr unter dem westdeutschen General-Verdacht, eine Erfindung kommunistischer Gewalttäter vorwiegend männlichen Geschlechts zu sein, selbst die gute alte Clara Zetkin findet hier und dort diskriminierungsfreie Erwähnung. Zur Sicherheit heißt es jetzt Weltfrauentag, bleibt aber am 8. März erhalten, während die lieben Kleinen, die unter der Diktatur am 1. Juni Bockwurst essen mussten auf Staatskosten, jetzt bis September warten müssen, dann ist nämlich Weltkindertag. Manche feiern gleich zweimal: was auch nicht schlecht ist. Erstaunliche Bilder unseres aufgerissenen und bald wieder geschlossenen Bürgersteigs.

7. März 2021

Nun steht „Rosa Luxemburg 150“ im Netz. War mehr Arbeit, als ich dachte vorher. Ich fand aber während dieser Vorarbeit eine Menge interessante Texte, vor allem in der alten „Weltbühne“, die mehr und mehr zur wunderbaren Originalquelle wird. Vor 50 Jahren gab es im WDR erstmals die „Sendung mit der Maus“, die uns erst ein paar Jahre später Woche für Woche zu begleiten begann. Wir fanden die wunderschönen Lieder immer am besten und natürlich die Erklärungen zur Sache. Das war das jahrelange Ritual: Montag bis Mittwoch Sesamstraße, Donnerstag die Sendung mit der Maus und am Freitag Hallo Spencer. Wenn man seine Kinder im Abstand von sechs Jahren in die Welt setzt, hat man sogar systemübergreifend das Vergnügen, Kontinuität zu wahren, obwohl sonst alles den Bach runter in die Freiheit geht. Zwei Westprogramme und drei Dritte hätten uns gereicht, aber dazu kam noch Lederhosensex auf Sat1 und Tutti-Frutti auf RTL, was jede Revolution lohnte.

6. März 2021

Den mehr als 12.000 Schritten gestern folgen heute zweitausend weniger, ich bin aber immer noch zufrieden. Das vierte Mal in einer Woche leuchtet auf dem Armband die frohe Kunde: Schrittziel erreicht. Das stachelt tatsächlich den Ehrgeiz, wie ich es nie geglaubt hätte. Unsere gemeinsamen Runden am späteren Nachmittag sind fast schon rituell, die üblichen Verdächtigen, die aus ihren Fenstern schauen und winkend grüßen, werden wohl eher an unserem Verstand zweifeln als unsere Ausdauer bewundern: Bei Wind und/oder Wetter laufen wir. Zum Glück sind unterschiedliche Strecken im Programm. Die emsigen Arbeiter sind sogar am Sonnabend aktiv, es scheint eine sehr eingespielte Logistik hinter allen Abläufen zu stecken, die Meckerer der ersten Tage sind längst nur noch neugierige Zuschauer. Vor 40 Jahren erschoss Marianne Bachmeier den, wie es juristisch sauber heißt, mutmaßlichen Mörder Klaus Grabowski ihrer siebenjährigen Tochter. Wurde verfilmt.

5. März 2021

Die Frau im Zeitungsladen staunt immer über meinen Kaufeifer, letztlich will ich aber nur fürs Archiv auch Originale haben, die Ausdrucke, falls man denn nicht von einer Bezahlschranke ausgebremst wird, die ausgerechnet von den armseligeren Blättern am höchsten gehängt werden, strapazieren meinen uralten Drucker über Gebühr. In einem jahrelang friedlich auf einem meiner sich zum Leidwesen meiner Frau mehrenden Stapel ruhenden Buch, Titel „Revision. Denker des 20. Jahrhunderts auf dem Prüfstand“ finde ich einen Beitrag von Peter Glotz, dem meine besonderen Sympathien niemals galten, schon allein deshalb, weil er als Gründungsrektor in Erfurt an einer sehr wenig nötigen Konkurrenz für die Ilmenauer Hochschule beteiligt war. Hier aber, zu Luxemburg, war er sehr klug, sehr eindrücklich. Mein Text zu ihrem 150. Geburtstag braucht doch noch etwas, es wird sie ohnehin nicht stören, ich aber habe lieber ein gutes als ein schlechtes Gefühl dabei.

4. März 2021

Nun hätte ich gestern auch an Johannes Urzidil denken wollen, den ich schon einmal übergehen musste, obwohl ich seit langen immer wieder in seinem „Goethe in Böhmen“ lese, obwohl ich „Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild“ schon im Februar 2016 las und mir sein „Amerika und die Antike“ in Griffweite legte. Darin klebt ein Merkzettel mit dem Hinweis „siehe auch Ernst Schönwiese: Literatur in Wien“. Manchmal muss ein Zettel schon alles sein. Rosa Luxemburg hat Vortritt aus verschiedenen Gründen. Ich sammle natürlich, was in den Zeitungen steht. Zwischen Parkplatz 1 und Parkplatz 2 wird ein Schaltkasten aufgestellt, was bedeutet, dass diese beiden vorerst nicht mehr genutzt werden können. Wir gehen ins Parkasyl auf 3, weil der nicht vergeben ist, weil zu viele Gastgeschenke unserer gefiederten Mitbürger auf die Autodächer dort platschen. Für ein paar Tage muss das gehen, wir brauchen das Auto ohnehin höchsten zweimal pro Woche.

3. März 2021

Die Panik von gestern hat sich gelegt. Die Blockade unserer Parkflächen fand eine Erklärung, die fehlende Information für die Anwohner fand eine Erklärung, ich rief selbst in Föritz an und sprach mit einer freundlichen Frau, die sich entschuldigte. Wir bekommen Glasfaserkabel vors Haus gelegt. Das Internet wird danach noch schneller, also schneller, also schnell, nachdem es lange langsam war. Wir begannen einst in dieser Wohnung noch mit Modem, ältere Bürger werden sich erinnern. Das war die Zeit, als sich Boris Becker freute, drin zu sein, wobei nicht abzusehen war, was er bei seinem Drinsein alles zeugte. Die Firma aus Föritz ist mit erstaunlichen Massen von Männern angerückt, Frauen sind keine dabei, das generische Dingsbums muss also nicht aus dem Halfter gezerrt werden. Reminiszenzen an jenen realsozialistischen Baubetrieb, der das Gelände um den Kindergarten in den Händen hatte: man saß sechs von acht Stunden in der Baubude bei Regen.

2. März 2021

Unser Mietvertrag für die neue Wohnung in der Keplerstraße datiert vom 1. März 1991, da hätten wir gestern also ein Etagenfest feiern können. Eingezogen sind wir da natürlich noch nicht, wir begannen aber, täglich einen oder mehrere Wäschekörbe voller Bücher aus der Kopernikusstraße am Kindergarten vorbei zu schleppen und alles im künftigen Arbeitszimmer zu stapeln. Was in der DDR unmöglich war trotz Anrechtsschein auf ein Arbeitszimmer: plötzlich war es möglich und wir hatten gar die Wahl zwischen mehreren Fünf-Raum-Wohnungen. Wir konnten der Genossenschaft beitreten, ohne Gräben schaufeln zu müssen vorher, was mir früher den Genossenschaftsgedanken schwer vergällt hatte. Das Schaufeln von Gräben gehörte und gehört zu meinen Erinnerungen an diese Nationale Volksarmee, die ihre jungen Männer mit kleinen Spaten ausstattete, Feldspaten genannt, mit denen das Graben noch widerlicher ausfiel als mit den größeren Spaten. Nie wieder!

1. März 2021

„Ich freue mich schon so auf den Frühling, das Einzige, was man nie satt kriegt, solange man lebt, was man im Gegenteil mit jedem Jahr mehr zu würdigen und zu lieben versteht.“ Schrieb Rosa Luxemburg am 14. Januar 1918 an Sophie Liebknecht, ihre „liebste Sonitschka“. Dass ihr nur noch ein Frühling blieb, einer im Gefängnis sogar weiterhin, ahnte sie sicher nicht. Mit ihren „Briefen aus dem Gefängnis“ bin ich fertig und verstehe sehr, warum trotz pompöser Aufmärsche in jedem Januar in der DDR diese polnische Jüdin irgendwie suspekt war. Sie fiel weder vor August Bebel noch später vor Lenin in Ehrfurchtsstarre. Sie war nicht Lenin minus X, X jeweils zu definieren nach Hauptlinie der Partei. Als Student der Humboldt-Universität hatte ich 1978/79 das Vergnügen, im Fach Geschichte der Philosophie eine Etappe nach Lenin vorgesetzt zu bekommen, die mit Luxemburg begann, obwohl die vor Lenin starb und auch noch Karl Korsch immerhin behandelte.


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